Kolumne: Mein Sohn und der Kapitalismus

ODESSA, UKRAINE Mein Sohn wird Kapitalist werden, ich habe es im Gefühl. Ich traue es ihm auch ohne weiteres zu, er hat schon jetzt gewisse Züge, die ich als kapitalistisch einstufe. Er lässt sich zum Beispiel für Dinge bezahlen, die in seinem Alter noch selbstverständlich sein sollten. Er stellt Forderungen. Er tut kaum noch etwas ohne Gegenleistung. Ich muss sagen, er verhandelt außerordentlich geschickt. Wenn er essen, baden oder schlafen soll, fragt er: „Kaufst du mir den gelben Bagger?” Manchmal soll es auch nur ein Besuch im Zoo sein. Irgendwann kommt immer der Augenblick, da ist man als Verhandlungsvater erpressbar. Ich kaufe lieber alle gelben Bagger, die ich in Odessa auftreiben kann, weil ich den Zoo kenne. Ich versuche, mein Urteil so freundlich wie möglich zu formulieren: Man riecht ihn von weitem.

Natürlich, mein Sohn ist noch in der Tauschphase, aber weiß ich denn, wie lange das so bleibt? Die Menschheit hat doch auch so angefangen: Tausche eine Nacht in der geheizten Höhle gegen Mammutbraten, ja, so war das. Mein Sohn hat überdies noch einen Hang zum Geiz. Er weigert sich, Straßenmusikanten Geld zu überbringen, er steckt es lieber ein, überhaupt hat er es gern. Stundenlang kann er Münzen sortieren und auftürmen, ohne dass er sich langweilt. Natürlich gebe ich mir die Schuld. Ich bin sein Vater.

Frauen, Porsche, Che Guevara

Mein Sohn darf Polizist werden oder Maschinist, Internist, Dentist, Journalist, Florist, Alchimist, Moralist, Putschist, Nudist, Defätist, Realist, Idealist, Christ und – wenn es unbedingt sein muss – auch Jurist oder Kolumnist. Ich hätte kein Problem, ich bin liberal, er soll finden, was ihn erfüllt. Aber mein Junge wird kein Kapitalist. Ich lasse es nicht zu, klar? Warum? Ist unsere Gesellschaft schon so verkommen, dass ein Vater begründen muss, warum der Sohn nicht Kapitalist werden soll?

Ich weiß noch nicht, wie ich das verhindere. Ich kann ja unmöglich als Gute-Nacht-Geschichte jeden Abend eine halbe Seite aus dem „Kapital” von Karl Marx vorlesen; da bin ich noch nicht durch, wenn der Sohn meines Sohnes beschließt, Kommunist zu werden. Eine Waldorfschule gibt es in Odessa nicht. Che-Guevara-Leibchen für Zweieinhalbjährige habe ich auch noch nicht gesehen. Ich sehe nur, dass die schönsten und elegantesten Frauen von mutmaßlichen Kapitalisten ausgeführt werden, und mein Sohn wird das auch bald merken. Von den Autos rede ich gar nicht. Mein Sohn steht auf Porsche. Wenn er in Odessa einen Porsche sieht, kriegt er den Mund gar nicht mehr zu. Raten Sie mal, wer drinsitzt. Ganz genau.

Jetzt hat ihm die ukrainische Botschaft in Berlin auch noch das Visum für Geschäftsreisende ausgestellt. Er ist noch nicht mal drei, reist aber als Unternehmer. So etwas bleibt doch nicht ohne Folgen, ich sag nur: frühkindliche Prägung.

Ein Vater-Sohn-Gespräch

Ja, ich weiß, es gibt Kapitalisten, die Gutes tun, die eine Stiftung gründen und spenden, ich lese so etwas auch hin und wieder. Aber mal ehrlich, kennen Sie einen, ich meine: persönlich?

Ich habe heute Morgen mit meinem Sohn gesprochen, es war mir wichtig, ich wollte Klarheit, ich konnte nicht mehr schlafen, ich musste ihn wecken.
„Guten Morgen, mein Schatz. Papa muss dich jetzt unbedingt etwas fragen”, habe ich gesagt.
„Will schlafen.”
„Willst du Ka-pi-ta-list werden oder Ni-hi-list?”
Mein Sohn hat ein paar Sekunden überlegt, sich die Augen gerieben und mich angeschaut. Er hat gelächelt und dann geantwortet: „Ka-pi-list, Papa.”

9 comments

  1. cw

    Lieber Axel, ich bin entsetzt. Da denkt man, man kennt einen Menschen – und dann erfährt man so etwas. Ich habe gerade Deine URL oder wie das heißt für sämtliche Kommentare gesperrt. Es war schön mit Dir, aber man kann ja Nähe nicht erzwingen.

    Ich scherze natürlich nur.

  2. Axel

    Mensch, da bin ich aber froh (dass Du nur scherzst – meine ich)!

    In dem Zusammenhang fällt mir eine schöne Geschichte ein:
    Unser Neffe berichtete in seinen ersten Schuljahren von einem Jungen in seiner Klasse. Dessen Vater war Vertreter für Gewürzartikel in Supermärkten. Der Kleine hat es tatsächlich geschafft, mit dem Verkauf der Prospekte seines Vaters einen florierenden Handel in seiner Klasse zu betreiben.
    Die Käufer wurden später von ihren Eltern und von den Lehrern befragt, warum sie die Prospekte gekauft hätten, lagen diese doch in den Supermärkten offen aus und hatten eigentlich keinen Wert für sie. Sie hatten keine Antwort drauf.
    Der kleine Junge war einfach ein guter Verkäufer und durch und durch Ka-pi-list !

  3. cw

    @ Axel: Weißt Du, was aus dem pfiffigen kleinen Jungen von damals geworden ist? Oder ist diese Geschichte noch gar nicht lange her? Ich danke Dir jedenfalls für diese Story. Ich stelle mir das vor: Mein Vater ist Vertreter für Gewürzartikel. Das ist ein ehrenwerter Beruf, ganz klar, aber trotzdem…

    Ich glaube ja, dass Kapitalisten nicht glücklich werden könnnen. Ich sehe das bei unserer Vermieterin, der mehr als 20 Wohnungen in Odessa gehören. Sie ist reich und alt. Doch sie verkauft den ganzen Kram nicht etwa und reist um die Welt, sondern strebt weiter nach Reichtum. Ich glaube, sie kann gar nicht anders. Sie tut mir immer ein bisschen leid – so lange, bis sie wieder mal die Miete erhöht.

  4. cw

    @ Axel: Definier mal Spießer, bitte, nach Deinem Verständnis. Ich meine das gar nicht böse, fände es nur interessant, Deine Definition zu hören.

    Ich glaube, die Deutschen hier in Odessa finden mich auch spießig. Dabei bin ich nur Einzelgänger und Familienmensch.

  5. Axel

    Spießer hmmmm.
    Ich kann es eigentlich nur an einem Bespiel erklären:
    Wenn ich Motorrad fahre und komme nach Hause, stell’ ich das Bike in die Garage, zieh’ die verschwitzten Klamotten aus und trinke ein Bier (oder zwei).
    Wenn mein Nachbar mit dem Motorrad nach Hause kommt, wäscht er es sofort, dabei hat er noch die Motorradkluft an und lässt sich dann von seiner Frau die Mücken, die an seiner Kleidung kleben, abmachen.
    Das finde ich total spießig.

    Was den kleinen Jungen betrifft, weiß ich leider nicht, wie’s mit ihm weiterging. Aber ich frage meinen Neffen mal.

  6. Silvergirl

    Sehr geehrte Herren,

    ich liebe Kapitalisten auch nicht, jedenfalls nicht, wenn sie mit ihrem Reichtum protzen und der Gesellschaft nichts zurueckgeben und also nur an sich denken. Ich denke, der Kolumnist ist in Odessa von solchen Idioten umgeben. Die rennen ja verstaerkt in Osteuropa herum. Ich empfehle Ihnen beiden den ZEIT-Bericht in der letzten Woche ueber die neuen Neureichen. Da wird mir schlecht. Leider gehen Reichtum und Bildung und Stil heute nur noch selten miteinander her. Auch Gewissen und Moral scheinen mir Luxusartikel geworden zu sein.

    Was die Spiesser anbelangt, lieber Herr Axel, da teile ich Ihre Meinung voll und ganz. Spiesser sind fuerchterlich und vor allem langweilig. Mir gehen sie auf die Nerven und ich rate jedem, sich von Ihnen fernzuhalten. Gegen Einzelgaenger habe ich hingegen nichts. Die sind mit sympathisch, wer will schon jeden Tag mit netzwerkeln und sich immer neue Bekannte erschaffen? Wie soll man denn da den wahren Freund erkennen? Verstehen Sie beide mich bitte nicht falsch, aber ich finde, bei so vielen schlimmen Leuten heutzutage darf man ruhig ein wenig waehlerisch sein. In diesem Sinne und in freudiger Erwartung Ihrer zukuenftigen Dialoge gruesst Frau Silvergirl

  7. Ping: Hinter Gittern : Christoph Wesemann

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