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Kolumne: Mit Hitler zu vier Pingbacks

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg nennt mich seit gestern nur noch Al Bundy.
“Bundy, hör mal”, hat er vorhin gesagt. “Ich muss dich was fragen.”
“Nenn mich nicht Al Bundy. Ich verkaufe keine Schuhe, mein Sohn ist zweidreiviertel und schon fast so groß wie Bud Bundy, ich habe keine Rothaarige geheiratet, und meine Füße stinken nicht. Meine Familie ist auch nicht schrecklich nett.”
“Aber du hast doch jetzt auch deine vier Touchdowns in einem Spiel geschafft”, sagte Oleg. “Weißt du das? Bist du vorbereitet, Bundy?”

Oleg meint den Wirbel um meine Geschichte Beim Führer war besetzt, er glaubt, ich hätte den einzigen Triumph meines kümmerlichen Daseins und meinen Augenblick Ruhm erhascht; nun gehe es bergab, und zwar richtig steil: Ich leide, weil ich plötzlich wieder unwichtig bin, werde zum Menschenfeind und fange an,  Freunde, die Familie und Feinde bei jeder Gelegenheit mit meinem Skype-Skandal zu langweilen. Bis zu meinem Tod sage ich mindestens einmal am Tag: “Damals, Odessa, Uliza Troizkaja, ich und eine ganze Adolfarmee, ich setze mich an den Computer und erledige diese Kerle. Vier – Pingbacks – in – einer – Woche.” Oleg sagt weiter voraus: In etwas mehr als 15 Jahren lasse ich mir, wie einst der rothaarige Tennisspieler, der ganz jung das Turnier von Wimbledon gewonnen hat, in einer Besenkammer eine kostbare Flüssigkeit stehlen und zeuge so ein Kind, das leider nicht nach der Mutter kommt, sondern mir auf das Scheußlichste ähnlich sieht.

Tricks beim Schönheitswettbewerb

Erstens finde ich mich nicht hässlich, ich würde mir durchaus ein durchschnittliches Aussehen bescheinigen.  Zweitens weiß ich nicht einmal, was Pingbacks sind. Drittens bin ich alles in allem eher bescheiden. Zum Beispiel habe ich mich nicht selbst nominiert für diesen Schönheitswettbewerb, der gerade im Internet ausgetragen wird, obwohl andere das bestimmt getan haben, ich würde sogar sagen: viele, sehr viele. Man muss nur schauen, wer nominiert ist. Ich aber habe auch noch allen verboten, die ich kenne, mich aus Liebe oder Freundschaft heimlich dort anzumelden. Ich blogge noch nicht einmal einhundert Tage. Ich kann kein Update machen, ich frage mich, warum meine Bilder so mies sind, natürlich weiß ich auch nicht, was Tracksbacks sind, obwohl es mir zwei Kluge so erklärt haben, dass es ein mittelmäßig intelligenter Orang Utan verstanden hätte. Genau deshalb habe ich verhindern wollen, dass ich beim Schönheitswettbewerb starte.

Ich will zu gern wissen, wer mich hintergangen hat.

Will Oleg mir schaden? Ist er missgünstig? Hat er Angst, dass Odessas Frauen plötzlich auf mich fliegen könnten?

Ich werde den Schönheitspreis auf keinen Fall annehmen. Die Jury soll das jetzt schon wissen. Wählt mich nicht! Ich lehne ab! Ich will keinen Freecom Network Media Player 450 WLAN. Was ist das überhaupt? Ich brauche auch keinen Freecom ToughDrive 320 GB, ich kann das nicht mal aussprechen. Was soll ich dort speichern? Meine miesen Bilder vielleicht?

Ein Treffen mit der schönen Bloggerin

“Bundy, schreibst du jetzt wegen der Enttarnung der ganzen Adolfs eigentlich schon deine Dankesrede für den Wächter-Preis, den du nie gewinnen wirst?”, fragte Oleg.
Ich gebe zu, ich habe mir für alle Fälle ein paar Namen notiert, damit ich in der Aufregung niemanden vergesse, wenn ich oben auf der Bühne stehe: Robert Basic, Stefan Niggemeier und Jens Weinreich, die immer an mich geglaubt haben. Das ist doch nicht schlimm, finde ich. Nichts wäre peinlicher als ein stotternder Blogger, der seine Helden vergessen hat und deshalb WordPress dankt.

Aber ich schwöre, ich habe mich nicht bei der Ex-Freundin gemeldet und geschrieben: “Siehste, wärst Du mal bei mir geblieben. Na, jetzt ist es zu spät. PS: Falls Du heute Abend anrufen willst – Xu Jinglei will mit mir essen gehen. Es könnte spät werden. Ach, das kannst Du nicht wissen: Xu ist Schauspielerin und Chinas populärste Bloggerin.”

Kolumne: Alles bleibt anders

ODESSA, UKRAINE Bisweilen wünsche ich mir, ich wäre ein bisschen wie mein Freund Oleg. Er ist lebenstüchtig, was auch erklärt, warum die Frauen auf ihn stehen und auf mich nur zukommen, wenn sie seine Telefonnummer brauchen. Frauen mögen Macher, die nach zehn Flaschen Bier und zehn Schnäpsen lallend in den Flur fallen und trotzdem ein Loch in den Putz bohren, auf das sich jeder Dübel freut. Ich würde, schon nach vier Flaschen Bier und vier Schnäpsen, an der Wohnungstür den Schlüssel abbrechen; bohren würde der Mann vom Notdienst. Darum betrinke ich mich, wenn ich es einrichten kann, nur zu Hause und verstecke vor dem ersten Schluck den Schlüssel vom Bad. Ich will nie wieder in der Wanne schlafen müssen. Eine Nacht mit einem Traum, in dem Uwe Barschel erscheint, reicht mir. (Es war kein Selbstmord.)

Einsatz neben Odessas Büchermarkt, Ende September 2008

Als Oleg und ich gestern zum Strand fahren wollten, stand vor meinem Auto ein blauer Hyundai. Mein Plan war: warten. Zuparker halten sich fast immer in der Nähe auf und kehren schnell zurück. “Google”, flüsterte ich vor mich hin, “ungefähr 400 Treffer für Zuparker, für Falschparker sogar ungefähr 97700, kranke Welt.” Das Flüstern beruhigte mich augenblicklich.
„Und, Kolumnist, wie geht’s weiter?”, fragte Oleg.
„Wir warten. Hast du eine bessere Idee?”
Oleg sah sich um, trat dem Hyundai gegen das rechte Vorderrad und löste die Alarmanlage aus. Dann hockte er sich zu mir, während der Hyundai jaulte, und sagte: „Jetzt können wir warten.” Vierzig Sekunden später eilte ein Mann herbei, legte demütig zwei Hände auf die Brust und fuhr davon.
“Danke, Oleg.”
“Gern geschehen.”

Kein Bock auf Kolumnistencamping

Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn Oleg und ich gemeinsam ein Haus bauen würden. Ich wäre – vor dem ersten Spatenstich – ausschließlich damit beschäftigt, Kacheln für die Küche auszusuchen. Oleg würde an Zement denken – und an den Spaten natürlich.
“Oleg, versprich mir, dass wir nie ein Haus bauen werden”, sagte ich.
“Mit dir würde ich nicht mal zelten”, sagte Oleg. “Kolumnistencamping ist nichts für mich.”

Manchmal habe ich Angst, dass mein Freund sein Revier verlieren könnte, es geschieht nämlich Seltsames. Überall in Odessa werden die Bäume beschnitten. Noch im Juli hatte ein nächtlicher Sturm die schönen und üppigen Kastanien und Akazien umgerissen und auf Autos gezerrt. Es wird auch sehr viel abgeschleppt, ich sehe neuerdings mehr schwebende Hyundai als schlafende Hunde.

Strand Arkadia in Odessa, März 2008
Strand Arkadia in Odessa, März 2008

Überdies hat das Parlament in Kiew gerade die Strafen für Verstöße im Verkehr deutlich erhöht. Im Auto ohne Freisprecheinrichtung zu telefonieren kostet bis zu 850 Griwen, also fast 120 Euro. Bislang zahlte man nur seine Telefoneinheiten. Wer eine rote Ampel übersieht, kann wählen: 510 bis 680 Griwen oder 30 bis 40 Stunden gemeinnützige Arbeit. Bislang war dieses Vergehen ein Schnäppchen, vier Schachteln Zigaretten waren teurer.

Dass die Polizisten dank der höheren Strafen auch mehr Bestechungsgeld bekommen, wie die Zeitungen vermelden, stört mich nicht. Das ist in meinen Augen Mitarbeiterbeteiligung und motiviert doch, zumal die neue Härte bereits Wirkung zeigt. Heute Morgen, Punkt halb neun, haben zwei Autofahrer die Rotphase an der Ecke Jekaterinskaja und Troizkaja nicht ignoriert. Sie nutzten die Zeit effektiv und prügelten sich. Ich halte mich als Zeuge bereit, sage aber an dieser Stelle gleich: Ich weiß nicht, wer angefangen hat.

Der Arzt im Hausmeisterkittel

“Halt mal kurz an”, sagte Oleg gestern auf dem Weg zum Strand. “Da ist irgendwas passiert.”
Wir stiegen aus und sahen auf dem Bürgersteig einen Ohnmächtigen. Sein Gesicht war schon ein bisschen gelb. Fünf Männer stellten Diagnosen. Alkohol als Ursache der Ohnmacht wurde ausgeschlossen. Man nahm sich wirklich sehr viel Zeit für den Patienten.
“Ist denn irgendjemand in dieser netten Runde Arzt?”, fragte Oleg nach einer Weile. Die Blicke der fünf Männer wanderten zu mir, wahrscheinlich weil ich als einziger eine Brille trug.
“Ach, der ist nur Kolumnist”, sagte Oleg. Es folgte ein lautes Gelächter. Oleg lieh sich mein Telefon und rief einen Arzt.

Nach zehn Minuten kam der Krankenwagen. Ein Mann brachte eine Trage und steckte sich eine Zigarette an. Er trug einen Hausmeisterkittel. Nachdem er aufgeraucht hatte, bat er Oleg und mich, den Ohnmächtigen auf die Trage zu heben. Zu dritt brachten wir ihn in den Krankenwagen. Darin war nichts: keine medizinische Technik, keine Sauerstoffanlage, keine Absaugpumpe, kein Defibrillator, nicht mal ein Verbandskasten.

“Sind Sie Arzt?”, fragte ich.
“Sehe ich so aus?”, fragte der Mann zurück und rieb sich die Hände an seinem Hausmeisterkittel, holte aus der Brusttasche eine Zigarette, drehte dem bewusstlosen Gelben den Rücken zu, rauchte und fragte, was ich in Odessa machte, erzählte, dass seine Kinder auch viel im Internet unterwegs seien und in meinem Blog kommentieren könnten, kramte einen Kugelschreiber hervor und notierte sich meine Domain auf einem alten Kassenzettel.
“Ich muss los, hat mich gefreut”, sagte er und kletterte, eine frisch entzündete Zigarette zwischen den Lippen, in seinen Krankenwagen.

“Kolumnist, bleib bei deinen Streichen”, sagte Oleg am Strand. “Und mach dir um mich keine Sorgen. Erstens werden die Bäumen in jedem Herbst geschnitten. Und wie du vielleicht gesehen hast, liegen die Äste, Zweige und Blätter jetzt auch schon eine Woche herum. Zweitens wird viel abgeschleppt, weil wahrscheinlich irgendein Politiker in der Stadt ein Abschleppunternehmen aufgemacht hat.”
“Und was ist mit den Strafen für Raser?”, fragte ich.
“Ich nehme an, dass einige Politikersöhne gerade eine Ausbildung zum Polizisten machen.”

Mascha und die Ziegenmilch

ODESSA, UKRAINE Ich erlaube mir flink den Hinweis auf meine neue Kolumne “Mascha muss in die Regierung”. Sie liegt in der Kolumnenfabrik, die mich freundlicherweise beschäftigt, zur Selbstabholung bereit. Ehe Sie jetzt zu kolumnen.de abbiegen, erhöhe ich die Verweildauer auf dieser Seite und biete einen Auszug an.

Ich bin es gewohnt, dass ich mehr kaufe, als ich will, einfach, weil ich gutmütig bin und schlecht nein sagen kann. Aber dass ich etwas gekauft habe, ohne auf dieses Unverzichtbare hingewiesen worden zu sein, ist mir neu. Plötzlich gehörte mir diese Ziegenmilch, abgefüllt in eine eineinhalb Liter große Colaflasche. Ich will Mascha nichts unterstellen, ich denke, sie hat sich mein Einverständnis geholt. Dummerweise kann ich mich nicht daran erinnern. Mehr

Odessa baut Metro

ODESSA, UKRAINE Odessa bekommt eine U-Bahn. Endlich. Also bald. In 40 Jahren. Falls ein Wunder geschieht.

Der neue Generalplan zum Stadtumbau soll im November 2008 vorgestellt werden. Der alte Plan stammt von 1989. Über den Bau einer Metro in Odessa wird seit Ende der sechziger Jahren diskutiert. Entstehen soll überdies ein Odessitisches Venedig auf 700 Hektar mit Kanälen, Vergnügungs- und Glückspielviertel, Spaßbädern, Wasserpark und Sportkomplex.

Grenzenlose Liebe

ODESSA, UKRAINE Irina Jewdokimowa aus Sankt Petersburg lebt seit drei Jahren in einer deutschen Kleinstadt. Angekommen ist sie nie. „Ich fühle mich sehr fremd hier”, erzählt sie. “Ich habe seit Beginn meiner Ehe Heimweh.” Die russische Großfamilie fehlt ihr. In Sankt Petersburg hat die Kauffrau in einer Bank gearbeitet, jetzt sitzt sie zu Hause, weil ihre Ausbildung nicht anerkannt wird. Die Chancen, Arbeit zu finden, stünden „eins zu einer Million”. Irina Jewdokimowa hat kurzes, dunkles Haar, aber kein Gesicht. Sie hat es der Kamera abgewendet.

Ausstellungseröffnung im Literaturmuseum Odessa
Ausstellungseröffnung im Literaturmuseum Odessa

„Abenteuer Ehe – Heiratsemigrantinnen gestern und heute” heißt die Wanderausstellung, die am Sonntag – als Teil der Deutschen Kulturwochen in der Ukraine – in Odessas Literaturmuseum eröffnet worden ist. Noch ein bisschen sperriger ist der Titel der Macher: Frauen in der Einen Welt – Zentrum für interkulturelle Frauenalltagsforschung und internationalen Austausch e. V. (FidEW). Bislang ist die Schau, 1998 zum ersten Mal, nur in Deutschland zu sehen gewesen. Jetzt soll sie auch in der Ukraine und später vielleicht in Russland gezeigt werden.

„Abenteuer Ehe” erzählt die Geschichte weiblicher Auswanderer von Theophanu aus Konstantinopel, die 972 nach Rom reiste, um den späteren Kaiser Otto II. zu heiraten, bis in die Gegenwart. Die Besucher sollen erkennen, dass Frauen zu allen Zeiten Heimat gegen Heirat getauscht haben, auch wenn Schlagzeilen und Fernsehreportagen bisweilen unterstellen, es handele sich um ein neues Phänomen. Der Ruf dieser Liebe, die Grenzen überwindet, ist entsprechend schlecht: Männer kaufen sich in Osteuropa und Asien eine Unterwürfige, die sie in Deutschland längst nicht mehr finden; die Frauen sind entweder Opfer und landen im Ehegefängnis oder werden als Täter gehandelt, die den Mann nur ausnehmen wollen. Oder sie gelangen als Prostituierte in die rosa beleuchteten Fleischtheken zwischen Hamburg und Rom. Dass sie sich tatsächlich verlieben und freiwillig heiraten, wird ungern wahrgenommen. „Wir wollen diese Diskriminierung reduzieren”, sagt die Soziologin Meral Akkent vom Verein mit dem langen Namen. „Wir erhoffen uns einen Aha-Effekt.”

Kriegsbräute als deutscher Exportschlager

Zwischen 1850 und 1900 suchten mehr als fünf Millionen Deutsche anderswo ihr Glück. Keineswegs nur Männer zog es in die Welt hinaus, mehr als 40 Prozent der Auswanderer waren Frauen. Wenngleich in Australien, Afrika und Mittel- und Südamerika deutsche Kolonien entstanden, lebten fortan neun von zehn Deutschen in den USA und holten Freunde, Verwandte und Nachbarn nach. Die Sehnsucht nach der Heimat war schon in dieser Zeit ein ständiger Begleiter in der Fremde.

Oftmals abgeschreckt von den selbstbewussten Amerikanerinnen mit ihrem Freiheitsdrang, ließen deutsche Männer zu Hause eine Braut suchen. Sie fanden vor allem Abenteurerinnen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA das begehrte Ziel deutscher Frauen. Sie folgten, als Amibräute nicht gerade freundlich verabschiedet, Besatzern und wurden als Kriegsbräute auch nicht gerade freundlich empfangen, weil sie den amerikanischen Frauen die siegreichen Soldaten nahmen.

Vieles, was die in der Ausstellung Porträtierten ein halbes Jahrhundert später erzählen, klingt deshalb vertraut. „Ich werde im Innern immer eine Ukrainerin bleiben”, sagt Natasha Shevchenko. Dabei ist ihre Geschichte eine der besseren. Die Frau mit dem blonden Haar und den braunen Augen besuchte eine ehemalige Schulfreundin in Deutschland, als sie ein Mann zum Bier einlud. Mit ihm wechselte sie E-Mails, bis er sie eines Tages den Verwandten vorstellte. „Du bist schön”, sagte die Oma des jungen Deutschen.

Meral Akkent
Meral Akkent vom Verein Frauen in der Einen Welt - Zentrum für interkulturelle Frauenalltagsforschung und internationalen Austausch

Andere Frauen haben nur einen Vornamen oder lassen sich erst gar nicht fotografieren. Aus Angst, Vater und Mutter könnten erfahren, wie unglücklich und traurig die Tochter in Deutschland sei, hätten sie auf ein Stück Anonymität bestanden, sagt Meral Akkent.

Ewige Liebe mit dem Rucksacktouristen

Die Heiratsemigration, meint die Soziologin, habe sich über die Jahrhunderte nicht verändert. Damals wie heute suchten Auswanderinnen wirtschaftliche und politische Sicherheit, hätten sich verliebt oder seien einfach abenteuerlustig. „Frauen lassen sich auf Abenteuer übrigens eher ein als Männer”, sagt Akkent. Man muss das erfragen, weil die Männer nur passive Figuren sind in dieser Schau. Über sie erfährt der Besucher alles aus zweiter Hand: von verliebten, verheirateten und verbitterten Frauen. Sie selbst kommen nicht zu Wort.

Die Ausstellung – das ist ihre Leistung – vergisst niemanden. Sie lässt Dalisay Braun erzählen, die für Konrad die Philippinen verließ und bald erfuhr, dass sie seine sechste Frau ist. Besser erging es ihrer Landsfrau Ana, in die sich Mitte der siebziger Jahre ein deutscher Rucksacktourist verliebte. Die Krankenschwester aus Manila wagte erst 1980 die Heirat. Heute sagt sie: „Er war meine erste Liebe und mein erster Mann…bis heute.”

Das große Leiden der Porträtierten ist die Einsamkeit. Sie vermissen die Freunde, die Familie und die Geborgenheit, die sie in der Heimat erlebt haben. Die Macher der Schau deuten zumindest an, dass sich Gesellschaft und Staat mehr kümmern müssten. “Es gibt keine adäquate soziale Hilfe für diese Frauen in Deutschland”, sagt Akkent. “Sprachkurse allein reichen nicht.”

Die Ausstellung schenkt dem abstrakten Thema der Emigration Gesichter und liefert so einprägsame wie intime und oft bestürzende Zitate. Zugleich jedoch bleibt sie, sich den Einzelschicksalen ganz hingebend, an der Oberfläche, weil die Lebensberichte, so ehrlich sie formuliert werden, ohne die Zügel der Wissenschaft davon galoppieren. Am Ende klingen sie erschreckend austauschbar. So bleibt auch offen, ob die Ukrainerin Natasha Shevchenko oder Irina Jewdokimowa aus Sankt Petersburg stellvertretend für viele andere Frauen stehen. Man darf das vermuten, erfährt es allerdings nicht.

NicoleWas bedeutet es etwa, wenn Nicole Borisyuk, die als Deutsche einen Ukrainer geheiratet hat und in Odessa lebt, erzählt, sie habe nie Heimweh? Ist die umgekehrte Auswanderung – aus dem Westen in den Osten – leichter? Und wenn das so ist, woran liegt das? Hat der Deutsche weniger Bindung an die Heimat? Ist er, als Mitglied einer modernen Gesellschaft, die Flexibilität verlangt, an Aufbrüche und Abschiede gewöhnt? Oder kann er, wohlhabend und selbstbewusst, mehr Rechte verlangen und freier leben? Mit solchen Fragen lässt einen die Schau allein.

„Abenteuer Ehe – Heiratsmigrantinnen gestern und heute” (deutsch und russisch), Literaturmuseum Odessa, Lanzheronskaya 2, 5. bis 30. Oktober, Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr

Alles hat seinen Sinn

Odessas Strand, Mitte August 2008
Odessas Strand, Mitte August 2008
Odessas Strand, Anfang Oktober
Odessas Strand, Anfang Oktober 2008

Wenn jetzt die Sonne scheint, dann ist das nicht mehr selbstverständlich,
Und du nimmst jeden Strahl einzeln und dankbar hin.
Nichts ist mehr so wie‘s war, und du kannst spür‘n: Alles ist endlich.
Auch wenn du‘s nicht verstehst, ahnst du doch: Es hat seinen Sinn.
Du brauchst nicht mehr über die Gehsteigzuparker zu meckern:
Die Autoschickimickis sind schon längst auf und davon
Mit ihr‘n Pelzdamen, deren Hunde die Wege vollkleckern –
Ich liebe das Ende der Saison.

Reinhard Mey: “Ich liebe das Ende der Saison”, aus: “Alles geht!”, 1992

Abschied von Mick

ODESSA, UKRAINE Seit heute habe ich einen Internetzugang zu Hause – ich nehme also Abschied von einigen Kneipen, die mir morgens, mittags und abends als Arbeitsplatz gedient haben. Am meisten tut es mir leid um Mick O’Neill’s Irish Pub in der Deribasowskaja. Ich werde in Zukunft häufiger dieses Video von jaytyler1973 anschauen, wenn mich die Sehnsucht überkommt. Achten Sie vor allem auf den radikalen Kameraschwenk, den jaytyler1973 bei ungefähr einer Minute wagt. Ist nichts für schwache Nerven.

[youtube]http://de.youtube.com/watch?v=PsrajRcO0rE[/youtube]

Ich muss jetzt ein bisschen Geld verdienen. Morgen erscheint wieder ein langes Stück. Ich verspreche es.

Blick auf Mick (rechts in Höhe der Bäume)
Blick auf Mick (rechts in Höhe der Bäume)
Blick auf Mick (2)
Blick auf Mick (2)
Micks Blick

Kolumne: Oleg und die Bayernwahl

ODESSA, UKRAINE Ich verstehe meinen Freund Oleg nicht mehr. Seit Wochen verfolgt er den bayerischen Wahlkampf, er liest jede Meldung, kennt alle Umfragen und weiß sogar, wie der Spitzenkandidat der FDP heißt. Ich weiß gerade noch, dass der sozialdemokratische Herausforderer nicht Magnet heißt. Oleg hat auch die Programme der Parteien studiert und für jede mögliche Regierung ein Kabinett gebildet. Jeder kriegt mindestens ein Ministerium: Frauen, linker Flügel, rechter Flügel, Gewerkschafter, Katholiken, Protestanten, Oberpfalz, Niederbayern. Damit geräuschloser regiert werden kann, hat er selbst dem Querulanten, den es in jeder Partei gibt, ein Pöstchen verschafft. Bei Oleg wird er Landtagspräsident.
Seit einer Woche klingelt jeden Abend um kurz nach zehn mein Telefon. Oleg fragt: „Was meinst du, Kolumnist: 50 plus x oder weniger für die CSU? Weißt du was, was ich nicht weiß?”

Scharf auf die Wählerwanderung

Bis vor einer Stunde hat Oleg geglaubt, wir würden am Sonntag zunächst gemeinsam die erste Prognose in der ARD gucken und danach den Rest genießen: Live-Schalte in die Parteizentralen, Jubel, Tränen, Durchhalteparolen, erste, zweite und dritte Hochrechnung, Rücktritte, Koalitionsgerüchte und vorläufiges amtliches Endergebnis gegen Mitternacht.

In Odessa aber habe ich nicht einmal einen Fernseher. Wie soll ich ein deutsches Programm empfangen? Ich glaube auch nicht, dass irgendeine Kneipe auf einer Großleinwand zufällig die Wahl in Bayern zeigt.

„Es wird nichts, Oleg.”
„Schade, ich hatte mich schon so auf die Elefantenrunde gefreut.”
„Tut mir leid. Du warst ja auch so scharf auf die Wählerwanderung.”
„Erzähl mir jetzt wenigstens von Bayern, eurem herrlichen Freistaat”, sagte er.

Unterwegs im Alkoholfrei-Staat

Ich habe München im Oktober geschildert und Oleg den warmen Wind spüren lassen, der manchmal aus Italien über die Alpen herüberweht und die Schönen auf der Maximilianstraße noch ein bisschen schöner macht, ich habe ihn durch den Englischen Garten geführt und ihm auf dem Viktualienmarkt eine Leberkässemmel spendiert. „München hat übrigens mehr Regentage im Jahr als Hamburg”, habe ich gesagt. „Wusstest du das? In Hamburg schlägt das Wetter nur schneller um.” Am Abend sind wir ins Staatstheater gegangen. Das Oktoberfest und das Hofbräuhaus haben wir nicht mehr geschafft. Mein Bayern für Oleg war ein Alkoholfrei-Staat.

Oleg öffnete die Augen. „Du würdest Günther Beckstein wählen”, sagte er.
„Fragst du oder weißt du?”
„Du bist doch so ein Ordnungsfanatiker. Muss doch immer alles sauber sein in deiner Welt. Du hättest gar keine Wahl. Beckstein wäre dein Mann.”

Ich habe Oleg erzählt, wie mir Günther Beckstein vor fast einem Jahr, am Tag der Deutschen Einheit in Schwerin, ein Interview gegeben hat, es war kein richtiges Interview, er hatte den Mikrofonhaltern vom Fernsehen schon alles erzählt, als ich mich ihm in den Weg stellte. Beckstein kam vom Drachenbootrennen der Ministerpräsidenten, war verschwitzt und schnaufte noch ein bisschen. Ich weiß nicht mehr, was ich in meinen Block gekritzelt habe, ich erinnere mich aber, dass ich Beckstein mochte. Er gab sich nicht betont volksnah und hatte keine vorbereiteten Antworten im Mund, er besaß Selbstironie und nahm sich alle Zeit für diesen Volontär einer mecklenburgischen Zeitung, der lauter seltsame Fragen stellte, aber tat, als sei er der Parlamentskorrespondent der Süddeutschen und immer wieder mit dem Putsch gegen Edmund Stoiber kam. Der Doktor der Juristerei – Promotionsthema: “Der Gewissenstäter im Straf- und Strafprozessrecht” – hätte über mich lachen können. Er lachte lieber über sich selbst. Beckstein war anständig. Sechs Tage später wurde er Landesvater.

„Er war der Sympathischste von allen Ministerpräsidenten”, sagte ich zu Oleg
„Und wer war am unsympathischsten?”
„Das war eindeutig…nein, das kann ich nicht verraten. Der Mann hört sowieso bald auf.”
„Nun sag schon.”
„Du kennst ihn nicht”, sagte ich und flüsterte einen Namen.
„Kenn ich nicht. Sag noch mal. Wie heißt der?”
Ich flüsterte abermals.
„Nie gehört.”
„Geht vielen so”, sagte ich und schwieg.

Der Kolumnistenkumpel als Retter

Ich dachte an Günther Beckstein vor einem Jahr und dann an die Schlagzeilen der vergangenen Wochen, an die Häme für den Wahlkämpfer, an diese Fotos. Manchmal war in den Zeitungen das Bierglas größer als Beckstein. Manchmal spiegelte sich in den Biergläsern mein Gesicht. Ich hätte Beckstein damals in Schwerin warnen müssen. Ich hab’s versaut.
„Ich hab’s”, rief Oleg und riss mich aus den Gedanken. „Frag Axel!”
„Wie bitte?”
Axel Scherm muss uns helfen. Er ist dein Kolumnistenkumpel.”

Wenn ich Oleg richtig verstanden habe, sollen wir Axel zehn Minuten vor der ersten Prognose über Skype anrufen. Wir werden schon erwartet. Herr Scherm hat am Nachmittag eine Kamera an seinen Computer angeschlossen und auf den Fernseher gerichtet. Dank einiger Testanrufe anderer Kolumnisten konnte er in den folgenden eineinhalb bis zwei Stunden das Übertragungsbild Stück für Stück optimieren. Schon seit dem Mittagessen murmelt er unaufhörlich: „Ich darf nicht vergessen: Fernseher um halb acht ganz laut drehen! Oleg will die Elefanten gut verstehen.” Das ist, in groben Zügen, der Plan.

„Meinst du, das klappt, Kolumnist?”
„Ich frag Axel.”
„Du hast was gut bei mir.”

(Diese Kolumne enthält keine Wahlempfehlung.)

Oleg, Axel und ich

ODESSA, UKRAINE: Nach all den Unannehmlichkeiten wegen dieses hübschen Models, dessen Erzeuger ich mein Leben lang nicht vergessen werde, gestatte ich mir den dezenten Hinweis auf einen Text. Auf Kolumnen.de lege ich Oleg um. Und gleich nebenan finden Sie eine – wie immer – ausgezeichnete Kolumne von Axel Scherm über den Gitarrenschlecker Jimi Hendrix. Ich weiß nicht, wie es meinem geschätzten Kollegen geht, aber ich brauche Streicheleinheiten. Danke.