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Kolumne: Oleg, John und Marschrutka

(Haben Sie Lust auf eine Stadtrundfahrt? Dann steigen Sie bitte ein.)

An einem Tag, der damit beginnt, dass mich mein Freund Oleg anruft und weckt, habe ich entweder Geburtstag oder brauche in den nächsten Stunden starke Nerven. Da ich in mehr als 33 Jahren noch nie im Juli Geburtstag gehabt habe, war mir gleich klar: Es kommt etwas auf mich zu.

Oleg sprach sehr schnell und bestellte mich in ein Café. Er sagte, es sei dringend. Als ich ankam, und zwar unserer Freundschaft zuliebe mit gespielter Atemlosigkeit, hatte er seinen Kaffee bereits bezahlt und wartete auf der Straße. “Wir müssen los”, sagte er. “Wir nehmen die Marschrutka.”

Marschrutkas heißen in der Ukraine jene Transportmittel, die in deutschen Großstädten Linienbusse heißen. Man sollte nur keine Linienbusse erwarten. Anders gesagt: Marschrutkas sind Linienbusse vor der Erfindung von überdachten Haltestellen und Fahrplänen und Monatskarten und Komfort jeder Art.

In der Theorie sieht das so aus: Sie stellen sich an die Straße und warten. Wenn die Marschrutka kommt, halten Sie den Arm raus und steigen ein. (Bitte zeigen Sie dem Fahrer nicht den Daumen, als wollten Sie trampen. Er könnte das Zeichen missverstehen und denken: Ich weiß selbst, dass ich ein geiler Marschrutkafahrer bin.) Wenn Sie aussteigen wollen, gehen Sie nach vorne zum Fahrer, nennen ihm die Straßenecke, an der er halten soll, und bezahlen. Eine Fahrt in Odessa, egal wie lang, kostet derzeit 2 Griwna und 50 Kopeken, ungefähr 20 Cent.

In der Praxis sieht das so aus: Als Odessa-Neuling brauchen Sie ein Fernglas, um von weitem zu erkennen, welche Marschrutka gerade kommt. Ist es die 242 nach Arkadia am anderen Ende der Stadt oder die 241 zum Hauptbahnhof im Zentrum? Dorthin fahren ungefähr noch fünf andere Linien, aber immer auf unterschiedlichen Wegen. Die ungefähre Route des Busses, also die Namen der wichtigsten Straßen, die angesteuert werden, kleben auf einem Pappschild an der Front- und der Seitenscheibe.

Wenn Sie gar nicht durchsehen, tun Sie, was auch Odessiten tun: Bringen Sie die Marschrutka mit ausgestrecktem Arm zum Stehen. Dann brüllen Sie ins Innere ihr Ziel und heben dabei die Stimme. Irgendjemand wird auf die Frage schon antworten. Im schlimmsten Fall hat der Fahrer umsonst gehalten und beschimpft Sie deshalb ein bisschen. Aber das verstehen Sie dann sowieso nicht.

Sollten Sie aussteigen wollen und feststellen, dass Sie nicht nach vorne durchkommen, weil es zu voll ist, geben Sie der Person vor Ihnen das Geld und nennen Sie ihr auch Ihre Haltestelle. Beides wird dann zum Fahrer durchgegeben. Keine Sorge, Sie bekommen auch das Wechselgeld zurückgebracht. Dort, wo Sie abgesetzt werden wollen, öffnet sich die hintere Tür. Sie sind da. Verabschieden Sie sich nicht von den anderen Leuten! Danken Sie nicht dem Fahrer!

Sie wollen wissen, wo Ihr Fahrschein ist?
Steigen Sie aus der Kolumne aus. Sofort!
So frech muss man erst mal sein. Gibt’s doch gar nicht.

Oleg lehnte mit dem Kopf an der Scheibe und hatte die Augen geschlossen. Immer wenn die Marschrutka hielt, erwachte er augenblicklich, schaute zu den Türen und beobachtete, wer zustieg. Dann nickte er wieder weg.

Meine Lieblingsmarschrutka ist die 203, die zwischen der Zementfabrik und dem Schewtschenko-Park verkehrt. Am Park spuckt der Bus vor allem Halbnackte aus, weil Lanjeron nicht weit entfernt ist. Lanjeron ist der Strand von Odessa, der am dichtesten am Stadtzentrum liegt. Meiden Sie diesen Ort, wenn Sie Osteebadähnliches erwarten und sich erholen wollen.

Zur Zementfabrik gelangen Sie am besten, indem Sie träumen und sich auf die falsche Straßenseite stellen. So werden Sie logischerweise in die andere Richtung transportiert, also weg vom Schewtschenko-Park und vom Strand. Irgendwann merken Sie das natürlich, weil sich der Bus unterwegs ziemlich leert und die Frauen sowohl älter als auch dicker werden. Überdies werden ein paar verlorene Seelen einsteigen, die ihnen im Zentrum eher selten begegnen. Odessa, die Smog atmende Metropole, verwandelt sich mehr und mehr in ein Dorf, und auf den letzten Kilometern werden Sie vermutlich der letzte Fahrgast sein. Halten Sie durch.

Und dort ist sie schon, die weniger bekannte Sehenswürdigkeit Zementfabrik Odessa. Die ist, wenn Sie den Verwandten später Ihre Urlaubsbilder zeigen, ein sicherer Brüller.

Kalle, schau mal: die berühmten Treppe mit den 192 Stufen aus dem Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin, und die Oper haben wir uns natürlich auch angeguckt. Ein Prachtbau der Wiener Architekten Fellner&Helmer, sag ich dir. Und das, Kalle, ja, das ist die Zementfabrik. War das ne Tortur dahin, mein Lieber.

Oleg und ich fuhren ein wenig kreuz und quer, ja ziellos durch die Stadt, wie mir schien. Ich hatte längst aufgegeben, mich zurecht zu finden, wir waren immer irgendwo, wo ich nie zuvor gewesen war. Alle zehn bis 15 Minuten ging Oleg nach vorne, reichte dem Fahrer fünf Griwna und bat ihn, an der nächste Ecke zu halten. Dann standen wir ein paar Augenblicke an der frischen Luft und kletterten in die nächste Marschrutka, die kam.

Die 203 vom Strand weg ist nichts für Einsteiger. Man hat gerade im Schwarzen Meer gebadet und will wieder ins Zentrum. Bis zur Haltestelle der Marschrutka sind es ungefähr sieben Minuten, es geht größtenteils bergauf, und mit Kindern ist der Weg noch ein wenig beschwerlicher, weil an den Buden links und rechts nicht nur Souvenirs, getrocknete Fische und Krabben verkauft werden. Es gibt auch allerlei buntes chinesisches Plastikspielzeug, das Kinderschritte sehr langsam macht.

Hat man die Haltestelle erreicht, findet man mit etwas Glück noch einen letzten freien Sitzplatz in der 203 und braucht bis zur Abfahrt nicht zu stehen. Meistens, vor allem mit bummelnden Kindern, hat man kein Glück und verflucht Chinas Spielzeugindustrie.

Sekunden später passiert es: Der Körper schwitzt, wie er noch nie geschwitzt hat. Es ist seine Art, den Verstand zu fragen: “Wozu hast du mich eigentlich zum Abkühlen ins Schwarze Meer geschickt? Und weißt du, was Körperverletzung ist? Ich verrat’s dir, Schwachkopf. Körperverletzung ist: in einer 60 Grad heißen Marschruka ohne Klimaanlage 20 Minuten auf die Abfahrt zu warten.”

Ich wurde nicht gerade ungeduldig, ich bin schließlich im Urlaub. Aber nach einer Stunde fragte ich Oleg doch mal, was wir vorhätten.
“Kolumnist, weißt du denn nicht, welcher Prominente gerade in Odessa ist?”
“Keine Ahnung. Außer mir fällt mir niemand ein.”
“Mal davon abgesehen, dass das gerade grammatisch ganz gewagt war – ich meine nicht eingebildete Prominente.”
“Sag schon, Oleg.”
“John”, sagte Oleg und dehnte den Nachnamen, “Mal-ko-vich.”
“Hmmh, der Schauspieler, ja?”
Hmmh, der Schauspieler, ja? Du bist ja ein noch größerer Depp, als ich bisher gedacht habe. John Malkovich ist Ehrengast des Zweiten Internationalen Filmfestivals von Odessa.”
“Schön für Odessa, schön für Mr. Malkovich.”
“Ich muss ihn treffen. Ich bewundere ihn.”
“Oh nein, Oleg, bitte nicht, das hatten wir doch schon mal.”
Oleg Fiction, ich erinnere mich. War großartig. Hammertext von Axel. Ewige Druschba.”
“Weißt du denn, wo er ist?”
“So ungefähr.”

Wir setzten die Fahrt fort.

Mich fasziniert nach Jahren immer noch, wie viele Leute in eine Marschruka mit 20 Sitzplätzen hineinpassen. Erst wenn 40 Leute drin sind, beginnt ein Gemurre, das der Fahrer aber nicht hört, weil er gerade telefoniert, oder sowieso nicht hören will. Er lässt weiter einsteigen, obwohl zur Paarung mittlerweile nicht mehr viel fehlt. Man wird von Fremden angeschwitzt und revanchiert sich, indem man bestmöglich zurückschwitzt. Als Mann suche ich naturgemäß die Zweisamkeit mit hübschen Odessitinnen. Auch kurz vor dem Kollaps riechen Marschrutkafrauen besser als Marschrutkamänner.

Nach einer Weile kennt man auch die Problemzonen der Schönheit, an der man sich reibt. Ihren Po hatte man sich, als man sich zu ihr vorgearbeitet hatte, doch ein wenig strammer vorgestellt. Ihre Brüste fühlen sich indes obszön schön an. Haucht sie mir da gerade einen Rest Knoblauch vom Essen gestern Abend ins Gesicht? Gut, dann neutralisieren wir uns ja.

Deutsche Datenschützer, die sich wegen Facebook und Google um die Privatsphäre sorgen, sollten in Odessa mal Marschrutka fahren.

“Wie lange dauert′s denn noch, Oleg?”
“Geduld.”
“Wir sind jetzt 90 Minuten unterwegs. Da könnte mal was kommen.”
“Wir sind gleich da.”

Odessa ist für mich voller Erinnerungen. Ich weiß noch, wie ich mir im Juni 2008 – kurz nach meinem Umzug aus Deutschland – die Füße wund gelaufen habe auf der Suche nach einer Nagelschere. Denn die hatte ich nicht mitgebracht. Damals gab es diese vielen Drogerieketten noch nicht. Als ich endlich ein Geschäft gefunden hatte, eines für Sanitärartikel, wusste ich nicht mehr, was “Nagelschere” auf Russisch heißt. Und gerade jetzt fällt mir das Wort natürlich auch wieder nicht ein.

Wenn ich vor der Oper stehe, denke ich immer an den Stunt, den mein Sohn auf seinem Laufrad vollführte. Er hatte das Bremsen damals noch nicht gelernt, und nun ging es bergab. Er stürzte, schlug sich die Lippen auf und sang eine Arie, die es in sich hatte. Hätte ich in dem Augenblick einen Pappbecher herausgeholt, wir wären reich geworden.

Und dort, die Schwiegermutterbrücke, an der frisch Verheiratete ein Vorhängeschloss anbringen, damit die Liebe ewig hält: Hier fiel meine Brille zu Boden. Sonst hätte ich die Sache mit dem deutschen Optiker M. nie erlebt. Und da, der Primorskij Boulevard, war das kalt in der Silvesternacht 2008. Der Staatspräsident, der sich aus Kiew mit Neujahrsgrüßen meldete und ausgepfiffen wurde, hieß, tja, wie hieß der denn? Das war doch der mit den Narben im Gesicht und den großen Versprechen im Maul. Mensch, ich komm nicht drauf. Lang, lang ist′s her.

Und jetzt sind wir an dem Lokal, in dem ich mit der Familie das beste Schaschlyk meines Lebens gegessen habe, ist erst ein paar Tage her. Die Kinder malten die ganze Zeit wild mit ihren Filzstiften und waren so genügsam. Als die Kellnerin die Rechnung brachte, war sie entsetzt, weil den Lipton-Eistee-Tisch fünf Filzstiftkringel zierten. Sie drückte mir einen Lappen in die Hand und sagte: “Das muss weg, sonst Schtraf.” Die Familie war natürlich längst heimlich untergetaucht, ich schrubbte ein bisschen und merkte gleich, dass die Farbe mit Spülmittel niemals verschwinden würde. Ich erhöhte dann das Trinkgeld und rannte davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Und schaut, liebe Leser, das Krankenhaus Nummer 11, wo ich nach meinem bösen Unfall wieder laufen lernte. War auch eine Marschrutka, übrigens. Euer Kolumnist musste sich das Antibiotikum selbst in den Hintern spritzen. Wisst ihr noch?

Und dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort und auch dort wurde ich mit dem Auto angehalten, weil Odessas Straßenpolizisten, die Gaischniki, gerade Geld brauchten. Irgendetwas, wofür ich eigentlich in den Knast gehört hätte, fanden sie jedes Mal. Manchmal konnte ich mich herausreden, manchmal musste ich mich freikaufen.

Oleg tippte mich an.
“Hab ich geschlafen?”, fragte ich.
“Den Geräuschen nach: tief und fest, Kolumnist.”
“Und wie lange?”
“Halbe Stunde.”
“Sind wir da?”
“Hast du Geld dabei, Kolumnist?”
“Ich hab nichts eingesteckt, du wolltest doch bezahlen.”
“Tja”, sagte Oleg, “dann sind wir jetzt da.”

Ich rieb mir die Augen und versuchte, etwas zu erkennen, das mir bekannt vorkam. Aber da war nichts.
“Wo sind wir, Oleg?”
“Ist doch egal.”
“Wo ist Malkovich?”, fragte ich.
“Ich dachte: hier.”
“Hier?”
“Hier. In der Marschrutka oder in der davor oder in der davor oder gleich in der ersten.”
“Oleg, nur damit ich das richtig verstehe: Wir fahren seit zweieinhalb Stunden Marschrutka, weil du glaubst, dass John Malkovich auch Marschrutka fährt?”
“So isses.”
“Ich halte das, vorsichtig gesagt, für nicht sehr wahrscheinlich. Der kriegt für jeden Film ein paar Millionen. Der fährt doch nicht Sauna.”

Oleg erzählte mir eine Geschichte. Er war zur Eröffnung des Filmfestivals gegangen. Vor der Oper lag ein langer roter Teppich. Plötzlich sah er, wie sich John Malkovich auf der Straße mit Odessiten unterhielt. Er hätte ihm fast die Hand geschüttelt, kam aber nicht weiter, es fehlten nur drei Meter. Oleg drängelte und stellte sich auf die Zehenspitzen, er rief den Schauspieler und drängelte weiter.

Drei Meter.

Odessadorf

Oleg verstand nicht, worüber sich John Malkovich unterhielt, aber er hörte ein Wort ganz, ganz deutlich.
“Er hat gesagt: Marschrutka.”
Ich schwieg.
“Kolumnist, du glaubst mir doch, oder?”
“Na klar, Oleg. Wenn du’s gehört hast, hat er’s gesagt.”
“Marschrutka,
hat er gesagt.”
“Aber Oleg“, sagte ich. „Du hast es doch gar nicht nötig, diese blöden Prominenten zu jagen. Du hast doch mich.”
“Ach, du bist ja praktisch schon wieder weg.”
“Aber ich komm wieder, vielleicht schon im Oktober. Ist das nichts?”
“Im Augenblick, Kolumnist, frage ich mich eher, wie wir von diesem verdammten Ort wegkommen. Ohne Geld.”
“Ist es weit, Oleg?”
“Verflucht weit.”
“Ich habe Zeit. Ich habe nichts vor. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.”
“Gehen wir?”
“Gehen wir.”

Und dann gingen wir.

(Und Sie müssten ja jetzt eine Weile ohne mich klarkommen können.)

Baustellen-Spionage

Budjet. Es wird. Ich habe kurz geschaut, was Odessas neues Fußballstadion macht. Als ich im Herbst 2009 die Stadt verließ, wurde das alte Zentralstadion, erbaut in den dreißiger Jahren, gerade abgerissen. Damals war, wenn ich mich recht erinnere, Odessas Traum schon geplatzt, EM-2012-Austragungsort zu werden. Das Stadion, Heimstätte des chronisch erfolglosen Fußballklubs Chernomorets, wird trotzdem weitergebaut. Und man sieht es sogar.

Stadion1

Stadion3

Stadion4

Stadion5

35858 Zuschauer sollen dort eines Tages hineinpassen.

Stadion

Schöne bunte Bilder und ein Video der Vison gibt es auch hier.

Mit der Fertigstellung im zweiten Quartal 2011 wird es nix mehr. Und Chernomerets belegt nach zwei Spieltagen in der ukrainischen Liga den vierletzten Platz, ist aber auch gerade aufgestiegen. Irgendwann werde ich mal wieder hingehen. Das letzte Spiel, das ich gesehen habe, verlor Odessa gegen Dynamo Kiew.

Eine Frau von der Tourismusabteilung der Stadt hat mir erzählt, dass die EM im nächsten Sommer immerhin auf großen Leinwänden übertragen werden soll.

Odessas Stadion im Schewtschenko-Park

Klammeraffen

Ich weiß immer noch nicht, ob ich diese Aktion großartig oder peinlich finden soll, ich werde es gleich erfahren. Sie ist zumindest typisch odessitisch. Aleksandr Stepaniza, der Chef des Café Kompott, hat Geburtstag und wird auf der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße, gefeiert. Man stapelt halt nicht gern tief.

So sah das heute Morgen um kurz vor elf aus: verkleidete Trommlerinnen, ein Stuhl, rote Rosen und eine riesige Wäscheklammer, Markenzeichen des Hauses.

Kompott 2

Ich habe mich nicht getraut, dem Mann zu gratulieren, obwohl in Odessa ja jeder jeden kennt – jedenfalls scheint es so, weil sich das Leben von seiner schönen Seite immer auf einem sehr kleinen Flecken zeigt. Wer sich im Zentrum aufhält, trifft dauernd dieselben Leute.

Nun ist es kein gutes Zeichen, wenn die Kellnerinnen den Chef freundlicher behandeln als ihre Gäste. Es spricht übrigens auch nicht für den Chef. Die Damen flippten aus, sie tanzten und trommelten mit, sie kicherten und klatschten und küssten.

kompott 3

Ich habe seit dem vergangenen Montag dreimal allein im Kompott gefrühstückt: zwei Milchkaffee, eine hausgemachte Limonade, ein Baguette mit Schnitzel. Ich glaube, ich kann von mir sagen, dass ich ein pflegeleichter und unaufdringlicher Gast bin. Ich weiß, dass dort auch viele Arschlöcher sitzen. Ich gehöre nicht dazu.

Dreimal hat mich dieselbe Kellnerin bedient. Auf ein Lächeln von ihr, ein einziges nur, warte ich noch immer.¹ Und das war früher, als ich regelmäßig hier war und erkennbar kein Tourist, nicht anders.

¹ Warum gehe ich dort noch hin? Es ist eines der wenigen Cafés in Odessa, in dem ich in Ruhe arbeiten kann, weil die Musik (französische) nur plätschert und nicht dröhnt. Und besser ist der Service anderswo auch nicht. Glauben Sie mir.

Kein Hund namens Beethoven

(Ich muss ein bisschen Zeit gewinnen für die nächste Kolumne.)

Ferrari

Das ist Ferrari, wohnhaft in der Kowaljewskogo-Straße, weit weg vom Zentrum. Ferrari ist kein Name für einen Hund? In Odessa schon.

Und so sieht es aus in seinem Revier:

Kowal6

Kowal5

Kowal4

Kowal3

Kowal2

Kowal1

Kowal7

Sie dürfen gern Ferri zu ihm sagen.

Nach fest kommt ab

Sage bloß niemand, es gebe keinen Fortschritt in Odessa. Die Straße hinter dem Priwos-Markt ist jetzt befestigt.

Priwos Juli 2011

Im März 2009 sah das hier noch so aus:

Priwos März 2009

Und im November 2008 so:

Priwos November 2008

Und im September 2008 so:

Priwos September 2008

(Aber damals gab es ja auch noch keine Farbfotografien, und die Bilder waren überdies von so schlechter Qualität, dass ich jetzt zwei 8 umlegen muss, damit mir das Design nicht auseinanderfliegt.)

Ganz perfekt ist die Straße natürlich noch nicht (oder nicht mehr):

Priwos Juli 2011 (1)

Priwos Juli 2011 (2)

Flirt mit Frauen und Fischen

Fischfrauen auf dem Priwos

Ich glaube, so wie auf dem Priwos in Odessa riecht es auf keinem deutschen Biowochenmarkt. Das ist ein Kompliment (für den Priwos). Er ist übrigens gewachsen: Dort, wo mal etwas war und dann lange nichts, weil gebaut wurde, ist jetzt wieder etwas. Wenn ich es richtig überblickt habe, sind die Fischverkäuferinnen umgezogen. Umgezogen haben sie sich nicht.

Gut so, die Kittel gehören dazu.

Okay, ich habe mich nicht immer freundlich über Odessas berühmten Riesenmarkt geäußert. Einmal schrieb ich:

Dort braucht man ungefähr einen halben Tag, um drei Tomaten, ein Kilogramm Kartoffeln und ein paar Socken zu kaufen, weil man zuerst in diesem Irrgarten die Orientierung verliert und danach dem Irrglauben verfällt, Schnäppchen zu finden, in diesem konkreten Fall: besonders günstige Tomaten, Kartoffeln und Socken. Und derweil beginnen schon die Ohren zu schmerzen, weil die Marktfrauen pausenlos brüllen – je älter, umso lauter – und mit jedem zweiten Kunden in Streit geraten, wenn nicht gerade halbnackte Männer rumpelnde Handwagen durch die engsten Gänge schieben und sich mit dem Ruf  “Осторожно! Ноги!”* den Weg freikrakeelen.  (* “Vorsichtig! Füße!”)

Ein anderes Mal:

Fast alles, was es in der Ukraine gibt, ist in Deutschland günstiger und qualitativ hochwertiger. Die Ausnahmen, die mir auf Anhieb einfallen, sind Kartoffeln und anderes Zeug, das dicke Frauen auf dem Priwos-Markt verkaufen.

Ich entschuldige mich für diese Worte. Heute war es unheimlich nett bei den Fischen und den Frauen.¹ Ich bilde mir sogar ein, die Frauen (und vielleicht auch die Fische) hätten mit mir geflirtet.² Es war zwar nur ein harmloses Schwätzchen  (“Ich bin ein Berliner” und so weiter) – aber es hat mich mit dem Priwos versöhnt.³ Danke.

¹ Ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig, seit ich auf dem Priwos die tollen EM-2012-Schlappen gekauft habe.
²
Ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig, seit ich auf dem Priwos die tollen EM-2012-Schlappen gekauft habe.
³
Ich bin nicht mehr ganz zurechnungsfähig, seit ich auf dem Priwos die tollen EM-2012-Schlappen gekauft habe.
  

Kolumne: Mein Sohn und der Datschaismus

ODESSA/UKRAINE Ich brauche in Odessa nach wie vor keinen Stadtplan. Nun kann man einwenden, das sei nicht unbedingt eine herausragende Leistung für jemanden, der mehr als eineinhalb Jahre hier gelebt hat. Allerdings gibt es andere Dinge, die mich überfordern, obwohl ich sie beherrschen müsste, weil ich schon lange genug mit ihnen zu tun habe. Würde ich mich zum Beispiel in Odessa orientieren, wie ich in Odessa rede, hätte ich gestern nicht einmal die Potemkinsche Treppe wiedergefunden.

Datscha

Ich habe in der fünften Klasse angefangen, Russisch zu lernen. In der DDR war das die erste Fremdsprache – natürlich auch aus Dankbarkeit für die Rote Armee, die uns freundlicherweise Adolf Hitler weggenommen hatte, was uns allein wohl nie gelungen wäre. Wenn man die These vertritt, dass der Führer von dreiunddreißig bis fünfundvierzig nicht allein unterwegs gewesen sei, könnte man auch sagen: Wir wurden uns selbst weggenommen. Kurz und Knopp: Nicht alle Deutschen waren Nazis. Aber alle Nazis waren Deutsche.

Russisch war auch eine Siegersprache, die des Großen Bruders, der schon den Kommunismus erreicht hatte, während wir in der DDR noch im Sozialismus feststeckten. Ach, war das ein Schlamassel.

Dass wir nicht zuerst Englisch lernten, war nur konsequent und logisch. Wo, bitte schön, hätte ich denn meine Kenntnisse vertiefen oder überhaupt anwenden sollen? Für DDR-Bürger hatte Englisch ungefähr den Stellenwert, den heute Esperanto hat: nette Sprache, aber find erst mal jemanden, mit dem du sie teilen kannst.

Niemand außer Helmut Kohl hat doch 1987 gewusst, dass die Mauer bald fällt.

Panzer vor dem Kinderzimmerfenster

Dass wir mit Russisch auch nicht viel anfangen konnten, ist wiederum einer dieser Witze, wie sie nur ein Land wie die DDR hinbekam. Das Land war besetzt von der Roten Armee; durch meine Heimatstadt liefen sowjetische Offiziere, von denen wir auf der Straße immer etwas zu schnorren versuchten: Schokolade (klappte selten) und Abzeichen (klappte nie). Wenn wir ins Nachbardorf fuhren, kamen wir an ihrer Kaserne vorbei. Viel näher dran an ihnen waren wir eigentlich nicht.

Ich erinnere mich an Panzerkolonnen, die unter meinem Kinderzimmerfenster vorbeischepperten, von einer Übung in der Heide zurückkehrend, wo schon die Wehrmacht geübt hatte und heute die Bundeswehr übt. (Das ist bloß eine Feststellung, die zwischen den Zeilen exakt so viel ausdrücken soll: gar nichts.) Panzergucken, das war für uns Kinder in dieser Straße irgendwann nichts Besonderes mehr.

Die Erwachsenen kommentierten das Geschepper ziemlich lapidar: “Ach, Kolja ist wieder unterwegs.” Den Iwan kannten wir nicht, den gab′s wohl nur im Westen. Bei uns hieß der Rotarmist Kolja. Sehr viel freundlicher war dieser Spitzname aber auch nicht.

Alf und die Offizierskinder

Einmal besuchten sowjetische Schüler, Kinder von Offizieren, die in der Kaserne am Rande der Stadt lebten, unsere Klasse. Jeder von uns saß einem von ihnen gegenüber. Und jeder von uns fragte einen von ihnen auf Russisch gleich mit dem ersten Satz: “Kennst du Alf?” Die Antwort, die jeder von uns bekam, war: “Njet.” Damit war einem Gespräch jede Grundlage entzogen. Sie kamen als Fremde und gingen als Fremde.

In meinem Pionierausweis stand damals:

Thälmann-Pioniere sind Freunde der Sowjetunion. Wir hüten und pflegen die Freundschaft mit der Sowjetunion, so wie es uns Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck lehren. Die Jungpioniere der Sowjetunion sind unsere Freunde, von ihnen wollen wir immer lernen.

Was sollte ich von jemandem lernen, der nicht einmal Alf kennt?

Ich weiß nicht, was diese Offizierskinder damals über uns dachten; hoffentlich dachten sie: “Diese Idioten!”

Heute, 23 Jahre später, ist mir die slawische Welt immer noch ein bisschen fremd.

Mein Sohn ist anders aufgewachsen. Als er zwei Jahre alt war, sind wir nach Odessa gezogen und haben ihn in einen städtischen Kindergarten gesteckt. Die nächsten 18 Monate hießen seine Freunde nicht Tim, Leo, Paul und Kevin, sondern Gleb, Wanja, Maxim und Jegor. Am ersten Kindergartentag verstand er kein Wort, eine Woche später fing er an zu sprechen, nach drei Monaten bestellte er nachts im Halbschlaf sein Wasser bei mir auf Russisch. “Waaaaaaaaaadietschka!”

Jetzt ist er fünf und spricht ohne Akzent. Ich verstehe wenig und lausche gierig.

Es gibt in Odessa ein sehr schönes Gartenrestaurant. Praktischerweise heißt es Datscha. Es ist ein bisschen teurer. Teurer heißt: Man bezahlt auch für etwas, das man sieht, aber nicht schmeckt. Draußen gibt es einen Spielplatz, eine Schaukel, Käfige mit Vögelchen darin und reichlich Gartenidylle. Drinnen steht auf dem Weg zur Toilette eine Badewanne. Einfach so.

Gestern habe ich meinen Sohn gefragt, ob wir in unserem Urlaub mal wieder zur Datscha fahren wollten.
“Datscha, Papa”, sagte er.

Datscha klingt bei ihm ungefähr so: Daaaad-dja. Darin steckt so viel mehr, das Wort riecht nach selbstgepflanzten Tomaten und Schaschlyk auf dem Grill, ich höre ein Bächlein plätschern oder das Schwarze Meer Wellen heranspülen, ich sehe so ein Häuschen sogar vor mir, mit Leinen voller Wäsche, Wasserpumpe und quietschendem Gartentor. Wenn mein Sohn Daaaad-dja sagt, dann ist das: rein in den alten Lada, raus aus der Stadt. So wird’s hier gemacht, in Odessa und anderswo: Alltag und Kummer zurücklassen, abschalten und erholen auf dem Fleckchen Land, das einem niemand nimmt.

Bei mir klingt Datscha wie Bungalow.

DVD

Mein Sohn und ich haben noch ein bisschen geübt.
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Nee, Papa. D a a a a d – d j a.”

Seine Ohren müssen schmerzen, wenn er mein Russisch hört. Es klingt für ihn so wie für mich der Russe, den man im ZDF-Krimi dieses Klischeeslawendeutsch reden lässt: “Morgän iäch gähä inn Kinno.”

Mein Sohn kennt Alf auch nicht. Er lacht sich kaputt, wenn er Nu, pogodi! guckt, natürlich im Original.

Alle Sohn-Kolumnen:

Comeback-Kolumne: Oleg und die Leokonservativen

DSC_0015ODESSA/UKRAINE “Kann man euch denn nicht mal eineinhalb Jahre allein lassen?”, habe ich heute meinen Freund Oleg gefragt. Ja, vielleicht hat die Geschichte der Männerfreundschaften schon romantischere Wiedersehenssätze gehört. Andererseits: Mit Romantik hatten Oleg und ich es ja noch nie.

Oleg fragte zurück: “Was meinst du? Und vor allem: Was willst du in Odessa?”
“Es sind doch nur zwei Wochen.”

Was soll ich sagen? Ich war ja nie richtig weg. Ich habe mich seit meinem Abschied im November 2009 immer wie ein halber Odessit gefühlt. Mir fehlt die Stadt, ich weiß nicht genau, warum, es ist bloß so ein Gefühl. Denke ich an Odessa, passiert was in meinem Körper, ich spüre dann eine Art Stich oder ein Ziehen, irgendwo zwischen Kehle und Bauchnabel. Wahrscheinlich werde ich nur alt und sentimental.

Wenn ich an Berlin denke, wo ich jetzt lebe, sehe ich mich zur Arbeit radeln und die Hasen im Tiergarten herumhoppeln. Neulich habe ich dort einen Fuchs gesehen und es gleich allen Leuten erzählt. In Odessa hätte ein Fuchs in meinem Auto angeschnallt auf dem Beifahrersitz hocken und die CD wechseln können – Frau und Kind hätten das irgendwann mal von mir erfahren.

Kleines Kolumnistenkreuzverhör

“Es ist doch alles wie immer bei uns”, sagte Oleg und bestellte sich einen Kaffee.
“Oleg, mach doch mal die Augen auf.”
Oleg riss die Augen weit auf und nickte. “Na gut, fangen wir mal an”, sagte er.
“Womit?”, fragte ich.
“Kleines Kolumnistenkreuzverhör. Erstens: Beschreibe den Bus, der dich und die anderen Passagiere vom Flugzeug abgeholt und zur Passkontrolle gefahren hat.”
“Ich würde sagen: gelber Schwitzkasten, gezogen vom Führerhaus eines sehr alten Trucks.”Flughafenbus
“Zweitens: Wie lange hat die Passkontrolle gedauert?”
“Eine Ewigkeit.”
“Drittens: Wie lange hast du danach noch auf deinen Koffer gewartet?”
“Eineinhalb Ewigkeiten.”
“Viertens: Mit welchem Wort würdest du den Taxifahrer charakterisieren, der dich vom Flughafen weggebracht hat?”
“Nur ein Wort, Oleg?”
“Nur ein Wort, Kolumnist.”
“Gauner.”
“Fünftens: Beschreibe Odessas Straßen mit einem Wort.”
“Oleg, was soll das?”
“Ich stelle hier die Fragen. Also?”
“Löchrig.”
“Sechstens: Was mit Odessas schönen Frauen?”
“Kein Kommentar, Frau liest mit.”
“Siebtens: Was ist mit den Preisen?”
“Alles wird immer teurer, Oleg. Der Kaviar ist inzwischen in Berlin billiger als hier.”
“Na, du hast Sorgen, egal. Achtens: Wie ist übrigens das Wetter? Regnet’s? Ungewöhnlich kühl für Mitte Juli, findest du nicht?”
“Die Hitze bringt mich um. Ich flüchte vor der Sonne.”
“Neuntens, Schattenmann, vorletzte Frage: Was haben früher die Kassiererinnen in den Geschäften gemacht, wenn sie gerade etwas anderes zu tun hatten als arbeiten?”
“Sie haben das Schild Technische Pause vor die Kasse gestellt.”
“Und zehntens: Was machen die Verkäuferinnen heute, wenn sie gerade etwas anderes zu tun haben als arbeiten?”
“Schon gut, Oleg.”
“Du willst mir einreden, es habe sich bei uns was verändert, Comeback-Kolumnist. Ja?”

Ich hatte mit Oleg eigentlich ernsthaft über die politische Situation im Land nach dem Machtwechsel reden wollen. Seit dem 25. Februar 2010 ist Viktor Janukowitsch Staatspräsident. Ich habe die Ukraine seit meiner Rückkehr nach Deutschland, zugegeben, ein bisschen aus dem Blick verloren. Was in der Zeitung stand, habe ich natürlich gelesen. Es waren meist nur wenige Meldungen. So viel ist offenbar nicht mehr los in der Ukraine, seit ich weg bin.

Oma Julia

Wenn doch mal berichtet wird, geht es um drei Personen: um Klitschko, den Jüngeren, um Klitschko, den Älteren, und um Julia Timoschenko, die einstige Regierungschefin. Die schöne Julia trägt nicht mehr nur ihren berühmten Haarkranz, sondern jetzt manchmal auch eine Brille, die an ihr eher unvorteilhaft aussieht. Es ist mit Julia wie mit Oma: Ich sehe sie selten, und ich sehe sie deshalb altern.

Jedenfalls wird Timoschenko in Kiew gerade der Prozess gemacht, es geht um Amtsmissbrauch beim Abschluss eines Gaslieferabkommens mit Russland im Jahr 2009. Ich kann nicht beurteilen, ob die neuen Machthaber Timoschenko tatsächlich ins Gefängnis bringen wollen, um sie so für immer auszuschalten. Ich weiß auch nicht, ob der neue Präsident alle oppositionellen Kräfte im Land einschüchtern und die Meinungsfreiheit brechen will. Ich weiß nur: Um ein Land, in dem ausgerechnet jemand wie Janukowitsch den Anti-Korruptionskämpfer gibt, müsste man sich schon Sorgen machen.

Ein bisschen verstehe ich sogar, warum es Oleg kaum juckt, dass eine Politikerin, die in den neunziger Jahren auf dubiose Art schwerreich geworden ist, gerade ungerecht behandelt wird und eine “Justizfarce” erlebt, wie die Neue Zürcher Zeitung klagt. Noch der größte Verbrecher sollte das Recht auf einen fairen Prozess, schon klar, sehe ich genauso. Doch wenn alle drei bis vier Jahre ein anderer Politiker oben ist und den, der gerade unten ist, zur größten Gefahr des Landes erklärt, kann man als Bürger vielleicht auch abstumpfen und denken: Das klären die schon untereinander.

BrunnenUnd ich habe ja auch gerade genug andere Probleme: Mein Körper assimiliert sich nur zögerlich, ja er benimmt sich, als hätte ich ihn vom Berliner Winter direkt in die Sahara geschickt. Ich kann gar nicht so viel saufen, wie ich schwitzen muss. Einerseits hat es vielleicht damit zu tun, dass das kleine Mädchen vor zwei Jahren, wenn wir durch Odessa spaziert sind, immer im Kinderwagen saß – und jetzt auf meinen Schultern. Andererseits empfinde ich Odessa tatsächlich als anstrengend. Es ist so wahnsinnig laut, überall. Wenn die Fußgängerampel auf grün umspringt, gehe ich nicht los, sondern warte, bis die Autos wirklich gehalten haben. Und weil plötzlich alles wieder so furchtbar langsam geht, ob ich nun einkaufe oder mit dem Bus fahre, werde ich schnell ungeduldig.

Oleg hatte seinen Kaffee ausgetrunken, morgen Abend würden wir uns – der alten Zeiten wegen – vielleicht mal wieder mit Wodka duellieren. Aber das eine musste jetzt noch raus, ein letzter Versuch.

“Oleg, euer Ex-Verteidigungsminister ist in Untersuchungshaft und hat einen mehrtägigen Hungerstreik hinter sich.”
“Euer Ex-Verteidigungsminister ist auch verschwunden, scheint mir. Oder irre ich? Gab es bei dem nicht auch irgendwas zu untersuchen?”

“Ach Oleg, du hast mir gefehlt.”
“Ich kann nicht erkennen, dass ihr besser regiert werdet als wir”, sagte er. “Ihr kriegt es ja nicht mal hin, eure Leo-Panzer vernünftig an die Saudis zu vertickern.”

Ich schwieg. Die Kanzlerin will’s doch so.