Der deutsche Stammtisch

Jeden Mittwoch treffen sich die Deutschen, die in Odessa leben oder für ein paar Wochen arbeiten, zum Stammtisch im Restaurant „Drusja i Pivo” („Freunde und Bier”). Die Neuankömmlinge in der Stadt verraten sich, indem sie pünktlich um 20 Uhr erscheinen. Spätestens vier Wochen später haben sie sich bereits angepasst und kommen odessitisch: also irgendwann, wenn überhaupt.

Meistens werden am Stammtisch Aufträge verteilt. Wer in die Hauptstadt Kiew fährt oder in die Heimat fliegt, erhält eine genaue Liste mit Anweisungen. Der eine braucht neue Pässe oder Post, der andere Geld oder Babybrei. Danach laden alle, Unternehmer und Berater jeder Art, ihren Frust ab über unfreundliche Kellner, den Schmutz in der Stadt und den alltäglichen Wahnsinn, der arg reformbedürftig ist. Ich bin der offizielle Stammtischdelegierte der Familie.

In Deutschland gibt es oft Streit um so genannte Parallelgesellschaften. Es heißt, viele Ausländer blieben lieber unter sich. Mir scheint aus der Ferne, dass dies ein Aufreger ist, ein Stammtischthema vom Feinsten. Mein Freund Oleg versteht das nicht. „Ihr Deutschen seid doch schlimmer als alle anderen”, sagt er. „In Odessa gründet ihr noch schneller Parallelgesellschaften als die Briten, und die sind schon verdammt schnell. Ständig hockt ihr aufeinander. Ihr kauft auch am liebsten deutsche Produkte.”

Wie im Bundestag, gibt es an unserem Stammtisch politische Debatten. Regelmäßig fordere ich zum Beispiel den Rücktritt der ukrainischen Regierung und amüsiere mich über den Kampf gegen die gewaltige Korruption im Land.

Ich bin eher der Typ „Hinterbänkler”, der wenig Macht hat, aber umso mehr krakeelt und gern behauptet, für alles eine Lösung zu haben. Meine Anwesenheit ist deshalb auch eher unerwünscht. Aber ich ganz sicher, dass die anderen Deutschen wie ich denken. Die Hoheit über dem Stammtisch haben eindeutig die Leute, die behaupten, die Ukrainer müssten noch ganz schön viel „von uns” lernen. Widerstand leisten allenfalls einige linksradikale Praktikanten, die oft am eigenen Leib erfahren, was Ausbeutung bedeutet. „Ihr wollt doch gar nicht, dass es mit der Ukraine aufwärts geht”, sagen sie. „Dann würdet ihr Kolonialisten nämlich plötzlich überflüssig sein.”

Einmal habe ich Oleg zum Stammtisch mitgenommen. Er schwieg den ganzen Abend. Auf dem Nachhauseweg sagte er: „Nur in einem Punkt seid ihr angenehmer als die Briten. Ihr trinkt weniger. Der britische Stammtisch endet fast immer in einem Saufgelage. Was das betrifft, haben sich die Briten sehr gut integriert.”

(c) Schweriner Volkszeitung, 13. Dezember 2008

4 comments

    • cw

      Tut mir Leid, lieber Jan, ich war fast drei Tage unterwegs und offline. Bin das letzte Mal im Sommer 2011 in Odessa gewesen; damals gab es den Stammtisch noch; ich würde einfach gegen 20 Uhr hingehen und schauen, besser gesagt: hören, ob an irgerndeinem Tisch deutsch gesprochen wird. Denn auf den ersten Blick wird er nicht zu erkennen sein. Zu meiner Zeit waren es manchmal 15 Leute, manchmal auch nur fünf. Und ich selbst war auch kein Stammgast.

  1. Michael

    Aktueller Statusreport: Der Stammtisch ist nach wie vor sehr lebendig. Die politischen Debatten scheinen mir etwas abgenommen zu haben und die Trinkgewohnheiten etwas den Briten angepasster.

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