Neujahrskonzert in Odessa: Phil Disko – wenig Harmonie

ODESSA, UKRAINE Ich komme gerade vom Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters und habe die größten Erfolge die bekanntesten Kompositionen von Johann Strauss gehört: “Wo die Zitronen blühen”, “Spanischer Marsch”, die Ouvertüre aus der “Fledermaus”, Polkas in allen Variationen, also schnell, französisch und masurisch, und als Zugabe natürlich “Donauwalzer” und “Radetzkymarsch”. Für das Protokoll: dritte Reihe, 120 Griwna, also zwölf Euro.

Hobart Earle dirigiert gern ohne Partitur, und manche Odessiten, die mehr verstehen von klassischer Musik als ich, sagen, das höre man auch. Der Amerikaner habe die Einzelstimmen, so die Kritik, nur ungefähr im Kopf, weshalb ihm die letzte Präzision und die Möglichkeit der Interpretation fehlten. Andere wiederum bescheinigen ihm, er habe Odessas Orchester deutlich nach vorn gebracht und überdies die Ukrainer an die Wiener Musik herangeführt. Seine Anhänger sehen in ihm gar einen musikalischen Botschafter Österreichs.

Nun, Earle hat vielleicht einen amerikanischen Zugang zur klassischen Musik und sieht sich als Unterhalter; er tanzt und schwebt und hüft und rudert. Des Dirigenten Rückhand ist vorbildlich, da schwingt der Arm so komplett durch, dass jeder Freizeittennisspieler neidisch werden muss. Im “Napoleon-Marsch” gibt Earle den kleinen Franzosen, setzt sich eine Herrschermütze auf, reicht sie an seine Erste Geige weiter und fechtet dann sogar mit ihr: Taktstock gegen Bogen.

Earle, ein Schüler Leonard Bernsteins und früher Dirigent des Wiener Kammerorchesters, ist seit 1992 Musikalischer Leiter der Philharmoniker und überdies der einzige Ausländer, dem der Titel “Verdienter Künstler der Ukraine” verliehen worden ist. Vor allem die älteren Damen, jene Philharmonie-Babuschkas, die kaum eine Vorstellung versäumen, vergöttern den Maestro – unter anderem wegen des wallenden Haars, der feinen Schuhe, der amerikanischen Lockerheit und des leichten Akzents im vorzüglichen Russisch.

Vielleicht ahnt Earle, dass seinen Musikern Grenzen gesetzt sind, so lange sie in der Philharmonie spielen müssen. Das Haus, vom Architekten Alexander Bernardazzi als Börse entworfen, in der intime Geschäftsgespräche verschluckt werden sollten, hat eine schlechte Akustik. Von den Wänden blättert der Putz. In der Pause bestürmen 100 Frauen zugleich drei Toiletten. Vom Sitzplatz bis zur Garderobe braucht man knapp 20 Minuten. Und selbst der Große Saal mit seinen mehr als 1000 Plätzen wirkt nur auf den ersten Blick festlich. Es steht doch einiges herum.

Hobart Earle kann wohl auch ernsthaft sein, an diesem Nachmittag aber wirkt es bisweilen, als hätte sich der unmögliche Schmalzgeiger André Rieu auf das Dirigentenpult verirrt, zumal sich beide auch äußerlich ähneln. Earle flötet den Kuckucksruf selbst und zwitschert Vogelstimmen mit sichtlichem Genuss. Selbst für ein Neujahrskonzert, das manches gestattet, das an anderen Tagen im Konzertsaal unterbleibt, sind diese Einlagen zu sehr Klamauk. Earles Musiker zünden Konfettiknaller, um Jagdschüsse auszudrücken. Der Chef hat nicht nur nichts dagegen, dass mitgeklatscht wird, er erzwingt es sogar und dirigiert am Ende mehr das Publikum als sein Orchester. Aber er scheint Spaß zu haben, was man nicht von allen anderen auf der Bühne sagen kann.

Seltsames in fünf Punkten:

1. Entlang der Bühne ist eine Lichterkette angebracht, wie sie in deutschen Diskotheken hängt. Sie blinkt unaufhörlich gelb, blau, rot, grün. Die Lämpchen der zwei Plastikweihnachtsbäume, links und rechts, flackern genauso. Und so sieht das aus:

2. Die Musiker reden miteinander, während die Erste Geige, der Konzertmeister also, beim Einstimmen ist. Selbst die Violinisten sind ins Gespräch vertief. Es wird sehr oft bis zum Einsatz geplaudert. Wahrscheinlich konzentrieren sich ukrainische Musiker anders.

3. Im Foyer werden Kartoffelchips verkauft.

4. In der Pause mischen sich die Musiker unters Volk. Sie rauchen an der Bar unten im Flur. Der Weg zur Bar ist gottlob ausgeschildert.

5. Ich habe noch nie so miesepetrige Musiker gesehen. Auf den Gesichtern zeigte sich die große Langeweile, die pure Gleichgültigkeit, obwohl das Publikum gerade jubelte. Falls Sie nicht wissen, was ich meine, so sieht das aus:

Ach ja, das Programm:

[Was die Überschrift betrifft, bin ich verhandlungsbereit. Ich weiß, Namenswitze gehören sich nicht. Vorschläge bitte in den Kommentarbereich, danke.]

3 comments

  1. Doctor Robert

    Lieber Christoph,

    ich finde die Überschrift sehr passend, schließlich sind die automobilen Erlkönige meistens auch in schwarz gekleidet, um die körperlichen Eigenarten der jeweiligen Modelle verschleiern zu können.

    Ich habe also nichts gegen den Earle-König.

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