Nach dem Stau jetzt das Staunen

Glück und Zweifel und Stolz: Die neue Rügenbrücke aus drei Stralsunder Perspektiven

Nach mehr als drei Jahren ist die 100 Millionen teure Querung über den Strelasund nach Rügen fertig. Staus zwischen Hansestadt und Insel – wie auf dem Rügendamm – sollen Vergangenheit sein. Der Oberbürgermeister, der Stralsunder Fotograf und der Oberbauleiter haben ihren Blick auf das lang ersehnte Bauwerk, das heute eingeweiht wird.

Harald Lastovka schließt die Augen, aber er sieht sie trotzdem. Die Rügenbrücke schlängelt sich durch die drei Amtszeiten des Stralsunder Oberbürgermeisters. Erst war sie eine Unbekannte, versprach viel und sah für jeden anders aus, der sie haben wollte. Dann bekam sie ein Zuhause, wuchs drei Jahre, erhielt einen Namen und überlebte ein paar Unglücke. Jetzt ist sie groß. Längst träumt Harald Lastovka nicht mehr von einer anderen – einer anderen Querung zur Insel. Er will keinen Tunnel mehr. „Sie ist ein wunderschönes Bauwerk”, sagt er und öffnet die Augen.

Für Oberbauleiter Ulrich Gawlas, den manche „Brückenpapst” nennen, als wäre er unfehlbar, war Mecklenburg-Vorpommern vor 15 Jahren ein Land ohne Eigenschaften. Der Fotograf Volkmar Herre hat die Brücke noch immer nicht entdeckt. Die zwei sind Figuren dieser Geschichte, aber sie wären es nicht ohne Harald Lastovka. Nachdem der gelernte Dampflokomotivschlosser am 29. Mai 1990 ins Amt gekommen war, überzeugte er Minister im Land und im Bund, dass die Stadt eine neue Querung nach Rügen brauche.

Stadtoberhaupt verspricht Chauffeur Brückenfahrt

Harald Lastovka trägt am Jackett einen Anstecker der Unesco, weil die Altstadt seit 2002 zum Weltkulturerbe gehört, und eine Krawattennadel mit Stralsunds Silhouette. Sein Büro teilen sich Vergangenheit und Gegenwart, Gemälde und Schiffsmodelle, antiquarische Bücher und ein ICE. Der Oberbürgermeister schlägt sich manchmal auf den Rücken der rechten Hand. Dann hat er etwas Undiplomatisches gesagt. Er war gegen die Maut-Pläne der Landesregierung. „Mich haben sie nicht beschwatzen können. Da war ich bockig wie ein alter Ziegenbock.”

Stralsund hat 57500 Einwohner – 18000 weniger als vor der Wende. Fast jeder fünfte ist ohne Arbeit. Gerade hat die Bürgerschaft beschlossen, in den nächsten drei Jahren 30 Millionen Euro zu sparen. Eine Haushaltssperre bringt noch einmal fünf Millionen Euro in diesem Jahr. Lastovka glaubt an die Zukunft. Das Meeresmuseum habe mehr Besucher als die Schlösser und Gärten von Sanssouci, sagt er. „Wir blühen im Verborgenen.”

Seinem Chauffeur – als Ostdeutscher sagt Lastovka natürlich: „mein Kraftfahrer” – wird er am Montag die Brücke zeigen. Heinz Wielka bringt den Oberbürgermeister seit 17 Jahren zu Terminen und könnte längst im Ruhestand sein. Aber er wollte nicht gehen, bevor die Brücke kommt. „Wir werden dreimal hin- und herfahren”, sagt Harald Lastovka.

Der Fotograf hat Angst um die Natur Rügens

Wenn Volkmar Herre fotografiert, steckt er seinen Kopf unter ein schwarzes Tuch. Der Künstler, der seit 1986 in Stralsund arbeitet, benutzt eine Toyo-Kamera. Am Mittag hat er sein neues Buch vorgestellt, das der Oberbürgermeister heute Kanzlerin Angela Merkel schenken wird. Es zeigt auf 128 Seiten das Zeitlose der Stadt: Fassaden und Mauern, Kirchenschätze und Dielen. Die Rügenbrücke hat Herre noch nicht fotografiert. „Sie ist bestimmt gut. Eine gewisse Eleganz und Leichtigkeit hat sie”, sagt er.

Herres Hände fliegen durch die Luft und landen dann, dass der Tisch im Arbeitszimmer knarrt. Der 64-Jährige redet und denkt schnell. Aber er spricht nicht davon, wie schnell Autofahrer von Montag an Rügen erreichen werden. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ein Fotograf sogar auf das Licht warten kann. An die vollkommene Beschleunigung, die sich mancher von der Brücke verspricht, glaubt er nicht. „Der Stau wird dann in Altefähr beginnen.”

Volkmar Herre zweifelt, ob die größte deutsche Insel verkraftet, was von ihr erwartet wird. Zu viele Touristen könnten die Natur zerstören. „Und die Brücke trägt dazu bei”, sagt er. Irgendwann will Volkmar Herre sie trotzdem porträtieren. „Eine fotogene Architektur hat sie ja.”

Oberbauleiter hat den besten Blick auf die Querung

Ulrich Gawlas muss nur aus dem Fenster seines Büros schauen, um die Brücke zu sehen. „Ich habe den besten Blick”, sagt er. An den Wänden hängen Skizzen, eine Urkunde der Stralsunder Unternehmerschaft, die ihm wegen seiner Verdienste für die Stadt ein Heringsfass geschenkt hat, und viele Fotos von der Baustelle in 42 Metern Höhe. Als Lehrling hat er 1968 bei Schweinfurt zum ersten Mal an einer Brücke mitgebaut. Heute stehen in der Biografie des 55-Jährigen fast 40 – aber keine ist so groß wie diese nach Rügen.

Er hat die Brücke von Stralsund kommen sehen. Im Dezember 2005 erreichte sie sein Fenster. Der Pylon wuchs dort von November bis zum März vergangenen Jahres auf 128 Meter. Ulrich Gawlas setzt sich an den Computer und startet das Straßenwetterinformationssystem. In den vergangenen vier Wochen hat er alle Viertelstunde das Standbild aufgerufen – auf der Suche nach dunklen Flecken über Mecklenburg-Vorpommern. Auf der Brücke kippten Arbeiter den 230 Grad heißen Gussasphalt aus und blickten zum Himmel. Regen hätte ihr Werk zerstört. „Die sahen nur Wolken”, sagt Ulrich Gawlas. „Ich sah, ob es regnen wird. Es blieb trocken.”

Schon 2002 – zwei Jahre vor dem Spatenstich – ist der Mann von der Erfurter Firma EHS-Ingenieure nach Stralsund gekommen. „Meck-Pomm war Neuland für mich”, sagt der gebürtige Würzburger. Heute erholt er sich auf Usedom. „Ich bin ganz schön heimisch geworden.”
Gerade schrauben Männer – so klein mit Helm – oben die Lampen für das Brückenfest am Wochenende an. Aus Ulrich Gawlas Erlebnissen werden bald Erinnerungen werden.

Manche Wette wird hängen bleiben. An einem Tag rollten drei Laster, 100 Tonnen schwer, zum Belastungstest heran. Ulrich Gawlas tippte, dass sich die Brücke in der Mitte neun Zentimeter durchbiegen würde, irrte sich nur um einen Millimeter und nahm dem Baubevollmächtigten den Durbacher Rotwein vom Kaiserstuhl ab. Wenn er eine Wette verlor, verschenkte er Würste aus Hessen.

(c) Schweriner Volkszeitung, 20. Oktober 2007

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