Politikerbeschimpfung

Weil das erste Mal so schön gewesen ist:

Vergiß die Politik, lies keine Zeitung, hör kein Radio, schlag den Fernseher ein, stell ein Farbporträt von Mao oder Fidel hinein, laß dich nicht verarschen, geh nicht ins Netz, geh nicht wählen, sag nein zur Demokratie, geh nicht auf Demos, tritt keiner Partei bei, verkauf deine Stimme nicht den Sozialdemokraten, beteilige dich nicht an der Diskussion über das Parlament, sag nicht “Mein Präsident”, unterstütze nicht die Rechten, unterschreib keine Petitionen an den Präsidenten – das ist nicht dein Präsident, wink nicht dem Gouverneur, wenn du ihn auf der Straße siehst, du wirst ihn sowieso nie auf der Straße sehen, geh nicht auf Kandidatenpartys, du hast keinen Kandidaten, vergiß die Gewerkschaften – sie nutzen dich aus, sag nein zur nationalen Wiedergeburt, dich hängen sie als ersten auf, du bist ihr Feind, ihr Jude, ihr Schwuler, du bist ihr Faschist und Bolschewist, du störst ihren Politikbetrieb, störst ihre Absprachen, ihre frisierten Fernsehratings, du störst sie dabei, dich zu verarschen, das Internet zu kontrollieren, Wahlkämpfe zu gewinnen, die Demokratie aufzubauen, Kundgebungen zu veranstalten, das Parteileben zu ordnen, die Sozialdemokraten zu bekämpfen, Gesetze zu blockieren, den Volkspräsidenten an die Macht zu bringen – ein Volk braucht einen Volkspräsidenten! sich mit den Rechten zu einigen, eine Petition an den Präsidenten, an den Volkspräsidenten, auf den Weg zu bringen, den Gouverneur an den Eiern zu packen [...] Die Politik ist käuflich, Zeitungen und Radio sind käuflich, die Glotze – die Wahrheit über die Glotze kennst du selbst! Mao ist tot, Fidel ist tot, laß dich nicht verarschen. Das Netz wird kontrolliert, die Wahlen sind käuflich, die Demokratie ist tot, das Parlament käuflich, der Präsident käuflich – du hast überhaupt keinen Präsidenten [...] denk nicht an Politik, in der Zeitung – alles Verräter! im Radio – Verräter! im Fernehen – Verräter! Mao – ein Verräter!, Fidel – ein verdammter Verräter! im Netz – nur Schwule und Verräter! bei den Wahlen – Verräter! Die Demokratie spitzelt, das Parlament spitzelt! der Präsident – ein Verräter, das ist nicht dein Präsident! die Rechten, der Gouverneur, der Kandidat – Verrrääääääter!

Serhij Zhadan: Anarchy in the UKR, Frankfurt am Main 2007, S. 57-59.

5 comments

  1. Nataliya

    Der Herr Zhadan ist ein moderner Schriftsteller, der auf die Meinung von anderen pfeift. Er ist anders als andere, er schreibt, was er will und was er denkt. Das können die Schriftsteller in anderen postsowjetischen Länder nicht immer.
    Wortschatz, mit dem Herr Zhadan schreibt kommt nicht unbedingt aus der Hochliteratur. Seine Geschichten kommen immer zusammen mit Alkohol, Drogen, unflätigen Geschimpfen.
    Aber Westeuropa kennt das alles, niemand fällt mehr in Ohnmacht, wenn Schimpfwörter hört, niemand wird rot, wenn es um Sex geht… Bei uns passiert das immer noch)))…
    Alle kennen doch Spruch: in Sowjetunion gab es Sex nicht….)))))

  2. cw

    Ich kannte den Spruch noch nicht. Danke, liebe Nataliya.
    Es kann übrigens auch sehr anstrengend sein, Herrn Zhadan zu lesen. Seine Art zu schreiben, erinnert mich manchmal an den amerikanischen Schriftsteller Charles Bukowski: Alkohol, Drogen, Weiber, Dreck – das sind die Themen. Zhadan ist natürlich trotzdem sehr politisch, das übersieht man schnell wegen der drastischen Sprache.

  3. Nataliya

    was mich betrifft, ich lese eher Klassiker, ich mag moderne Literatur nicht. Selbständlich heißt es nicht, dass ich gar KEINE moderne Literatur lese. Aber ich stehe nich auf MODISCHE Literatur…Zhadan ist für mich eher so. Auf dieser Art und Weise ….

  4. Nataliya

    ach ja. was diesen Spruch betrifft, es geht darum, dass das Thema Sex in Sowjetunion verboten war. Nicht nur in Medien sonder auch in den Familien etc. Die Leute schämten sich darüber zu reden…
    In 1986 fand Fernsehbrücke zwischen Sowjetunion und USA. Eine Amerikanerin sagte: „… Wir haben im Fernsehen so viel sexuelle Bilder…“ darauf erwiderte die sowjetische Frau: „in Sowjetunion gibt es keinen Sex…“ Eigentlich gab es auch das Ende dieses Satzes : „es gibt aber Liebe…“ Aber das Ende im gemeinsamen Lachen hat niemand gehört…))))) Nachdem wird immer wieder das gesagt : In Sowjetunion gibt es keinen Sex…..)))))

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