“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Zweiter Teil)
Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden
[Der erste Teil steht hier]
Zweiter Teil: Reisen wie auf dem Fließband
Ukrainische Polizisten müssen beweisen, dass sie das Gesetz verteidigen, sie kontrollieren für die Bilanz. Ob das Bußgeld eintrifft, ist ihnen egal. Deshalb wird vor Weihnachten besonders gerast. Das Protokoll gelangt zwar noch in die Statistik, der Fall aber wird nicht mehr bearbeitet. Später erfahren wir, warum wir zweimal so schnell gewesen sind, wie es die Polizei gewollt hat. Uns wurden alte Geschwindigkeiten gezeigt. Die Uhrzeit auf der Pistole hätte die Beamten überführt. Ukrainern ist dieses Misstrauen in Autoritäten bestimmt angeboren.
Seit 24 Stunden sind wir im Land. Die ersten zehn Minuten am Freitag habe ich aufrichtig versucht, mich an die Vorschriften zu halten. Ich fuhr im Ort sechzig. Es war lebensgefährlich, was vielleicht damit zu tun hat, dass die Dörfer auch zehn Kilometer lang sind, wenn dort zwei Häuser stehen. Der Rückspiegel hatte ständig gelbe Treffer, so oft wurde mit der Lichthupe auf uns geschossen. Ukrainer rasen, als wären sie auf der Flucht, drängeln, dass man fast ihre Augenfarbe erkennt, und scheren noch am Berg aus. Im Gras erinnern viele Kreuze daran, dass mancher sein Leben gleich mit überholt hat. Kein Polizist hat uns an diesem Abend zwischen Lemberg und Ternopil aufgehalten. Heute jedoch wartete auf den 400 Kilometern bis Uman in jedem fünften Dorf ein Paar. Angeblich trinkt der Ukrainer am Wochenende mehr und spürt plötzlich Sehnsucht nach seiner Datscha.
Die Angst vor Kontrollen ist uns so peinlich geworden wie das Selbstmitleid wegen der Schlaglöcher. Um derlei als unangemessen zu empfinden, genügt im klimatisierten Auto ein Blick nach links und rechts, auf Pflüge, die ein Gaul zieht, auf Kinder, die noch in der Finsternis mit Oma und Opa auf dem Feld wühlen. Alte mit mehr Zehen als Zähne verkaufen vor Häusern, die in Deutschland gesperrt würden, ihre Ernte: Äpfel, Kartoffeln, Salatköpfe. Weil das Auto auf kaputten Straßen nur langsam vorwärts kommt, fliegt das Elend nicht vorbei. Es nimmt kein Ende. Wir haben nicht angehalten. Wir hätten uns mit den Frauen doch nichts zu sagen gehabt, selbst wenn wir uns hätten verständigen können. So alt, wie sie mit ihren Kopftüchern aussehen, können wir niemals werden. Wir dürfen gar nicht so altern. Das deutsche Gesundheitssystem lässt es nicht zu. Weil es uns so gut pflegt, hat der Tod einen so schlechten Ruf: Er holt die meisten zu früh, glauben wir. Wir haben angehalten, wo die Ukraine ungefähr aussieht wie Deutschland: an Tankstellen. Nur die Preise sorgten für ein Gefühl von Ferne. Der Liter kostet 90 Cent.
Um auf der Autobahn nicht von weitem entdeckt zu werden, verstecken wir uns hinter einem Laster mit Darmwind, der nach Fuselbenzin riecht. Das einzige, das noch beschleunigt, ist der Puls, wenn wir Polizisten sehen, wo Pappeln stehen. Seit Stunden sind wir die einzigen Westeuropäer, da macht sich jeder Baum verdächtig. Wie auf einem Fließband rollen wir dahin: siebzig bergauf, siebzig bergab, siebzig in Kurven, siebzig auf Geraden. Doch der Regen muss die Streckenposten vertrieben haben. Odessa erreichen wir nach 52 Stunden und 2100 Kilometern. Wir wollen zugleich schlafen und uns betrinken.
Um das Problem mit dem Umzugsgut kümmert sich mittlerweile ein Krisenstab. Freunde in Mecklenburg berichten von einer Tour nach Weißrussland. Bekannte in Odessa verhören Deutsche, deren Hausstand es irgendwie durch den Zoll geschafft hat. Auch der Pfarrer der deutschen Gemeinde in der Stadt ist eingeweiht. Die Verwandten haben alles schon vorher gewusst und verschweigen dies auch nicht. Meine Frau kennt inzwischen fast jeden Grenzer. Fortwährend klingelt ihr Telefon. Doch alle Schriftstücke, die beweisen, dass sie im Land arbeiten soll und umziehen muss, sind am Zoll wertlos. „Ihr müsst euch daran gewöhnen, dass bei uns erst einmal nichts klappt”, sagt spät abends in einer Bar unsere ukrainische Freundin, die mehr als zehn Jahre in Niedersachsen gelebt hat. Ich brauche zwei Einschlafbiere.
Am Sonntagmorgen wandere ich durch Odessa und belausche eine Stille, die mir Stunden später, sobald sich der Verkehr staut und die Menschen aus 133 Nationen erwacht sind, wie eine Sinnestäuschung erscheinen wird. Noch aber wird in der Puschkinskaja, einer der schönsten Straßen der Stadt, der Bürgersteig mit dem Schlauch abgespült. Drei Stunden bevor der Zug abfährt, der mich noch einmal nach Schwerin bringt, besuchen wir eine Werkstatt. Wir wollen auf das Auto in Odessa nicht verzichten. Doch wenn wir es zurücklassen, könnten die Zöllner vermuten, wir hätten es verkauft, und sehr unangenehm werden, um das Geld zu finden. Also machen wir es zum Patienten, lassen es krankschreiben und täuschen eine Panne vor. Der Reparaturschein wirkt echt.
Der Wagen muss samt Schlüssel im Autohaus bleiben. Der Chef ist mal in Magdeburg gewesen, ich bin dort geboren. Er wird mich nicht betrügen. Wir sind fast verwandt. Das Abschiedsfoto – Autohändler, Autobesitzer und Auto -, kommt entweder ins Familienalbum oder in die Fahndung. „Griesdoff, haben Sie keine Angst”, sagt der Mann. „Ein Amerikaner hat sogar seinen Lexus bei mir abgestellt.” Unser Vermieter will trotzdem noch mal vorbeischauen.
Die ukrainische Freundin versucht mich zu trösten. Sie fühlt sich mitschuldig, dass uns der Zoll besiegt hat und der Umzugslaster voll beladen zurückfährt. Sie sagt: „Wenn jetzt noch dein Wagen verschwindet, glaube ich an nichts mehr. Dann verlasse ich das Land für immer und gehe dorthin, wo kein Ukrainer lebt.”
Ich bin schon ein paar Tausend Kilometer in der Ukraine rumgefahren, immer mit gemieteten Wagen.
Ein paar mal waren Bestechungsgelder zu zahlen, nie aber mehr als 50 UAH. Im Übrigen funktioniert das Lichthupensystem ziemlich gut (nicht immer) und man kann somit praktisch alle Bussen vermeiden.
Und wenn man dann doch mal rausgewunken wird, gibts auch die Möglichkeit so richtig aufs Gaspedal zu drücken und einfach weiterzufahren. Das tun auch Einheimische.