Kein Erdbeben in Odessa

ODESSA, UKRAINE Sonntagmorgen, halb sechs: Die Wohnung ist ohne Strom. In den vergangenen fünf Tagen, meist am Nachmittag, ist er immer mal wieder verschwunden gewesen. In einigen Cafés in Odessas Zentrum sind Gäste gar nicht bedient worden.

So ein Aufbruch in den freien Tag mit Kerze im Bad, kalter Dusche, Kaffee vom Gasherd, harten Brötchen und einer Tüte Vanilleeis, das im Gefrierschrank langsam schmilzt, ist natürlich nicht zu verachten. (Die Krabben hinter dem Eis sollen mir erst später einfallen.) Nachdem Bob der Baumeister zur Freude meines Sohnes einen Unterstand für Heppo und ein Lager für die Strohballen von Bauer Gurke gebaut, dabei aber den Akku des Laptops vollständig geleert hat, ziehe ich in die Stadt, um in einem Café Strom zu schnorren, die Elektropost zu lesen und vielleicht etwas zu speisen.

Der größte Generator steht in der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße, vor der Restaurantkette “Top Sandwich”:

Angeber! Deshalb schmeckt das Essen dort nicht besser.

Im Café “Kompott” ist Schnitzel im Baguette wegen des Stromausfalls aus, Blinschiki mit Hackfleisch gibt es seltsamerweise, Steckdosenstrom wiederum nicht, Licht allerdings schon, die Kellnerin weiß nichts Genaues, bringt heiße Milch zum heißen Kaffee und am Ende eine am Computer erstellte Rechnung, verstehen muss man das aber nicht.

Der Schnellimbiss, schräg gegenüber, ist ganz dicht.

Im Kaufhaus “Europa”, wo ich ein paar Kerzen kaufen will, es scheint ja was Ernstes zu sein, fährt der Aufzug nicht. Odessas Aufzüge fahren sonst immer, selbst wenn gerade kein Strom da ist. Die Rolltreppen stehen auch still. Einer der Wachmänner, befragt, warum die gesamte Innenstadt ohne Strom sei, sagt: “Das ist eine Vorsichtsmaßnahme. Es gibt eine Erdbebenwarnung.”
“Und wann ist der Strom wieder da?”
“Zwischen fünf und sechs.”

Mittagessen zu Hause: Krabben an kalter Vanillesoße sind nicht unköstlich.

Ich glaube das mit der Erdbebenwarnung tatsächlich, kann mich aber trotzdem nicht vom Mittagschlaf abhalten. Ich albträume, ich verpasste am Abend das Kanzler-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, weil es ja ohne Strom keinen Live-Stream gibt.

Nach dem Aufwachen gibt es nach wie vor kein Licht in der Wohnung. Aber sie ist noch da. Auch die Nachbarhäuser stehen. Das Akku meines Mobiltelefons ist leer. Ich überrede mich zu einem Spaziergang. Die Stadt ist ruhig, nur hie und da brummen Generatoren. Die Türen vieler Geschäfte stehen offen, drinnen ist aber nichts als Finsternis.

Generatoren bei der Sonntagsarbeit
Generatoren bei der Sonntagsarbeit

Ist das wertvolle Leben längst evakuiert? Sitzen die Oligarchen in einer unterirdischen Höhle und warten mit Leuten aus der Stadtverwaltung, mit Wissenschaftlern und Kulturschaffenden das Erdbeben ab, um aus den Trümmern ein neues Odessa aufzubauen – schöner und gerechter als das alte? Warum bin ich nicht ausgewählt worden? Waren meine Kolumnen nicht witzig genug? Jede Stadt braucht doch einen Hofnarr. Oder habe ich vielleicht einmal zu oft den Film “Deep Impact” gesehen?

Auf einmal leuchten die Ampeln wieder, und ich denke sogleich: Wie gut, dass wir heute Sonntag haben und das Erdbeben nicht am Montag nicht ausgebrochen ist – ohne Ampeln wäre das Verkehrschaos sonst gewaltig gewesen.

Das Kanzler-Duell im Live-Stream: Nach einer halben Stunde wünsche ich mir, der Strom würde ausfallen.

Ich entdecke die Meldung auf der Homepage der Stadt vom Freitagnachmittag, dass heute nur von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr abends am Heizkraftwerk herumrepariert werde:

Размещено: 11.09.2009 15:04:10
Оповещение Центрального РЭС

13 сентября с 06:00 до 17:00 в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны будет отключена электроэнергия
Центральный РЭС доводит до сведения населения, что 13 сентября 2009г. в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов будет отключена электроэнергия

с 06:00 до 17:00
от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны.

Телефон для справок: 705-26-00, 7-144-144.

11 comments

  1. iris

    @christoph,
    wie zum Teufel kommst du auf die Idee, am SONNTAG früh halb sechs aufzustehen? Willst du uns Langschläfern (bis halb 8) ein schlechtes Gewissen machen? Dann hast du den Stromausfall mehr als verdient! Nur das mit dem Erdbeben war etwas zu viel Schreck ;)

  2. Doctor Robert

    Lieber Christoph,

    heißt das Geschäft auf dem letzten Bild eigentlich tatsächlich Egoist? Passt wirklich. Zu Odessa. Zur Ukraine. Oder liege ich mit meiner Einschätzung jetzt völlig falsch?

  3. Axel

    Das letzte Bild erinnert mich an die Bardentreffen vergangener Jahre, bei denen die “Indianer” immer auf Pan- und sonstigen Flöten esoterische “Musik” gemacht haben, begleitet von Klängen aus Playback-CD-Playern, die von Dieselgeneratoren betrieben wurden.

    Christoph, mach’ Dich doch mal schlau, vielleicht habt ihr ja in Odessa demnächst ein Indianer-Musikfestival?

  4. cw

    @iris: Legt sich das irgendwann mit der Spielsucht am frühen Morgen?

    @Axel: Ich glaube nicht, dass Indianer hier ein Geschäft machen würden. Aber am 23. September tritt dieser kleine Russe auf, der in diesem Jahr den Grand Prix gewonnen haben soll. Oder war das letztes Jahr? War es kein Russe? Jedenfalls so ein tanzender Zwerg.

    Ich kenne tatsächlich zwei deutsche Mädchen, die hingehen.

  5. iris

    Wer tritt denn nun in Odessa auf ? Der Gewinner von 2008 oder 2009? Der Eine ist Russe und der Andere Weißrusse, der in Norwegen wohnt.
    @christoph,
    das mit dem Spielen früh halb 6 gibt sich mit der Zeit. Meine Kleinste ist jetzt 24 und ich stehe jeden morgen um 6 auf, um ihr Frühstück und Stullen für den Tag zu machen. Sie erwartet es nicht, aber freut sich ;)
    @Axel,
    was hast du nur gegen die Scorpions und die Pet Shop Boys – tz tz tz ? Und was heißt hier stehenbleiben ? Die entwickeln sich auch weiter und sie haben sich sogar schon nach Moskau getraut und nicht nur nach Odessa!

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