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Kolumne: Oleg und die Gänsefüßchen

ODESSA, UKRAINE Manchmal ist mein Freund Oleg ein bisschen arg begriffsstutzig. Woran das liegt, weiß ich nicht, wahrscheinlich bin ich selbst nicht der Hellste, sonst wüsste ich es bestimmt. Gestern Abend hat er mich wieder besucht.
„Kommst du, um dich zu entschuldigen?”, fragte ich.
„Nee, wieso?”
„Ich habe Sonnenbrand”, sagte ich.
„Es gibt Sonnencreme und Sonnenschirme.”
„Sonnenbrand kann sehr unangenehm sein.”
„Und was kann ich dafür?”, fragte er. „Gib mir mal bitte einen Teller Pelmeni.”

Gesundheitspfad am Strand

Ich erinnere mich gut. Am vergangenen Donnerstag hatte ich beschlossen, übers Wochenende wegzufahren. Ich würde am Montagmorgen in einer Pension mit Blick aufs Meer aufwachen. Montag war Feiertag in der Ukraine; offiziell, um genau zu sein, war der Feiertag zu Ehren der Verfassung bereits am Sonntag. Aber wenn in der Ukraine ein Feiertag aufs Wochenende fällt, ist der Montag grundsätzlich frei. Ich hatte mir am Donnerstagmorgen eine Reiseroute ausgedruckt, im Internet eine Pension gefunden und das Auto getankt. Dann kam Oleg zum Abendessen vorbei.
„Schon was vor am Wochenende, Kolumnist?”, fragte er und schaufelte einen Löffel Pelmeni in seinen Mund.
„Ich verreise.”
„Würd’ ich nicht machen”, sagte Oleg und kaute. „Die Pelmeni sind nicht schlecht, kannst du öfter kochen.”
„Mein Auto ist doch wieder legal.”
„Weiß ich, stand doch im Blog, dass du mit der Kolumnistenkarre nach Kutschurgan gekutscht hast. Hattest ganz schön die Hosen voll, oder? Ich würde trotzdem nicht fahren.”
„Das Auto ist legal!”
„Das Wetter wird aber beschissen”, sagte Oleg.
„Ist denn auf den ukrainischen Wetterbericht Verlass?”, fragte ich.
„Auf den ukrainischen Wetterbericht ist genauso viel Verlass wie auf alles Ukrainische. Aber das ist nicht der Punkt.”
„Was ist denn der Punkt?”
„Am Tag der ,Verfassung’”, sagte Oleg und zeichnete mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände unsichtbare Gänsefüßchen in die Luft, „am Tag der ,Verfassung’, übrigens auch am Tag davor und danach, ist das Wetter immer mies. Meistens regnet es, weil der Himmel weint.”
„Wieso sagst du eigentlich ,Verfassung’?”, fragte ich und setzte Anführungsstriche, wie es Oleg getan hatte.
„Ich versteh nicht.”
„Wieso sagst du ,Verfassung’ und nicht Verfassung?”
„Sehr witzig, hat die Ukraine eine Verfassung?”
„Du meinst also, ich soll zu Hause bleiben?”
„Drei Tage Regen, Sonnabend, Sonntag, Montag, kannst dich auf mich verlassen.”

Oleg, so viel weiß ich jetzt, ist kein Verfassungspatriot im engeren Sinne. Ich bin zwar auch keiner, aber ich kenne zumindest einige Deutsche, die es sind, also, ich kenne sie nicht direkt persönlich, eingefleischte Verfassungspatrioten wie Jürgen Habermas und Richard von Weizsäcker zählen eher nicht zu meinem Umgang, was vermutlich nicht nur am Altersunterschied liegt, sondern – siehe oben – auch ein bisschen an meinem Gehirnnebel. Ich hänge halt lieber mit Typen wie Oleg rum. In gewisser Weise verstehe ich ihn. Man braucht sich nur das Hickhack um die ukrainische Präsidentschaftswahl anzuschauen. Zunächst hatten 401 der 450 der Abgeordneten des Parlaments für den 25. Oktober als Wahltag votiert und sich auf die Verfassung berufen, um die Abstimmung vorzuziehen. Daraufhin klagte Staatsoberhaupt Viktor Juschtschenko vor dem Verfassungsgericht – und worauf berief er sich wohl? Genau. Er bekam Recht.

In der Verfassung steht, dass die Wahl am letzten Sonntag des fünften Amtsjahres des Präsidenten stattfinden muss. Allein diese Formulierung ist für mich intellektuell gar nicht fassbar. Als sei das nicht kompliziert genug, gibt es zum einen „unterschiedliche Interpretationen, auf welchen Termin dieser letzte Sonntag fällt”.  Zum anderen „ist umstritten, ob die Verfassung in ihrer jetzigen Form bereits anzuwenden ist, da die Wahlgesetzgebung während der Amtszeit des jetzigen Präsidenten geändert wurde”.
Nun wird wahrscheinlich – oder vielleicht, was weiß denn ich – am 17. Januar gewählt. Wer übrigens glaubt, die Parlamentarier hätten sich wegen des mutmaßlich schöneren Wetters für den Oktober und gegen den Januar entschieden, liegt falsch.

„Brauchst du Sonnencreme?”, fragte Oleg und füllte sich Pelmeni auf.
„Du hast gesagt, am Tag der Verfassung, am Tag davor und am Tag danach werde es regnen.”
Oleg schwieg, zuckte mit den Achseln und schmatzte.
„Du hast gesagt, der Himmel weine wegen der Verfassung.”
„Worauf willst du hinaus?”
„Es hat nicht geregnet am Verfassungswochenende, nicht ein einziges Mal, es war die ganze Zeit blauer Himmel, und das blöde Verfassungswochenende hat mir einen schönen Sonnenbrand verpasst”, sagte ich und fing auf einmal an zu schreien. „Ich hätte am Tag der Verfassung in einer wunderbaren Pension mit Meerblick aufwachen können, wie ich es geplant hatte – bis du kamst mit deinem Verfassungsdauerwolkenbruch.” Ich schrie sehr, sehr laut. „Weißt du, wie ich den Tag der Verfassung verbracht habe? Morgens bin ich zum Großeinkauf in den Supermarkt gefahren, nachmittags an den Strand, wo es so heiß war, dass ich jeder Fliege dankbar war, die ein bisschen Wind gemacht hat. Der Himmel hat nicht geweint, du Poetrologe.”
„Verfassung, Verfassung, Verfassung, ich höre die ganze Zeit Verfassung”, schrie Oleg.
„Ja und?”, schrie ich.
„Wovon redest du?”, fragte Oleg. Er schrie noch lauter, sein ganzes Gesicht war rot, es glühte wie mein Rücken. „Welche Verfassung?”

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Schlag den Staat

Nachgestellte Szene (fehlerhaft)

Die Handlung und die handelnden Personen dieser Geschichte sind fast frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Und die Überschrift ist auch fast geklaut – von dem hier nämlich.

ODESSA/KUTSCHURGAN, UKRAINE Zum Glück habe ich den Türöffner auf zwei Beinen, ich wäre ohne ihn verloren. Der Mann, ein ziemlich hoher ukrainischer Staatsdiener, hat in den vergangenen zwei Wochen viel telefoniert, um herauszufinden, wie ich mein Auto wieder legalisiere. Es ist illegal in Odessa. Ausländer, die ihr Auto nicht registrieren lassen, müssen es alle zwei Monate aus dem Land schaffen. In der Region Odessa genügt dafür eine Fahrt zur moldawischen Grenze und zurück. Ich habe es leider nie getan. Das Auto ist seit Mai 2008 am Schwarzen Meer. Recherchen, soweit sie in einem Land wie der Ukraine zumal für einen Ausländer überhaupt möglich sind, ergeben, dass ich mit einer Strafe zwischen 800 und 2000 Euro rechnen muss. Theoretisch könnte der Wagen auch beschlagnahmt werden. Genaues weiß auch mein Türöffner nicht. Es hänge möglicherweise vom Zöllner ab, der kontrolliere, sagt er.

Da ich nichts riskieren will, organisiert mein Beamtenfreund eines Nachmittags eine Konsultation in einer Behörde. Als wir dort ankommen, telefoniert er und sagt: „Mach mal bitte die Tür auf.” Eine Minute später öffnet ein Uniformierter. Wir laufen durch einen langen Flur. Links und rechts in den Büros wird sich offenkundig auch nicht unbedingt überarbeitet. Die Schreibtische sind leer. Nach hundert Metern schließt der Uniformierte eine Tür auf, und schon sind wir wieder an der frischen Luft – bloß auf der anderen Seite des Gebäudes. Irgendwann stehen wir vor einem anderen Beamten. Mein zweibeiniger Türöffner erklärt die Lage. Der Beamte schaut, ob mein Auto im Computer eingetragen ist, und findet nichts. Warum das so ist, weiß er nicht. Vielleicht bin ich vor 13 Monaten gerade noch eingereist, bevor an den ukrainischen Grenzen ein System eingeführt worden ist, in dem alle Autos gespeichert sind. Es wird eine Weile diskutiert, das Risiko kalkuliert und schließlich entschieden, es könne ohne Angst vor einer Beschlagnahme zur Grenze gefahren werden.
„Wann?”, frage ich.
„Jetzt”, sagen beide Männer gleichzeitig.

Fast hätte ich gar nicht fahren können. Am Mittag ist das Auto in der Garage nicht angesprungen. Die Batterie war tot. Ein anderer Bekannter, diesmal kein hoher Staatsdiener, kam vorbei, baute seine Batterie aus und wiederbelebte meinen Koma-Skoda. Als ich erzählte, ich hätte den Motor das letzte Mal im November oder Dezember gestartet, genau wisse ich das nicht mehr, schüttelte er nur den Kopf.

Mein Türöffner reicht mir seine Visitenkarte, die ihn als hohen Beamten ausweist, und sagt, ich solle sie in meinen Pass legen und anrufen, falls die Zöllner Probleme machten. Dann verabschiede ich mich und fahre mit meiner Begleiterin in Richtung Chişinău (Kischinau) zur moldawischen Grenze nach Kutschurgan.

Gaischnik bei der Arbeit (Archivbild aus Odessa)

Wir haben Odessa kaum verlassen, da werden wir an einem Kreisel von zwei Gaischniki angehalten, wie die Verkehrspolizisten der Staatlichen Autoinspektion (GAI, ukrainisch offiziell: DAI) vom Volk genannt werden.  Ich habe sie bereits vor mehr als einem Jahr kennen gelernt, als ich von Deutschland nach Odessa fuhr. Gaischniki sind berüchtigte Vergehenerfinder und Handaufhalter. Wenn sie eine Strafe aussprechen wollen, entdecken sie auch einen Grund – oder suchen sich einfach einen Raser wie damals bei mir. Die Berliner Zeitung schrieb einmal:

Ebenso zutreffend wäre es indes, die GAI als landesweites System staatlicher Willkür zu bezeichnen. In ihrer sowjetischen Blütezeit betrieb die GAI an jeder Kreuzung einen mit mindestens zwei Beamten besetzten Posten, an dem „slatkije bulotschki” verdient wurden, als „süße Brötchen” bezeichnete Bestechungsgelder. Wie alle sowjetischen Beamten arbeiteten die GAIschniki für einen Hungerlohn. Dass der Beruf des Verkehrspolizisten dennoch begehrt war und für einen Platz an einem GAI-Posten viel Geld floss, ist damit zu erklären, dass die Chancen der Beamten, sich ein Zubrot zu verdienen, fast unbegrenzt waren.

So nahm sich ein Verkehrspolizist das Recht, jeden Pkw-Fahrer anzuhalten und wegen tatsächlicher oder angeblicher Verstöße gegen die Verkehrsordnung zur Aufbesserung seines Gehalts zu zwingen. Die GAI hieß deshalb im Volksmund DAI! – „Gib!”. Und mancher GAIschnik kam auf diese Weise zu einem Eigenheim, wenigstens aber zu einer Datsche.

Nachdem sie Pässe und Führerschein studiert haben, entdecken die Gaischniki im Fahrzeugschein ein Problem: Mein TÜV ist schon im Oktober 2008 abgelaufen. Die Polizisten verwechseln den TÜV mit der Abgasuntersuchung, was aber nicht weiter nicht schlimm ist. Denn die ist auch abgelaufen. Sie schreien und drohen, sie würden das Auto beschlagnahmen. Meine Begleiterin zeigt ihnen das Dokument der deutschen Botschaft in Kiew, das ihr Schikanekontrollen ersparen soll, wie sie für Ausländer in der Ukraine üblich sind. Man solle ihr „Unterstützung, besonders in Fragen des Reisens, des Straßenverkehrs und der Grenzübertritte, gewähren”, heißt es. Die beiden Gaischniki schauen es an, lesen den ukrainischen Text, halten das Blatt gegen die Sonne, um die Echtheit des Stempels zu prüfen, und schauen danach auf mich. Es schmeichelt mir durchaus, dass sie sich vorstellen können, ich hätte das Botschaftsschreiben gefälscht.

Wir rufen ein paar Bekannte an, die in Odessa in hohen Positionen arbeiten und reichen das Telefon an einen der Polizisten weiter, vielleicht beeindruckt das ja. Es beeindruckt überhaupt nicht.
„Wären Sie eine echte Odessitin, wüssten Sie, was zu tun ist”, sagt der Gaischnik zu meiner Begleiterin und Verhandlungsführerin.
„Ich bin zwar keine echte Odessitin, aber ich verstehe trotzdem, was Sie meinen. Endlich sagen Sie’s.”
„Dann komm mal mit.”

Meine Begleiterin holt 100 Griwna, umgerechnet fast zehn Euro, aus dem Auto und geht zum Dienstwagen der Beamten. Der Gaischnik lehnt das Honorar allerdings ab und sagt, solch geringe Beträge nehme er nicht an, davon fühle er sich persönlich beleidigt. Genau so sagt er es: „Sie beleidigen mich persönlich.” Dann wünscht er eine „glückliche Reise”.

Ein Anruf bei der Werkstatt, in der ich mein Auto schon einmal reparieren lassen habe, ergibt, dass wir uns nicht fürchten müssen vor weiteren Kontrollen. Die Abgasuntersuchung sei eine deutsche Vorschrift, folglich gelte sie auch nur in Deutschland, sagt der Chef. „Aber wenn es dich beruhigt, kannst du eine ukrainische Untersuchung bekommen. Die brauchst du zwar nicht, aber vielleicht fühlst du dich dann besser.”

Erst vor einer Woche war ich bei ihm gewesen, weil der Türöffner meinte, ich solle mir zur Sicherheit für die Fahrt zu Grenze einen Schein ausstellen lassen, dass mein Auto ein Jahr kaputt gewesen sei. Der Werkstatt-Chef hatte daraufhin einen Fotografen angerufen, der bei ihm Kunde ist und einen Verkehrspolizisten kennt. Der Fotograf telefonierte, rief zehn Minuten später zurück und bestätigte, dass es Probleme geben könne und der Polizistenfreund von einer Fahrt nach Kutschurgan dringend abrate, so lange man dort keinen zuverlässigen Zöllner kenne.

Den Rest der Strecke bis zur Grenze, knapp 75 Kilometer insgesamt, schaffen wir ohne Probleme. Die Straße ist durchaus passabel, kaum Schlaglöcher, nur ein paar Wellen, links und rechts Weizenfelder, hier und dort ein paar Kühe und Ziegen. Viele Leute in dieser Region, einst Heimat deutscher Auswanderer, arbeiten in Odessa. Manchmal ist eine Viertelstunde lang kein Mensch zu sehen. Nicht anders sieht Vorpommern aus.

Vor der Grenze tauschen wir die Plätze, ich setze mich nach hinten und überlasse meiner Begleiterin das Steuer. Wir hoffen, dass die Zöllner bei einer Frau ein bisschen weniger auf das Auto schauen – und ein bisschen mehr auf – auf irgendetwas anderes. Zwei Kinder haben wir zur Sicherheit auch dabei. Im Journalismus gibt es den schönen Satz: „Tiere und Kinder gehen immer.” Gemeint ist: Geschichten über Tiere und Kinder lesen die Leute gern. Für uns sollen die Kinder die Zöllner nur etwas milde stimmen, falls es eng wird. Die Kleine wird angewiesen, auf Kommando ganz theatralisch zu weinen. Ich lese auf ihrem sechs Wochen alten Gesicht, dass sie verstanden hat und mitspielen wird.

Während die Pässe kontrolliert werden, streicht ein Zöllner ums Auto, entdeckt die abgelaufene Plakette am Kennzeichen und beginnt mit meiner Begleiterin ein Gespräch, lässt sich dann aber doch beschwichtigen. Links, in der anderen Kontrollspur, ist gerade ein moldawischer Rollerfahrer angekommen. Er trägt weder Helm noch Hemd. Eine Minute später ist er schon wieder weg. Auch wir dürfen ausreisen. Die Kleine braucht nicht zu weinen, tut es aber trotzdem.

Der moldawische Zöllner fragt, wohin wir fahren würden. Meine Begleiterin erzählt, wir wollten Freunde in Chişinău besuchen. Der Blick des Mannes sagt: Ja ja, deine Mudder.

Text zum Mitsingen

Er schickt uns zum Registrieren. Während abermals die Pässe durchgeschaut werden, schreit die Kleine plötzlich, obwohl ich nichts angewiesen habe. Als alles erledigt ist, fragt meine Begleiterin den Zöllner, ob er ein Café zum Verschnaufen empfehlen könne. Er glaubt natürlich nicht, dass wir Moldawien bereisen wollen, wir sind schließlich nicht die ersten Ausländer, die bei ihm ihr Auto wieder legal machen. Er sagt nur: „Kehren Sie besser gleich um. Hier gibt’s sowieso nichts.” Wir wenden noch vor dem letzten Kontrollpunkt und treffen gleich wieder auf den Moldawier, dem wir gerade noch etwas von Freunden in Chişinău erzählt haben. Er lächelt nicht, er grinst. Der zweibeinige Türöffner ruft an und fragt, wo wir steckten. Ich kann ihn beruhigen. Wir haben seine Visitenkarte niemandem zeigen müssen. Er ist darüber nicht unglücklich.

Die Ukrainer nehmen uns wieder auf. Die letzte Passkontrolle geschieht ohne Probleme. Während die Begleiterin die Emigrationskarten ausfüllt, wechsele ich der Kleinen die Windel. Wohl deshalb hat sie bei den Moldawiern so wild geschrien.

Erleichtert, geradezu glücklich, die Strafe gespart zu haben, darf das Auto in die Waschstraße. Dort ist es zuletzt vor 14, 15 oder 16 Monaten in Deutschland gewesen – so genau weiß ich auch das nicht mehr.

Kolumne: Mein Sohn und der Sandalismus

ODESSA, UKRAINE Ich habe die Kindergärtnerin meines Sohnes sehr, sehr glücklich gemacht. Um zu verstehen, wie viel mir das bedeutet, sollte ich vielleicht gestehen, dass sie meinetwegen gewöhnlich sehr, sehr unglücklich ist. Zuletzt haben ihr alle Schuhe meines Sohnes missfallen, sie fand sie mal zu klein, mal zu groß, dann zu warm oder zu ausgeleiert. Zwei Wochen lang beklagte sie sich bei mir. Ich stopfte Watte in die zu großen Blauen meines Sohnes und band die zu kleinen Braunen etwas lockerer. Doch dann hatte sie endgültig genug von meiner Schuhmelei, gab mir ihre Rabattkarte und schickte mich in das dazu passende Geschäft. Ich kann nicht sagen, dass ich erfreut gewesen wäre, es war eher so, dass ich gehorchte. Jeder Vater, ganz gleich welcher Nationalität, Religion oder sozialen Schicht, wird vor der Kindergärtnerin seines Sohnes zum Zwerg. Nachdem die Verkäuferin den Kolumnistenkinderfuß vermessen hatte, kaufte ich schöne, nicht gerade billige Sandalen und brachte meinen Sohn am nächsten Morgen mit einem beschwingten Gefühl in den Kindergarten.

Am Nachmittag hätte mich die Erzieherin fast erwürgt. Sie sagte, die Sandalen seien nicht nur viel zu groß, sondern auch viel zu schwer. Als ich Zwergenpapa, mich verteidigend, einwarf, wir seien in dem Laden gewesen, den sie mir empfohlen habe, schüttelte sie ihren Kindergärtnerinnenkopf und schwor, sie werde sich bei der Verkäuferin beschweren. Dann zeigte sie auf alle Kinderfüße, die gerade herumliefen, und sagte: „Sehen Sie, solche Schuhe müssen Sie kaufen! Solche, sehen Sie? Oder solche, die sind perfekt.”
„Und wo?”, fragte ich.
„Auf dem Priwos.”

Zwischen Irrgarten und Irrglauben

Dazu muss man wissen, dass Odessiten, wann immer man sie fragt, wo es etwas zu kaufen gebe, einen immer zuerst zum Priwos schicken, auf den Riesenmarkt in der Nähe des Bahnhofs. Dort braucht man ungefähr einen halben Tag, um drei Tomaten, ein Kilogramm Kartoffeln und ein paar Socken zu kaufen, weil man zuerst in diesem Irrgarten die Orientierung verliert und danach dem Irrglauben verfällt, Schnäppchen zu finden, in diesem konkreten Fall: besonders günstige Tomaten, Kartoffeln und Socken. Und derweil beginnen schon die Ohren zu schmerzen, weil die Marktfrauen pausenlos brüllen – je älter, umso lauter – und mit jedem zweiten Kunden in Streit geraten, wenn nicht gerade halbnackte Männer rumpelnde Handwagen durch die engsten Gänge schieben und sich mit dem Ruf „Осторожно! Ноги!”* den Weg freikrakeelen.

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(* „Vorsichtig! Füße!”)

Der Glaube der Odessiten an diese Marktwirtschaft ist durch nicht zu erschüttern. Neulich war die Dusche in meiner Wohnung undicht. Das Wasser sickerte unten hinaus und überschwemmte die Fliesen. Ich rief den Klempner, der eigentlich Elektroingenieur ist und die Dusche erst im März repariert hatte. Woher ich weiß, dass er eigentlich Elektromonteur ist? Nun, ich kenne ihn schon länger. Er war ein paar Tage vor Silvester 2008 in meiner Wohnung, um die Heizung zu reparieren. Zunächst hatte ich die Vermieterin angerufen, die wiederum ihren Sohn anrief, der dann aber nur kurz vorbeischaute, weil er 40 Minuten später seinen Zug in den Skiurlaub nach Slowenien besteigen musste. Wenigstens brachte er einen Mann mit, der nicht auf dem Weg in den Skiurlaub war: jenen Elektromonteur, der später mein Klempner werden sollte. Seitdem rufe ich ihn an, wenn ich Probleme habe in der Wohnung. Seine Visitenkarte ist die einzige, die am Kühlschrank klebt. Ich kenne auch keinen anderen Klempner oder Elektromonteur in Odessa.

Mein Klempner kam am nächsten Tag, sagte, er wisse schon, warum die Dusche diesmal kaputt sei, und brauche sich deshalb den Schaden gar nicht anzuschauen, er habe auch schon mit der Vermieterin telefoniert, dann pumpte er sich 65 Griwna von mir, sechs Euro umgerechnet, und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich fahre jetzt zum Basar, bin in eineinhalb Stunden zurück.” Zweieinhalb Stunden später klopfte er, schloss sich mit einer kleinen Tüte, aber ohne Werkzeug im Bad ein und kam nach einer 25 Minuten wieder heraus. Als Nachweis seiner Klempnerkunst ließ er den alten Abfluss vor der Toilette zurück. Dann verschwand er, um sich, wie er sagte, von meiner Vermieterin seinen Lohn zu holen, von der ich mir jetzt noch die 65 Griwna für den neuen Priwosabfluss holen muss. Der ist wirklich schick. Nur leider kann die Dusche noch immer nicht das Wasser halten.

Pumps für Einbeiner

Gestern war ich auf dem Priwos, um abermals Sandalen zu kaufen. Beim Anprobieren saß mein Sohn auf Pappkartons und schaute, wie eine obdachlose und offenbar alleinerziehende Katzenmutter ihr Baby stillte. Am Stand gegenüber lagen einzelne Hochhackige. Als ich die Verkäuferin fragte, ob sie davon leben könne, ob es also viele modebewusste Einbeinige in Odessa gebe, lachte sie laut und sagte: „Sie sind bestimmt Deutscher. Natürlich habe ich unterm Tisch auch den zweiten.  Ich will bloß nicht bestohlen werden.” In diesem Augenblick wäre ich vor Scham über meine Blödheit gern von einem dieser Handwagen überrollt worden. Ich überließ dann meinem Sohn die Wahl der Sandalen.

Die Sprache des Fußvolks

„Das sind die richtigen, endlich, absolut perfekt”, rief die Kindergärtnerin am nächsten Morgen und hätte mich beinahe umarmt. Bis zum Nachmittag hatte sie ein bisschen Deutsch gelernt, vielleicht sprach sie auch bloß Shoesperanto mit mir, so eine internationale Plansprache des Fußvolks, sie rief jedenfalls dreimal: „Suuuper-duuuper!” Mein Sohn strahlte.

Ein paar Deutsche, die in Odessa leben, haben mir bestätigt, dass die Sandalen unmöglich perfekt sein können, wenn der große Onkel vorne rausguckt und beim Gehen im Staub popelt. Aber gut, es ist ja nicht mein Onkel. Alles wäre schön, hätte die Kindergärtnerin mir nicht noch zum Abschied die Visitenkarte eines Sandalenhändlers vom Priwos gegeben und auf meine Füße gezeigt.

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Kolumne: Oleg und das Kolumnistenketchup

ODESSA, UKRAINE Heute hat mich Oleg angerufen. Er war mal wieder extrem aufgeregt, wie er das fast immer ist, wenn er mich anruft. Ich habe so einen Verdacht: Entweder ruft er mich an, um sich aufzuregen, oder er regt sich auf, um mich anzurufen. Zunächst plauderte er ein bisschen über die Hitze in Odessa, dann erzählte er etwas von 23 Klimmzügen an seiner Klimaanlage, wobei ich nicht weiß, ob ich Oleg richtig verstanden habe, irgendwann unterbrach ich ihn und fragte, was er eigentlich wolle.
„Kolumnist, ich hab ‘ne gute Nachricht”, sagte er und machte eine ewige Pause, „’ne verdammt gute Nachricht, ich weiß, wo es Ballpumpen…”
„Mach’s nicht spannend, wo muss ich hin?”
„Lass mich doch ausreden: wo es Ballpumpen gab.”
„Mist. Was ist die gute, verdammt gute Nachricht?”
„Naja, ich habe die letzten zwei bekommen.”
„Toll, dann kannst du mir ja eine Pumpe abgeben”, sagte ich.
„Was bietest du?”
„Hör mal, Oleg, ich bezahle den Preis, den du bezahlt hast, und vielleicht spendiere ich dir noch ein Bier.”
„Vergiss es”, sagte er.
„Wie bitte?”
„Dann behalte ich beide Ballpumpen.”
„Gut, was verlangst du?”, fragte ich. „Sag schon!”
„Zufällig weiß ich, dass der Kolumnist dieses weltberühmte Ketchup…”
„Oleg, das ist gemein. Ich bin durch zwanzig Supermärkte gelaufen, überall in der Stadt.”
„Stell dich nicht so an.”

Im Grunde brauche ich keine Ballpumpe. Ich besitze zwar einen Fußball, er ruht aber seit fünfeinhalb Monaten ungetreten in der Einkaufstüte. Die Ballpumpe ist zum Symbol für Dinge geworden, die ich in Odessa suche, aber nicht finde. Ich habe bislang unter anderem gesucht:

Noch gern erinnere ich mich auch an den Tapeziertisch, den ich als Schreibtisch benutzen wollte, weil mir kein Schreibtisch gefiel, der mir gezeigt wurde. Die Männer, die auf Odessas Märkten Holz zurechtsägen, schauten mich an, als trüge ich ziemlich großes, dickes Brett vor dem Kopf.
„Ich will einen Tapeziertisch”, sagte ich.
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche einen Tisch, um zu tapezieren.”
„Ich verstehe nicht.”
„Egal, ich will den Tapeziertisch sowieso als Schreibtisch benutzen.”
„Ich verstehe nicht.”
„Ich brauche eine Holzplatte, die müssten Sie mir sägen, und zwei Böcke, damit die Platte nicht in der Luft schweben muss.”
„Brauchen Sie jetzt einen Schreibtisch oder dieses andere Ding? Und welche Böcke überhaupt? Ich verstehe nicht.”
Als ich mich bei Oleg beklagte, sagte er nur: „Tapeziertische, so was haben wir nicht.”
„Und wie wird bei euch tapeziert?”
„Wir legen die Tapete auf den Boden.”
„Aber der ist doch schmutzig”, sagte ich.
„Herrgott, dann wischt man eben erst den Boden und tapeziert dann.”

Ich werde mich nicht beklagen. Ich habe zuletzt ein paar Wochen in Deutschland gelebt, genauer gesagt: in einer ostdeutschen Kleinstadt mit schlimmer Rasenmäherromantik. Mittag für Mittag zwischen eins und drei, außer natürlich am Wochenende, schoben kurzhaarige Männer in kurzen Unterhemden und kurzen Hosen brummende Ungetüme durch Vorgärten. Nicht nur die Männer, auch die Vorgärten sahen gleich aus: hier ein paar Büsche, dort ein spindeldürres, bulimiekrankes Bäumchen, das kaum Schatten spendet, und ringsum eine akkurate Hecke auf Genitalbereichshöhe. In Deutschland werden sogar Mülltonnen abgeschlossen. Nach meiner Rückkehr habe ich mich gleich wieder ein bisschen in Odessa verliebt.

Ich sehe, wie Männer auf dem Bürgersteig ihr Auto mit einem Schwamm putzen und das Wasser nicht aus einem Schlauch, sondern aus einer alten Wasserflasche holen. Daneben wachsen Gasleitungen aus dem Boden. Ich erfreue mich an der Verkäuferin im Supermarkt, Heldin der Anarchie, die während des größten Kundenansturms vor sich ein Schild mit der Aufschrift „Technische Pause” aufstellt und dann nur einer Beschäftigung nachgeht: Sie versucht nicht einzuschlafen. Ich mache auch wieder Fehler, die ich längst abgestellt hatte. Zum Beispiel rufe ich ein Taxi, um im Regen halbwegs trocken nach Hause zu gelangen, und kriege den Mund nicht mehr zu, wenn die Frau in der Zentrale sagt: „Hören Sie mal, junger Mann, es regnet. Wo soll ich jetzt ein Taxi auftreiben?” Am Strand liegt natürlich noch der Schmutz vom Sommer ’08, wobei ich mich aus gewissen Gründen nicht auf ein Jahrhundert festlege. Ach ja, verziehen sich eigentlich Zimmertüren aller Nationalitäten zwischen Winter und Frühling? Oder ergeht das bloß meinen ukrainischen so?

Nicht einmal der Baulärm stört mich mehr, der mich seit März begleitet. Am Anfang arbeiteten auf dem Hof drei Vierzehnjährige. Ihr Arbeitstag begann um halb eins und endete um acht, was am Wochenende zwangsläufig dazu führte, dass sie hämmerten und stemmten, schleiften und bohrten, während ich Mittagsschlaf machen wollte. Ihre Nachfolger dürften immerhin schon beinahe volljährig sein. Sie fangen noch ein bisschen später an, und wenn ich abends um halb neun frage, ob sie vielleicht Schluss machen könnten, weil meine Kinder schlafen wollten, empfehlen sie mir, deren Tagesablauf einfach umzustellen. Ich habe noch immer keine Ahnung, was sie eigentlich errichten oder vernichten – ich weiß nur, dass ich in den all den Monaten noch nicht einmal eine Wasserwaage oder einen Zollstock gesehen habe. Wahrscheilich würde mich das noch mehr amüsieren, wenn die vielen Steine und Balken, die nach draußen geschafft werden, nicht von dem Teil des Hauses unter meiner Wohnung stammten.

„Was ist nun?”, fragte Oleg. „Kolumnistenketchup gegen Ballpumpe, kommen wir ins Geschäft?”
„Ja.”
„Dann morgen um zehn an der großen Treppe, aber keine miesen Tricks, du kommst allein.”

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Kolumne: Oleg zieht (sich) um

SCHWERIN, DEUTSCHLAND/ODESSA, UKRAINE Ich vermisse meinen Freund Oleg, er fehlt mir, das gebe ich zu. Die ersten Tage nach dem Abschied von Odessa hatte ich geglaubt, Oleg und ich würden uns vielleicht nie wieder sehen, nicht einmal, wenn ich in ein paar Wochen in die Ukraine zurückkehren werde. Wir hatten genug voneinander. Mittlerweile spüre ich mehr und mehr, dass er meinem Leben gut tut – und es meinem Leben nicht gut tut, wenn ich ohne ihn bin. Wir telefonieren jeden zweiten Tag. Abends freue ich mich, dass ich ihn morgens anrufen kann. Fast immer beruhigt es mich, seine Stimme zu hören.

„Kolumnist vermisst, Kolumnist vermisst, Kolumnist vermisst”, sagte Oleg heute Morgen, nachdem er den Hörer abgenommen hatte. „Kolumnist, bitte melden!”
„Privjet!¹ Wie geht’s?”
„Blendend. Und dir?”
„Ich kann nicht klagen”, sagte ich, schwieg ein paar Augenblicke und lauschte der Melodie, die aus Odessa zu mir kam. „Hey, Oleg, du hörst ja die Pet Shop Boys, hast du auch die neue CD gekauft?”
„So ungefähr.”
„Illegaler Download, oder was?”
„Es ist deine CD. Du hattest Recht, tolle Platte, die beste seit Very 1993.”
„Wie kommst du an meine CD?”
„Ich wohne bei dir.”
„Du wohnst in meiner Wohnung?”
„Ja!”

Schlimmer als in Tadschikistan

Ich hatte Oleg einen Notfallschlüssel dagelassen. Falls es in der Wohnung über meiner einen Wasserrohrbruch gäbe, würde ich ungern aus Deutschland herbeifliegen müssen, um aufzuwischen und dem Nachbarn Schläge anzudrohen, sollte er den Schaden nicht bezahlen. Das könnte auch ein anderer, in diesem Fall Oleg, übernehmen.
„Oleg, das war nicht abgemacht, ich habe dir vertraut.”
„Deine Wohnung ist schöner.”
„Ich habe nicht mal einen Fernseher.”
„Jetzt schon.”

Ich atmete zweimal tief durch und ermahnte mich, die Sache nicht allzu spießig zu sehen. Ich sagte mir, es habe Vorteile, dass die Wohnung nicht unbewohnt sei über eine längere Zeit, dass jemand aufpasse, lüfte und das Wasser benutzte. Im Dezember war ich nach drei Wochen zurückgekehrt und hatte eine eiskalte Wohnung betreten. Die Heizung funktionierte nicht. Das Wasser wurde nicht warm. Zwei Tage später hatte ich einen Schnupfen. Ich redete mir auch noch ein, es hätte schlimmer kommen können. Ein Sachse, der in Duschanbe arbeitet, der Hauptstadt Taschikistans, hat mir erzählt, er wasche sein Bettzeug niemals, bevor er nach Deutschland fliegt, weil es üblich sei, dass der Vermieter samt Familie in Abwesenheit des Mieters einziehe. Während ich mich zu beruhigen versuchte, hörte ich, wie Oleg sang.

Oh now look what/you’ve gone and done/You’re creating/pandemonium/That song you sing/means everything/to me/I’m living in ecstasy/My world’s gone made/What did you do?/I’m telling perfect strangers/that I love you/The stars and the sun/dance to your drum/and now/it’s pandemonium

Das Parkett – mein Parkett – begleitete seine Stimme mit einem Knarren, als würde er gerade tanzen.

„Tanzt du gerade?”
„Und wie!”
„Ach, Oleg…”
„Hast du dich wieder beruhigt, Kolumnist?”
„Ja, Oleg, aber sei bitte so nett und räum ein bisschen auf, bevor ich wiederkomme, nicht dass noch deine Bettwäsche herumliegt.”
„Kein Problem”, sagte Oleg.
„Danke.”
„Ich habe das Bett gar nicht neu bezogen.”
„Du schläfst in meiner Bettwäsche?”, fragte ich.
„Ja!”
„Nein!”
„Ich habe auch gar keine Klamotten mitgebracht.”
„Du trägst meine Hemden und Hosen?”
„Nicht nur die”, sagte Oleg und lachte.
„Nein!”
„Doch!”
„Beruhig dich, Kumpelstilzchen.”

Gedopte Moderatorin

Manchmal in diesen Tagen denke ich, es wäre schön gewesen, wenn Oleg nach Schwerin hätte mitkommen können. In der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns finden bis Oktober Rentnerfestspiele statt; die  Bundesgartenschau hat gestern begonnen. Ich habe mir die Eröffnungsfeier im Fernsehen angeschaut. Die Moderatorin redete, als habe sie vor der Sendung zu viel Schlafmohn verspeist. Ich werde diese Bundesgartenschau auf keinen Fall besuchen – eher fange ich an zu twittern.

Oleg würde dieser herangekarrte Blumenkitsch natürlich gefallen. Er ist Ukrainer, und Ukrainer sind kitschverliebt. Geburtstagssträuße sehen aus wie toupiert. Man sieht auch die Blüten vor lauter Plastik nicht. Das Land steckt musikalisch, modisch und wohnlich noch tief in den achtziger Jahren. Zu viele Frauen tragen Tigerdruck, zu viele Männer hören Modern Talking, zu viele Paare kaufen chinesischen Nippes fürs Wohnzimmer.

Der kulturlose Strand

Vor ein paar Wochen habe ich mit Oleg eine Konferenz zur Stadtentwicklung besucht. Es gab einen Arbeitskreis, der für Odessas Strand eine Zukunft entwerfen sollte, vorab allerdings erst einmal zu klären versuchte, wie die Gegenwart ist. Die Männer sollten mit grünen, blauen, roten und gelben Steinchen das Verhältnis von Ökologie, Wirtschaft, Kultur und Soziales am Strand darstellen. Relativ schnell einigte sich die Gruppe auf Ausgewogenheit: 25 Prozent Ökologie, 25 Prozent Wirtschaft, 25 Prozent Kultur, 25 Prozent Soziales. Ein junger Experte aus Deutschland empfahl, nachdem er wild gelacht hatte, die Wirtschaft auf mindestens 50 Prozent zu setzen und auf die roten Kulturwürfel realistischerweise ganz zu verzichten. Er sagte dann noch: „Wenn alles 25 Prozent wäre, wären wir ja nicht hier, um die Zukunft zu planen.”

„Bist du noch dran?”, fragte Oleg. „Ich muss los, ich habe ein Vorstellungsgespräch. Hast du was dagegen, wenn ich noch mal deinen Anzug trage?”
„Ja, Oleg, ja, ich habe etwas dagegen.”
„Hallo? Haaaaaalllloooooooooo?”
„Oleg! Nicht den Anzug!”
„Ei, die Verbindung ist gerade ganz schlecht, Kolumnist, ich hör dich nicht mehr. Wir telefonieren wieder. Mach’s gut! Ach so, wird spät heute Abend, ich geh tanzen, bisschen Frauengucken, wenn du verstehst. Mal schauen, ob sich was ergibt. Ich hätte Lust auf eine Kissenschlacht. Du bist ein echter Freund, kein Würstchen.”²

¹ Hallo
² russisches Sprichwort

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Karpatenpost

Dieses schöne Feuer aus den Karpaten hat mir Sebastian Fiebrig von Wir in Berlin geschenkt. Nicht nur in Odessa wird also auf diese Weise Müll entsorgt. Wahrscheinlich kann Sebastian Ihnen noch ein bisschen mehr erzählen. Ich locke den Fan des Fußballklubs Union Berlin jetzt mal hierher, indem ich ihn etwas frage, das mich schon sehr lange beschäftigt: Warum spielt Karim Benyamina immer noch für die Eisernen? Wann immer ich Zeitung lese, schießt er ein Tor; der müsste doch längst weiter oben als in der Dritten Liga spielen.

Auf dem Friedhof

ODESSA, UKRAINE Eine emerierte Professorin aus Deutschland hatte mir erzählt, auf dem Friedhof Nr. 2 gebe es Mafiagräber, bewacht von Männern in pistolenartig ausgebeulten Hosen und Jacken. Ich bin zwei Stunden lang alles abgelaufen, Mafiagräber aber habe ich nicht entdeckt. Auf vielen Steinen steht, was die Person im Diesseits getan hat, die Verdienste und Ämter werden angeführt. Alles ist sehr transparent. Die Mafia macht das leider nicht.

So habe ich nur zwei Ratten¹ gesehen, eine Menge Müll, hin und wieder ein Feuerchen, weil Abfälle überall verbrannt werden, ungewöhnliche Blumenvasen, die letzte Ruhestätte von Fußballern, Künstlern, Rennfahrern, Professoren und Politikern, von denen verdächtig viele in der wilden Zeit Mitte des Landes der neunziger Jahre hierhin umgezogen sind. Wenigstens weiß ich jetzt, wie mein Grab einmal aussehen wird. Ein bisschen Extravaganz soll schon sein:

Jemand hatte mir erzählt, auf dem Friedhof Nr. 2 sei die Verbrecherdichte sehr hoch. Praktischerweise liegt das Gefängnis nur fünf Minuten entfernt, und als ich dort durch einen Spalt hinein zu schauen versuchte, öffnete sich sogleich die schwere Schiebetür.

¹ nicht sinnbildlich gemeint