Lady Ju und die Sardinen

ODESSA/KIEW, UKRAINE Unendliche Geschichte, Teil drei: Muss sich eine Regierungschefin das gefallen lassen? Behandelt man so eine schöne Frau? Kaum ist Julia Timoschenko zurückgekehrt von ihrer Kur im “deutschsprachigen Raum”, stürzt sie sich schon wieder in die Arbeit, die ihr doch diese Verschnaufpause abverlangt hatte. Sie hat sich nicht noch ein bisschen krankschreiben lassen und arbeitet auch nicht verkürzt, halbtags zum Beispiel, um sich einzugewöhnen. Keinen Augenblick denkt sie an ihre Gesundheit. Gestern hat sie in Kiew gleich eine Pressekonferenz gegeben.

Und wie reagieren die Journalisten? Sie stellen unangenehme Fragen, zweifeln an der Ehrlichkeit Timoschenkos und wollen am liebsten noch die Krankenakte sehen.

Julia Timoschenko deutete an, dass sich ihr Gesundheitszustand verbessert habe, verschwieg aber, woran sie behandelt worden sei. Ihre politischen Gegner brauchten sich nicht zu freuen, sagte sie weiter. Die Beschwerden würden nicht zum schnellen Tod führen, sie seien “normal, menschlich”. Sie, Timoschenko, habe bloß viel Stress gehabt und sich deshalb erholen müssen. Und natürlich habe sie Kur selbst bezahlt.

Warum bloß glaubt ihr niemand, dass sie nicht auf Sardinien gewesen ist und sich dort nicht mit Leonid Kutschma getroffen hat, um mit dem früheren Präsidenten den jetzigen Staatschef Wiktor Juschtschenko zu stürzen? Der Verdacht, sie sei auf Sardinien gewesen und habe dort Kutschma getroffen, muss Lady Ju tief verletzt haben. Sie sagte: Wenn das Sekretariat des Präsidenten am Kuraufenthalt zweifele, “können sie die Sardinen fragen, die in Sardinien schwimmen, und ich denke, dass die Sardinen definitiv sagen können, dass die Ministerpräsidentin der Ukraine nicht dort war”.

Eine Lügnerin hätte nie so viel Poesie. Das Zitat ist, zugegeben, sehr wörtlich übersetzt.

Nachtrag, 12.25 Uhr: Ich will nicht zu viel versprechen, aber ich erwarte für morgen Teil vier der unendlichen Geschichte. Jetzt müssen sich endlich die Sardinen äußern – oder die Kurärzte im “deutschsprachigen Raum”.

Nachtrag, 14.45 Uhr: Interessiert sich noch jemand für Julia Timoschenko, Sie wissen schon: die mit der Krone aus Eigenhaar, die vergangene Woche nicht auf Sardinien gewesen ist und sich dort nicht mit Leonid Kutschma getroffen hat? Es gibt keine neuen Fakten, wobei: Gab es bisher überhaupt Fakten? Lady Ju müsste nur mal ihre Urlaubs-, äh, Kurfotos herausrücken, dann wäre doch alles klar. Sind wahrscheinlich noch beim Entwickeln.


2 comments

  1. hh heimat

    Sehr geehrter Herr Wesemann.

    Gab es überhaupt Fakten? Die entscheidende Frage gegen 14.45 Uhr.

    Hilfreich. Angenehm. Wahr.

    Ich habe vor langer Zeit gelernt, dass, wenn man über andere Menschen spricht,
    zwei dieser drei Anforderungen erfüllt sein sollten.

    Hilfreich und angenehm,
    oder,
    hilfreich und wahr,
    oder,
    angenehm und wahr.

    Hilfreich: Für irgend etwas! Für irgend jemand! Wenigstens ein bisschen! …
    Angenehm: Für den Zuhörer. Für den Leser! Wenigstens ein bisschen! …
    Wahr: Wahr! Wenigstens ein bisschen! …

    Doch wie überprüfe ich diese drei Punkte, bevor ich spreche oder schreibe?

    Und hier setzt meine Begeisterung für Ihre entscheidende Frage gegen 14.45 Uhr an.

    Gab es überhaupt Fakten? Gibt es überhaupt Fakten?
    Welch gute Frage.
    Welch entscheidende Frage zur Überprüfung des Wahrheitsgehaltes.
    Welch letzte Freiheit.

    Wenn es eines Tages Google-Earth-LIVE geben wird, und ich handylos und verzweifelt unter dem dichten Blätterdach der sibirischen Birkenwälder den Satteliten zu entgehen versuche werde, dann wird es diese Frage nicht mehr geben.

    Die Welt wird zu jeder Minute sehen, wo und wo Frau Timoschenko sich gerade behandeln lässt. Und das erste wo wird kaum jemanden interessieren. Aber die Frage nach dem zweiten wo wird Google-Earth-LIVE zum kochen bringen. Besonders bei der schöne Frau Timoschenko.

    Und den Sardinen wird es am besten gehen.
    Google-Ozean-LIVE ist nicht möglich.

    Welch letzte Freiheit.

    Wo und wo bleiben ungeklärt und die Sardinen werden sich hilfreiche und angenehme Geschichten erzählen. Frei von Fakten.

    Und ich werde verzweifelt in Sibirien sitzen, hoffend, dass die Blätter nie fallen.

  2. cw

    Und ich habe vor langer Zeit gelernt, dass ein guter Journalist zwei Sachen unbedingt beherrschen muss: 1. eine Geschichte zuspitzen und 2. eine Geschichte weiterdrehen. Wenn ich ein bisschen mehr Zeit hätte, würde ich mich jetzt Punkt zwei widmen. (Spitzer geht die Geschichte gar nicht mehr.) Hätte ich einen Chef, würde er mich zur Seite nehmen und sagen: “Versuch doch mal, die Geschichte ein bisschen weiter zu drehen. Vielleicht kriegst du da noch einen neuen Dreh rein, wäre schön.”

    Mögliche Weiterdrehmöglichkeiten wären:
    1. Wie oft sind Politiker auf Kur, häufiger als andere Berufsgruppen? Wer kurt am häufigsten: Konservative, Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne? Wir haben ja Sommerloch: Gerade die Hinterbänkler werden also auspacken!
    2. Mit der netten Kollegin, die gerade nichts zu tun hat, den Test machen: Sie fährt auf Kur, ich bade im Mittelmeer (oder umgekehrt, das ist nicht wichtig oder vielleicht doch, wenn sie sich im Bikini fotografieren lässt), und dann die Frage beantworten: Wer fühlt sich danach besser erholt?
    3. Wenn gar nichts geht, einfach mal die Frage in den Raum werfen: Hatte Frau Timoschenko einen Kurschatten? Als Lesebeilage gibt es eine ganz seriöse Statistik ganz seriöser Meinungsforscher, wonach 80 Prozent aller Kurgäste einen Kurschatten haben – also praktisch alle, die anderen 20 Prozent sind impotent.

    Jede Geschichte muss man natürlich ein wenig ausschmücken, klar.

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