Beinhart wie ‘n Blogger

Auf dem Busbahnhof in Uman
Uman, Busbahnhof

KIEW/ODESSA, UKRAINE Es wird jetzt hoffnungslos selbstreferenziell, was mir aber egal ist. Warum? Eine Woche lang muss ich mir wegen dieses Unfalls täglich eine Spritze mit Antibiotikum in den Allerwertesten stechen. Die erste Ladung ist soeben eingefüllt worden. Ein Arzt in Deutschland, mit dem ich verwandt bin, versteht nicht, warum ich Antibiotikum nehme. Ich werde also die nächsten acht Stunden am Computer verbringen. Der eigene Tod wird im eigenen Blog vermeldet.

Odessa, Donnerstag, 5.30 Uhr: Die blaue Marschrutka, ein sitzmöblierter Gemüsetransporter, startet vom Busbahnhof. Ich sitze direkt hinter dem Fahrer, der sofort anfängt zu rauchen. Er tut er dies bei offenem Fenster, obwohl draußen minus fünf Grad sind. Nach zwei Kilometern steigt ein Polizist zu und fährt zehn Minuten mit. Im Gang steht mein Koffer mit dem Laptop und Klamotten, der Sitz neben mir ist frei. Acht oder zehn Passagiere, ich zähle nicht nach, sind wir. Ich will nach Kiew, um eine Konferenz zu besuchen.

8 Uhr: Wir halten am Busbahnhof in Ljubasivka. “Zehn Minuten, okay?”, sagt der Busfahrer. Dicke, nicht nur dick eingepackte Frauen schreien durch den Nebel, was sie an den Ständen verkaufen: Hähnchen, belegte Brote, Tee, Kaffee und Wasser.

8.30 Uhr: Wenn wir gut durchkommen, erreichen wir in zweieinhalb Stunden Uman. Danach sind es nur noch 250 Kilometer bis Kiew. Vorn am Bus steht, dass wir um eins ankommen werden. Bisher habe ich nicht schlafen können. Ständig wechselt der Busfahrer die CDs. Und immer wenn ich doch kurz davor bin wegzunicken, lässt er die Scheibe hinunter und raucht. Ich hasse ihn. Das Geld – 110 Griwna, elf Euro – hat er auch schon kassiert. Ich habe nicht nach einer Quittung oder gar einem Fahrschein gefragt.

“Guckt mal!”, ruft plötzlich die Frau, die hinter mir sitzt. Zweihundert Meter vor uns kommt ein Jeep ins Rutschen, eindrucksvolles Leitplankenbillard, dann rammt er ein anderes Auto. Vielleicht sehen wir auch, wie sich die Airbags öffnen, ich erinnere mich nicht mehr genau. Der Fahrer der Marschrutka bremst, hält auf der linken Spur und steckt sich erst einmal eine Zigarette an.

Autobahn Odessa - Kiew, erster Unfall

Eine Minute später knallt es plötzlich, unser Minibus rutscht oder schwimmt oder überschlägt sich, alles geschieht so schnell. Die Frauen schreien, Scheiben zersplittern, irgendetwas, vielleicht mein Koffer mit dem Laptop, rutscht durch den Gang. Stille. Die Frau, die die ganze Zeit neben mir gesessen hat, steht auf einmal neben meinem Sitz und wankt. Ich greife ihre Hand. Ein Mann liegt im Gang und stöhnt. Ich erscheine mir unverletzt. Nur meine Brille fehlt.

8.30 bis 9.30 Uhr: Wir wurden von einem Mercedes gerammt. Einige Passagiere haben Platzwunden am Kopf. Der Mann, der im Gang gelegen hat, humpelt und hält sich das Bein. Er erzählt mir etwas, ich verstehe kein Wort. Aber ich sehe meine Brille, er hat draufgelegen. Der Fahrer befiehlt uns, schnell auszusteigen und auf den Hang hinter der Leitplanke zu klettern, ehe wir abermals gerammt würden. Die Straße ist glatt.

Die ersten Passagiere spielen schon Leserreporter und fotografieren mit dem Handy den Unfallort. Der Fahrer telefoniert mit einer Dana und sagt nach dem Gespräch, ein sitzmöblierter Ersatzgemüsewagen werde kommen. Zweihundert Meter hinter uns steht schon eine ganze Weile ein Laster quer. Die linke Spur ist aber noch frei – nein, jetzt nicht mehr. Eine Limousine kracht gerade hinein. Wir laufen neben der Leitplanke dorthin; ein Mann im Adidas-Trainingsanzug holt das Gepäck aus dem Kofferraum. Vorne raucht der Motor Kette. Die blonde Frau hat eine blutige Nase und wimmert. Ich weiß inzwischen nicht mehr, wer zu welchem Unfall gehört, weil sich alle vermischen: Verletzte und Gesunde, Gaffer und Helfer.

Autobahn Odessa - Kiew, dritter Unfall

Wenigstens können wir jetzt auf der Autobahn spazieren und müssen nicht mehr am steilen und verschneiten Hang entlangstolpern. Es kommt ja niemand mehr durch. Polizei ist nicht in Sicht. Unser Busfahrer telefoniert schon wieder und streichelt seinen Kopf. Wenn wir uns zufällig begegnen irgendwo, an einem der drei Unfallstellen, fragt er jedesmal, wie es mir gehe. “Alles in Ordnung”, sage ich dann. Inzwischen mag ich ihn. Er behält die Nerven, er schreit nicht herum vor Wut, obwohl es um seine Existenz gehen könnte, wenn die Versicherung nicht zahlt. Er bemüht sich, aber wir sind in der Ukraine. Die ersten Passagiere aus der Marschrutka sind verschwunden, ich wüsste gern, wohin.

Irgendwann kommen zwei Polizisten vorbei, sprechen mit unserem Busfahrer und laufen weiter zum ersten Unfall. Die Marschrutka ist kaputt. Hinten und an den Seiten fehlen die Scheiben; drei Ukrainer versuchen, die Tür am Heck zu öffnen. Einer tritt von innen, zwei andere ziehen von außen. Wichtige Dokumente sind eingeklemmt. Ich stehe unbeteiligt daneben und frage, ob ich helfen könnte. “Lass mal.”

Sitzmöblierter Gemüsetransporter

10 Uhr: Ein Mann sagt zu mir: “Gehen wir.” Wir gehen. Wir gehen zwei Kilometer zurück Richtung Odessa, vorbei am Stau und hindurch. Ich ziehe meinen Koffer und trage die Umhängetasche. Der Mann heißt Ruslan und will mich wieder zum Busbahnhof nach Ljubasivka bringen, wo wir vor eineinhalb Stunden gewesen sind.

Ruslan fährt Lada Niva ohne Gurte, sie fehlen einfach. Der Wagen muss auch erst vorgeglüht werden. Zwei weitere Polizisten treffen ein und leiten den Verkehr auf die Gegenspur um. Dort fahren zwar schon seit einer Stunde Autos, Laster und Mopeds, aber nun geschieht das wenigstens offiziell.

Kurz bevor Ruslan losfährt, kommt der Mann angehumpelt, der im Gang gelegen hat. Er will auch mitfahren. Die Männer reden miteinander, ohne dass ich ein Wort verstehe.

Ljubasivka, Busbahnhof

10.30 Uhr: Ich sitze jetzt in einem Bus mit drei Sternen, der einst in Deutschland unterwegs gewesen sein muss. An der Tür steht auf Deutsch “Nichtraucherbus”. Der Fahrer raucht. Der Fernseher dröhnt. Gezeigt wird eine Polizeiserie. Dauernd werden irgendwelche Kriminellenköpfe ins Klo gestopft. Neben mir sitzt der Mann, den ich nicht verstehe. Er spricht russisch, aber ein anderes Russisch als ich. Wenn er mir etwas erzählt, nicke ich oder sage: “Das stimmt.” Dann verabschiedet er sich und steigt an irgendeinem Bushäuschen auf der Autobahn aus.

13 Uhr: Ich habe Kopfschmerzen. Meine linke Wade ist angeschwollen, die rechte hat einen tennisballgroßen blauen Fleck. In Uman humpele ich zur Apotheke und feilsche mit der Verkäuferin um Tabletten. Ich will Paracetamol, die in Uman aber offenbar nur gegen Fieber verschrieben werden. Wir einigen uns auf orange Tabletten, die gleich ohne Verpackung verkauft werden.

Draußen vor dem Bus treffe ich Genadij. Genadij, vielleicht Ende dreißig, wohnt in Uman und hat ein “malenkij business”, wie er sagt, ein kleines Gewerbe also. Im Frühjahr, Sommer und Herbst angelt er am Asowschen Meer und verkauft dann seine Fische an Urlauber. Im Winter macht er in Kindersöckchen und Nüsse, die angeblich besser schmecken als in Kiew. Genadij klettert mit der Ware in die Busse, die am Bahnhof  Vollblasige und Leerlungige, also Gleichpinkler und Sofortraucher ausspucken. Wir tauschen Telefonnummern aus. Im Juli werden wir am Asowschen Meer gemeinsam angeln.

Uman, Busbahnhof
Uman, Busbahnhof

14 Uhr: Ich wüsste gern, warum der Bus jetzt abbiegt und diese Dorfstraße entlangfährt. Eigentlich sollte nur einmal – in Uman – gehalten werden, aber das war offensichtlich eine Lüge. Wir bringen sämtliche Passagiere bis vor die Haustür. Hin und wieder steht neben der Leitplanke der Autobahn auch jemand und hält den Arm heraus. Die Fernsehpolizisten waschen noch immer den Ganoven die Haare mit der Toilettenspülung. Scheint eine Staffel zu sein. Auf meinem Kopf finde ich Glassplitter vom Unfall.

Kiew, 15.30 Uhr: Wir sind am Busbahnhof. Ich weigere mich, mit dem Taxi zu fahren, ich muss also noch unter Schock stehen, aber die Männer verlangen viel zu viel Geld. Ich gehe wie mit einem Holzbein, ich humpele zur Marschrutka, ich versuche einzusteigen, da ist sie schon wieder weg. Sogar die krummste Kiewer Oma überholt mich. Ich fahre schwarz Trolleybus, jetzt ist sowieso alles egal, ich quäle mich zur Metro, steige zweimal um, humpele noch einmal zehn Minuten zum Hotel und breche im Zimmer zusammen.

18 Uhr: Treffen mit Blogleserin N., die in Kiew lebt. Sie muss mich durch die Stadt schleppen, sonst würde ich verhungern. Es ist ein bisschen entwürdigend. N. sieht das anders und verliert nicht die Geduld mit mir. Sie wählt ein französisches Restaurant in der Nähe der Andreaskirche. Das Essen schmeckt. Ich lache sogar.

23.15: Ich ertrage Helmut Schmidt nicht mehr. Der Altbundeskanzler geht mir auf die Nerven. Seit drei Monaten lese ich, dass er seinen 90. Geburtstag in Ruhe feiern wolle, dass ihm die Lobhudeleien unangenehm seien. Genauso lange schon lässt er sich feiern und lobhudeln. Nach all den Sonderseiten und Sonderbeilagen zeigt das ZDF, das ich im Hotel empfangen kann, auch noch eine Sondersendung. Jetzt gratuliert die “Zeit”, Schmidts Arbeitgeber. Es ist – Harald Schmidt ausgenommen – unfassbar peinlich. Unterwürfiger geht es nicht, ich frage mich, was man noch machen will, wenn Schmidt stirbt. Ich habe den Polizisten im Reisebus Unrecht getan. Das hier ist schlimmer.

Ich dachte, die Rede von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker wäre nicht zu unterbieten, am Ende aber tritt Schmidts Tochter auf und bringt die Leute im Saal dazu, das Lied “Happy Birthday” zu singen.

Freitag: keine besonderen Vorkommnisse

Odessa, Sonnabend, 10 Uhr: Ich gehe zum Arzt. Ich habe, wenn es um Medizin, schon einiges erlebt in der Ukraine: Katzen in Kinderkrankenhäusern und vollgequalmte Aschenbecher im Behandlungszimmer. Ich hieß schon Wiesemann, Wasamann und Weisemann. Bei einem Schönheitschirurgen bin ich aber noch nicht gewesen. Heute habe ich keine Wahl, denn in der Poliklinik arbeitet zwar ein Chirurg, geröngt aber wird erst wieder am Montag. Bisher dachte ich immer, Chirurgie und Röntgen seien ziemlich eng miteinander verbunden.

10.30 Uhr: Valentinowitsch zeigt zunächst wenig Interesse an meinem Bein; vielleicht entdeckt er, Mitglied der Vereinigung der Schönheitschirurgen, ganz andere Härtefälle an mir. Er diagnostiziert Hämatome, die aufgestochen werden müssten, und will mich unbedingt in die Privatklinik Into-Sana schicken, die seit 1995 “the great American Dream” in der Ukraine medizinisch wahrmacht. Ich weigere mich. “Gehen Sie erst mal zum Röntgen, dann sehen wir weiter”, sagt Valentinowitsch.

11.50: Endlich werde ich geröntg. Der Radiologe und die Schwester sind schwer beeindruckt von meinen Blessuren an beiden Beinen. Sie haben es gar nicht eilig, obwohl Valentinowitsch nur bis zwölf Uhr arbeitet. Er ist offenbar viel beschäftigt. Er hat mir ein grünes Faltblatt mitgegeben, aus dem hervorgeht, was er so tut: Valentinowitsch korrigiert unter anderem Nasen, Ohren und Lippen, verkleinert Bäuche, enfernt Narben und bügelt das Gesicht.

12.30: Ich warte schon eine halbe Stunde auf das Röntgenbild. Da kommt der Schönheitschirurg Valentinowitsch und fragt, wo ich bliebe. Sekunden später öffnet sich die Tür, und der Radiologe reicht das Bild. “Ich gratuliere, kein Bruch”, sagt er.

Drogen, rezeptpflichtig

Valentinowitsch verschreibt mir Schmerztabletten, eine Salbe und Spritzen mit Antibiotikum. Am Montagnachmittag will er sich meine Verletzung noch mal anschauen. Ich lege ihm aus Dankbarkeit 40 Griwna Schmiergeld hin – doppelt so viel, wie ich sonst ukrainischen Ärzten zahle. Zum Abschied meint er, das mit der Spritze hinten hinein sei kinderleicht.

Bloggerbein, links
Bloggerbein, links

15 comments

  1. Doctor Robert

    Lieber Christoph,

    vielen Dank dafür, dass du die ganze Geschichte hier aufarbeitest.

    Was mich wundert – neben dem Antibiotikum – , ist die Tatsache, dass du scheinbar deutsches Fernsehen empfangen konntest. Sendet das ZDF tatsächlich bis Kiew?
    Zur Sendung selbst:
    Ich habe die letzte Viertelstunde der großen Helmut-Schmidt-Gala auch gesehen und muss dir zustimmen: Schmidts Tochter war für mich der absolute Tiefpunkt. Der Bundeskanzler war aber am Ende ganz gerührt.

    Gute Nacht und gute Besserung!

  2. cw

    Lieber Sebastian, pass auf: Ich mixe mir mein Antibiotikum; ich zerschneide zunächst ein winziges Fläschchen “Woda dlja injekzii-Darnizja”, und fülle den Inhalt in ein Minifläschchen mit Pulver. Das Zeug heißt Zeftriakzon-KMP” aus dem Hause Arterium. Alles wird geschüttelt und dann gespritzt.

    Der Arzt meint, dass sei zum Abschwillen der Hämatome, wenn ich ihn richtig verstanden habe.

    Ich stelle nachher die Medikamente und das Röntgenbild noch mal als Foto rein, okay?

    @Doctor Robert: Das ZDF war der einzige deutsche Sender im Hotel; es gab noch Arte, aber nur auf Französisch, und sonst: ukrainische, russische, englische, türkische Sender.

    Hast Du danach noch Maybritt Illner gesehen? “Wo bleibt der deutsche Obama?” Es sprach auch Edmund Stoiber, wahrscheinlich weil selber afroamerikanisch schwarz. Und er sagte, sinngemäß: “Wir hatten in Deutschland keine charismatischen Bundeskanzler – abgesehen von Willy Brandt.”

    1. Ich hoffe, er sagte tatsächlich “Bundeskanzler” und nicht nur “Kanzler”.
    2. War Adenauer nicht charismatisch?

    @Axel: *leise flüsternd, weil Doctor Robert noch schläft* Danke, mein Lieber!

  3. Doctor Robert

    @cw: Nein, habe Maybritt Illner nicht mehr geguckt, weil ich nach der ultimativen Schmidt-Lobhudelei genug hatte vom deutschen Fernsehen. Ich glaube, dies war auch besser so, wenn ich in deinem Kommentar lese, was thematisiert wurde.

    Außerdem müssen Axel und du keine Rücksicht auf mich nehmen. Flüstern ist absolut nicht notwendig, da ich einen festen Schlaf habe. Hämmert also ruhig weiter auf eure Tastaturen ein!

    @Axel: Auch ein Nachtschwärmer? Oder Frühaufsteher?

  4. Axel

    @Doctor Robert
    Nachtschwärmer.
    Gestern war “Heat” mit Robert de Niro und Al Pacino im Fernsehen. Das war natürlich Pflicht. Aber der Film war ja nicht halb so spannend, wie Christophs Reisebericht.

  5. Ping: In eigener Sache: Außer Thesen nichts gewesen : Christoph Wesemann
  6. Ping: Mut zur Krücke : Christoph Wesemann
  7. Ping: Neues vom Schönheitschirurgen : Christoph Wesemann
  8. Ping: Kolumne: Oleg, John und Marschrutka | Ukraine-Blog 2008 bis 2011

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