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Kolumne: Mein Sohn und der Datschaismus

ODESSA/UKRAINE Ich brauche in Odessa nach wie vor keinen Stadtplan. Nun kann man einwenden, das sei nicht unbedingt eine herausragende Leistung für jemanden, der mehr als eineinhalb Jahre hier gelebt hat. Allerdings gibt es andere Dinge, die mich überfordern, obwohl ich sie beherrschen müsste, weil ich schon lange genug mit ihnen zu tun habe. Würde ich mich zum Beispiel in Odessa orientieren, wie ich in Odessa rede, hätte ich gestern nicht einmal die Potemkinsche Treppe wiedergefunden.

Datscha

Ich habe in der fünften Klasse angefangen, Russisch zu lernen. In der DDR war das die erste Fremdsprache – natürlich auch aus Dankbarkeit für die Rote Armee, die uns freundlicherweise Adolf Hitler weggenommen hatte, was uns allein wohl nie gelungen wäre. Wenn man die These vertritt, dass der Führer von dreiunddreißig bis fünfundvierzig nicht allein unterwegs gewesen sei, könnte man auch sagen: Wir wurden uns selbst weggenommen. Kurz und Knopp: Nicht alle Deutschen waren Nazis. Aber alle Nazis waren Deutsche.

Russisch war auch eine Siegersprache, die des Großen Bruders, der schon den Kommunismus erreicht hatte, während wir in der DDR noch im Sozialismus feststeckten. Ach, war das ein Schlamassel.

Dass wir nicht zuerst Englisch lernten, war nur konsequent und logisch. Wo, bitte schön, hätte ich denn meine Kenntnisse vertiefen oder überhaupt anwenden sollen? Für DDR-Bürger hatte Englisch ungefähr den Stellenwert, den heute Esperanto hat: nette Sprache, aber find erst mal jemanden, mit dem du sie teilen kannst.

Niemand außer Helmut Kohl hat doch 1987 gewusst, dass die Mauer bald fällt.

Panzer vor dem Kinderzimmerfenster

Dass wir mit Russisch auch nicht viel anfangen konnten, ist wiederum einer dieser Witze, wie sie nur ein Land wie die DDR hinbekam. Das Land war besetzt von der Roten Armee; durch meine Heimatstadt liefen sowjetische Offiziere, von denen wir auf der Straße immer etwas zu schnorren versuchten: Schokolade (klappte selten) und Abzeichen (klappte nie). Wenn wir ins Nachbardorf fuhren, kamen wir an ihrer Kaserne vorbei. Viel näher dran an ihnen waren wir eigentlich nicht.

Ich erinnere mich an Panzerkolonnen, die unter meinem Kinderzimmerfenster vorbeischepperten, von einer Übung in der Heide zurückkehrend, wo schon die Wehrmacht geübt hatte und heute die Bundeswehr übt. (Das ist bloß eine Feststellung, die zwischen den Zeilen exakt so viel ausdrücken soll: gar nichts.) Panzergucken, das war für uns Kinder in dieser Straße irgendwann nichts Besonderes mehr.

Die Erwachsenen kommentierten das Geschepper ziemlich lapidar: “Ach, Kolja ist wieder unterwegs.” Den Iwan kannten wir nicht, den gab′s wohl nur im Westen. Bei uns hieß der Rotarmist Kolja. Sehr viel freundlicher war dieser Spitzname aber auch nicht.

Alf und die Offizierskinder

Einmal besuchten sowjetische Schüler, Kinder von Offizieren, die in der Kaserne am Rande der Stadt lebten, unsere Klasse. Jeder von uns saß einem von ihnen gegenüber. Und jeder von uns fragte einen von ihnen auf Russisch gleich mit dem ersten Satz: “Kennst du Alf?” Die Antwort, die jeder von uns bekam, war: “Njet.” Damit war einem Gespräch jede Grundlage entzogen. Sie kamen als Fremde und gingen als Fremde.

In meinem Pionierausweis stand damals:

Thälmann-Pioniere sind Freunde der Sowjetunion. Wir hüten und pflegen die Freundschaft mit der Sowjetunion, so wie es uns Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck lehren. Die Jungpioniere der Sowjetunion sind unsere Freunde, von ihnen wollen wir immer lernen.

Was sollte ich von jemandem lernen, der nicht einmal Alf kennt?

Ich weiß nicht, was diese Offizierskinder damals über uns dachten; hoffentlich dachten sie: “Diese Idioten!”

Heute, 23 Jahre später, ist mir die slawische Welt immer noch ein bisschen fremd.

Mein Sohn ist anders aufgewachsen. Als er zwei Jahre alt war, sind wir nach Odessa gezogen und haben ihn in einen städtischen Kindergarten gesteckt. Die nächsten 18 Monate hießen seine Freunde nicht Tim, Leo, Paul und Kevin, sondern Gleb, Wanja, Maxim und Jegor. Am ersten Kindergartentag verstand er kein Wort, eine Woche später fing er an zu sprechen, nach drei Monaten bestellte er nachts im Halbschlaf sein Wasser bei mir auf Russisch. “Waaaaaaaaaadietschka!”

Jetzt ist er fünf und spricht ohne Akzent. Ich verstehe wenig und lausche gierig.

Es gibt in Odessa ein sehr schönes Gartenrestaurant. Praktischerweise heißt es Datscha. Es ist ein bisschen teurer. Teurer heißt: Man bezahlt auch für etwas, das man sieht, aber nicht schmeckt. Draußen gibt es einen Spielplatz, eine Schaukel, Käfige mit Vögelchen darin und reichlich Gartenidylle. Drinnen steht auf dem Weg zur Toilette eine Badewanne. Einfach so.

Gestern habe ich meinen Sohn gefragt, ob wir in unserem Urlaub mal wieder zur Datscha fahren wollten.
“Datscha, Papa”, sagte er.

Datscha klingt bei ihm ungefähr so: Daaaad-dja. Darin steckt so viel mehr, das Wort riecht nach selbstgepflanzten Tomaten und Schaschlyk auf dem Grill, ich höre ein Bächlein plätschern oder das Schwarze Meer Wellen heranspülen, ich sehe so ein Häuschen sogar vor mir, mit Leinen voller Wäsche, Wasserpumpe und quietschendem Gartentor. Wenn mein Sohn Daaaad-dja sagt, dann ist das: rein in den alten Lada, raus aus der Stadt. So wird’s hier gemacht, in Odessa und anderswo: Alltag und Kummer zurücklassen, abschalten und erholen auf dem Fleckchen Land, das einem niemand nimmt.

Bei mir klingt Datscha wie Bungalow.

DVD

Mein Sohn und ich haben noch ein bisschen geübt.
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Nee, Papa. D a a a a d – d j a.”

Seine Ohren müssen schmerzen, wenn er mein Russisch hört. Es klingt für ihn so wie für mich der Russe, den man im ZDF-Krimi dieses Klischeeslawendeutsch reden lässt: “Morgän iäch gähä inn Kinno.”

Mein Sohn kennt Alf auch nicht. Er lacht sich kaputt, wenn er Nu, pogodi! guckt, natürlich im Original.

Alle Sohn-Kolumnen:

Kolumne: Wann ruft Guido Knopp an?

ODESSA, UKRAINE Als Kolumnist fehlt mir eindeutig das Repertoire. Fast immer schreibe ich über dieselben Leute, was möglicherweise nicht weiter auffiele, wenn es mehr als zwei wären oder einer der beiden nicht Adolf Hitler hieße. Ich bin kein Ewiggestriger, der in der Vergangenheit lebt, ich trage zwar einen Seitenscheitel, aber das hat eher optische als ideologische Gründe. Allmählich komme ich in ein Alter, in dem ein vernünftiger Mann an jedem Haar hängt, weil er nichts mehr zu verschenken hat von dem, was auf dem Kopf noch wächst. Die Haare vermehren sich ja nicht – jedenfalls nicht dort. Als einer, der schon einige Geburtstage in seinem Leben gefeiert hat, würde ich, wenn ein Schurke käme und „Geld oder Glatze, Hunderter oder Haarausfall” riefe, immer das Portmonee zücken, egal, wie viel ich verlöre.

“Hitlers Kolumnist”

Ich schreibe also entweder Kolumnen über Oleg, weil er mein Freund in Odessa ist, oder über Adolf Hitler, weil gerade ein Nachbar mein Auto demoliert hat, um sich an einem Deutschen für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu rächen. Wenn der ZDF-Geschichtslehrer Guido Knopp irgendwann „Hitlers Kolumnisten” macht, weil ihm nichts mehr einfällt, bin ich ganz sicher dabei, so viel steht fest.

Und jetzt fragen mich Journalisten, wie ich auf den Skype-Skandal gestoßen sei. Bei diesem Kommunikationsdienstleister haben sich mehr als 30 Nutzer aus der ganzen Welt als Adolf Hitler angemeldet. Auch Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Hermann Göring und Dr. Josef Mengele skypen. In vielen Profilen stehen Hakenkreuze neben Hetze. Es ist sehr unappetitlich.

Wie erklärt man Journalisten und Lesern, dass man Adolf Hitler jagt? Ich habe mich ein bisschen in Lügen verstrickt, ich war überfordert. Zunächst behauptete ich, ich hätte den Führer fragen wollen, ob er wegen der Weltfinanzkrise ein Comeback plane. Ich hielt diese Antwort für einigermaßen originell, bekam aber bald Angst, ich könnte als doppelter Verharmloser dastehen: von Hitler und vom Bankensterben. Ich habe mich danach auf alles berufen: Zufall, Tippfehler, Gier nach Ruhm. Was mein Mund sonst noch so ausgespuckt hat, weiß ich gar nicht mehr. Bestimmt habe ich auch ein paar Mal Oleg die Schuld gegeben.

Klein Adolf in Ägypten

Oleg hat mich vorhin aufgeregt angerufen und gesagt: „Mir ist etwas eingefallen. Was ist eigentlich mit den Leuten bei Skype, die wirklich heißen wie die alten Nazis, ohne neue Nazis zu sein? Warum soll in Algerien, den USA, Tschechien, Kuba, Finnland, Kanada, Trinidad und Tobago oder Ägypten nicht ein Mann so heißen?”
„Ich bin kein Ägyptologe, aber ich bezweifele, dass viele ägyptische Eltern ihr Baby Adolf Hitler nennen, ich glaube das eher nicht”, sagte ich. „Ich rufe für dich auch gern die größte Geburtsstation von Trinidad und Tobago an und frage, wie viele Adolfchen in der letzten Nacht auf die Welt gekommen sind.”
„Aber was ist mit diesem Busfahrer in Wien, der angeblich wirklich so heißt?”, fragte Oleg. “Willst du dem das Skypen verbieten?”
„Oleg, glaubst du, das größte Unglück eines Mannes, der im wahren Leben Adolf Hitler heißt, wäre, nicht mehr skypen zu dürfen?”

Gestern Nacht habe ich von meiner Beerdigung geträumt; es war insgesamt doch sehr feierlich. Der Sarg hätte vielleicht ein bisschen schöner sein können. Aber wer sollte unter der Erde über meine geizige Familie lästern? Der Pfarrer sagte, ehe er mich verabschiedete: „Er hat sein Kolumnistenleben ganz und gar Adolf Hitler gewidmet.”

Muss ich erwähnen, dass nicht sehr viele Leute bei meiner Beerdigung gewesen sind?

Dieser Text ist auch auf kolumnen.de veröffentlicht. Dort finden Sie natürlich viele andere großartige Kolumnen großartigen Autoren. Nein, ich übertreibe nicht.

“Eher ein psychiatrisches Problem”

ODESSA, UKRAINE Ich habe dem Berliner Wissenschaftler Lutz Erbring ein paar Fragen gestellt, um den Wirbel zu deuten, den meine Recherche über Adolf Hitler und Hakenkreuze beim Internet-Telefondienst Skype ausgelöst hat. Der Professor im Ruhestand vom Institut für Publizistik- und  Kommunikationswissenschaft der Freien Universität ist Experte für Internet, Journalismus und Medienwirkung. Auch über Medien und Moral hat Erbring geforscht.

Herr Professor, Nutzer telefonieren bei Skype mit den Namen einstiger Nazigrößen – wie bewerten Sie das, auch moralisch?

Erbring: Das Ganze ist weniger moralisch zu bewerten als vielmehr psychiatrisch. Wie schon einer der Blogger anmerkt: Spinner gibt es immer – und man sollte ihnen nicht durch journalistische Publizität auch noch eine öffentliche Plattform bieten, das lockt nur noch ein paar mehr aus ihren Löchern hervor. Der Blogger hat Recht: „Ernst nehmen? Nein! Doof: jau!”

Unterschätzen Plattformen wie Skype nicht die Gefahr, von Rechtsradikalen unterwandert zu werden?

Erbring: Nein, die journalistischen „Aufreger” überschätzen grotesk die Bedeutung von Spinnern: Welche Gefahr rechtsradikaler Unterwanderung sollte denn drohen, wenn ein Häuflein von meist halbwüchsigen Spinnern glaubt, sich mit Nazi-Namen und -Symbolen oder gar mit Geschmacklosigkeiten wie „Wohnort: Auschwitz-Birkenau” hervortun zu müssen – aus den üblichen Motiven: Provokation, Wichtigtuerei und Halbstarkengag oder einfach ganz allgemeine Dummheit, auf die ja inhaltliche und grammatikalische Fehler hindeuten.

Wie kontrollieren Unternehmen wie Skype, was ihre Kunden tun? Reichen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) aus?

Erbring: Trotz gut gemeinter Vorgaben in den AGB wird die Dummheit oder Geschmacklosigkeit von Nutzern kaum kontrolliert – praktisch nur auf Initiative von dritter Seite wie in diesem Fall; es ist auch kaum anders möglich. Der Aufwand – eine ständig aktualisierte Filtersoftware etwa – stünde in keinem Verhältnis zum Erfolg oder aber zu dem Problem: mit Kanonen auf Spatzen schießen. Im übrigen wäre es meines Erachtens unerträglich, wenn Unternehmen wirklich kontrollieren würden, „was ihre Kunden tun”.

Skype hat mitgeteilt, es werde die Verwendung von Beleidigendem oder Anstößigem nicht tolerieren. “Wenn Skype auf einen Fall aufmerksam wird, in dem ein Nutzer gegen die Nutzungsbedingungen von Skype verstößt, indem er Worte oder Materialien verwendet, die andere beleidigen oder verletzen, werden wir diesen Vorgang sehr ernst und von Fall zu Fall untersuchen.” Reicht das?

Erbring: Die Skype-Antwort ist meines Erachtens die einzige realistische und auch angemessene Gegenstrategie.

Man könnte verdächtige Profile melden. Wie ist es denn um die Zivilcourage im Netz bestellt?

Erbring: Das hat wenig mit Zivilcourage zu tun – gegenüber wem oder was müsste man denn Angst haben oder Courage zeigen? Profile melden – wenn man nicht selbst persönlich betroffen oder beleidigt ist – hängt wohl eher davon ab, ob man mit seiner Zeit nichts Besseres anzufangen weiß als Internet-Blockwart zu spielen.

Gegendarstellungskolumne: Das sagt Oleg

ODESSA, UKRAINE Guten Tag, ich heiße Oleg, Oleg Sergejewitsch, um genau zu sein, ich bin der Freund des Kolumnisten. Bitte erwarten Sie nicht, dass ich die Verhandlungen über den Wert meiner Zitate ausgiebig kommentiere. Mit der Kolumne “Ich leg Oleg um” ist die Öffentlichkeit ausreichend informiert. Nach wie vor finde ich, dass eine Entschädigung von einer Griwna für jedes Wort, das aus meinem Mund in seinen Text wandert, angemessen ist.

Ich sehe das Ganze gelassen. Ich würde auch nie von einem „Honorarkrieg” sprechen, wie es mein Freund tut, wenn wir verhandeln. Gestern hat er einen Zettel in meinen Briefkasten geworfen, auf dem stand: „Heute Abend wieder Friedensgespräche STOP Honorarkrieg muss beigelegt werden STOP Trifft immer Unschuldige STOP Jeden Tag neue Opfer STOP Blogleser wollen Ende der Gefechte STOP Gruß, der K.”

Ich denke, ich bin klar im Vorteil, ich habe ja schon sein Odessa-Blog erobert. Ein Diktatfrieden zu meinen Gunsten ist wahrscheinlich.

Ich bin kein Erpresser. Aber ich weiß ein paar Dinge, die dem Kolumnisten durchaus schaden dürften, wenn sie publik würden. Ich drohe jetzt mal ein bisschen, noch ganz harmlos, ja? Können Sie sich vorstellen, dass er sich, wenn er eine Kolumne vollendet hat, auf die Schulter klopft? Bitte stellen Sie sich das vor, es stimmt nämlich. Meine alte Mitschülerin Irina arbeitet in dem Café, in dem der Kolumnist jeden Tag sitzt und schreibt. Er klopft sich auf die Schulter, selten dreimal, sehr oft viermal, hin und wieder auch fünfmal. Auf diese Weise verteilt er Sterne, wie Hotels sie verliehen werden, an sich selbst. Irina hat zu mir gesagt: „Also, besonders selbstkritisch ist er wohl nicht, der Mann.”

Sie hat mir auch erzählt, was der Kolumnist tut nach dem Schulterklopfen. Er verlasse das Lokal, als würde er übers Wasser laufen. “Er geht nicht, er stolziert mit seiner fertigen Kolumne hinaus auf die Straße und dreht sich nach allen Seiten um. Kann sein, dass er Angst hat, bestohlen zu werden.”

Ich bin nicht nur der Odessadeuter des Kolumnisten, sondern auch sein Problemlöser. Ob der Strom ausfällt, das Wasser im Bad eiskalt ist oder die Kolumnistenkarre nicht anspringt – Oleg Sergejewitsch hilft. Diese Leistungen berechne ich nie, obwohl er sich bloß noch bei mir meldet, wenn er Sorgen hat – oder eine Kolumne braucht. Ich lebe inzwischen sehr ausschließlich für ihn.

Ich habe mich ein wenig mit der Gattung “Kolumnist” beschäftigt, der es in Deutschland offenbar sehr gut geht. Der eine redet mit seinem Kühlschrank, der andere denkt sich einen erfolglosen jüdischen Schriftsteller aus, und meiner klopft sich eben selbst auf die Schulter. Was soll’s? Die meisten Kolumnisten haben einen Knall, und früher war es nicht besser. Kurt Tucholsky hatte fünf Synonyme und nannte sich unter anderen Theobald Tiger. Theobald Tiger! Muss ich mehr sagen? Die Kolumnistin Ulrike Meinhof ist sogar zur Terroristin geworden, aber die war ja auch nicht witzig.

Als Problemlöser meines Kolumnisten habe ich viel zu tun. Zum Beispiel hat er vor ein paar Wochen schlecht geschlafen und geschnarcht, also lauter geschnarcht als sonst, denn er schnarcht immer, wofür er womöglich gar nichts kann. Vielleicht ist das Schnarchen eine Berufskrankheit unter Kolumnisten. Vielleicht macht das ständige Um-die-Ecke-Denken beim Schreiben als Nebenwirkung die Nasenscheidewände krumm. Vielleicht laufen alle Kolumnisten weltweit mit verkrümmten Nasenscheidewänden herum und grunzen deshalb wie Wildschweine. Die Atemblockade würde auch ihren Frauenverschleiß erklären.

Mein Kolumnist ist ein Anfänger, er schreibt erst seit ein paar Wochen diese Geschichten im Odessa-Blog. Seine Schlafgeräusche stecken gewissermaßen im Anfangsstadium und sind wohl noch erträglich. Vorerst habe ich ihm nur ein neues Bett besorgen müssen, aber ich halte mich bereit, weil er doch verkündet hat, er werde die Schwergewichte dieser Disziplin herausfordern und eines Tages schlagen. Für sein Schnarchen wäre das freilich verheerend. Natürlich würde ich ihm dann schwerhörige Frauen zuführen. Ich bin doch sein Freund.

Mit freundlichen Grüßen
Oleg Sergejewitsch
Odessa, 22. August 2008

PS: Ich denke, der Kolumnist und ich werden uns in den nächsten Tagen einigen.

Aus dem Russischen von cw

Kolumne: Adolf Hitler und meine Spiegel-Affäre

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg ist ein angenehmer Beifahrer. Man darf bei ihm praktisch alles. Oleg hat die Gabe, augenblicklich zu erblinden vor Einbahnstraßen, Stoppschildern und roten Ampeln. Meinen Atem, der beschleunigt, wenn ich am Steuer nicht ganz legal handele, hört er dafür umso schärfer. „War irgendwas, Kolumnist?”, fragt er dann. „So lange ich nichts sage, ist alles in Ordnung.” Die ersten vier Wochen bin ich nur mit Oleg Auto gefahren. Es gab für mich im Grunde keine Verbote, abgesehen von: „Lass die Lücke nicht so groß werden! Sonst springt einer rein.” Man kann sagen: Oleg hat mich als Verkehrsteilnehmer in Odessa versaut. Ich bin von ihm ukrainisiert worden.

Seit sechs Tagen fahre ich allein. Gestern habe ich zum ersten Mal gehupt, obwohl nur jemand Rücksicht nahm auf andere. Ich selbst werde kaum mehr bedrängt, was als Mensch nicht unbedingt für mich spricht, als Fahrer allerdings schon. Dass ich Gebote noch halbwegs beachte und mich kontrolliert offensiv fortbewege, liegt daran, dass vor zwei Wochen ein Nachbar den linken Autospiegel abgetreten hatte. „Ihr Nazis habt meinen Opa umgebracht”, schrie er, was juristisch bestimmt nicht ganz sauber formuliert ist, historisch-moralisch aber irgendwie hinkommt. Andererseits ist mir am nächsten Tag, während ich in einer Verhörzelle des Polizeireviers den Mann anzeigte, eingefallen, dass es das Wort „Vergangenheitsbewältigung” nur in der deutschen Sprache gibt. Im Gang schnarchten zwei Blutverschmierte ihren Rausch aus. Ich dachte an Adolf Hitler und sah braune Flecken auf meinem Hemd.

Ein paar Tage nach unserer Anzeige, an deren Nutzen wir bereits gezweifelt hatten, weil nichts geschah, bestellte uns ein Polizist zu sich. Nein, er bat um einen Besuch und erklärte sich bereit, zu uns zu kommen, als wir den Termin verschieben wollten. Zehn Minuten später saß er mit einem Kollegen an unserem Küchentisch. Noch einmal zehn Minuten später hatten wir vom Täter das Geld für die Reparatur erhalten und im Gegenzug die Anzeige zurückgenommen.

Es ist nur ein Verdacht, ich kann es nicht beweisen, aber ich bin ziemlich sicher, dass der Nachbar den Polizisten eine Aufwandsentschädigung gezahlt hat und deshalb noch vor ihrem Feierabend dieses Problem mit den Deutschen in den Papierkorb gelangen musste. Nur so kann ich mir den plötzlichen Eifer erklären. In der Ukraine ist nichts umsonst.

Ich habe im Skoda-Autohaus einen neuen Spiegel bestellt, er wird direkt vom großen Werk in Bratislava nach Odessa geliefert – ich glaube: von einem Fahrradkurier, der einen schönen Gepäckträger hat, vielleicht sogar einen Korb, aber nicht viele Gänge. Es dauert jedenfalls. Ich hatte gedacht, es könnte ein Problem sein, ohne den Spiegel zu fahren. Dann kam Oleg, der staatlich ungeprüfte Schadensgutachter. „Fährt die Kolumnistenkarre nicht ohne das Ding?”, hat er gefragt. „Na siehste! Mein Bruder braucht die Spiegel nur, wenn ihm eine Frau auf dem Fußweg zu sehr gefällt. Aber du bist ja verheiratet. Los, fahren wir ans Meer.”