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Kolumne: Mein Sohn und der Miauismus

ODESSA, UKRAINE Mein Sohn hat seine Kindergärtnerin enttäuscht, er ist bei ihr unten durch. Allerdings dürfte er jetzt ahnen, wie ich mich fühle, wenn ich dieser Frau begegne. Die Erzieherin mag mich nicht, und zwar aus drei Gründen: Erstens verstehe ich selten, was sie auf Russisch erzählt, weshalb sie mit mir in einer Babysprache reden muss, die ins Deutsche übersetzt ungefähr so klingt: „Er kein Breichen happahappa, obwohl sehr mmmmhhhh, Papa dududu machen, ja?” Zweitens spreche ich noch schlechter, als ich verstehe, weshalb sich meine russischen Rechtfertigungssätze anhören, als spräche ich mit einem Ausländer: „Du mit ihm müssen haben Geduld.” Drittens finde ich erstens und zweitens amüsant.

Mein Sohn hatte heute Fasching. Er sollte ein Gedicht aufsagen und wie eine Katze aussehen. Alle Kinder sollten sich als Katze verkleiden, ich finde ja, der Fasching war früher demokratischer. Als ich klein war, durften wir uns anziehen und anmalen, wie wir wollten, und ich bin in der DDR aufgewachsen. Ich weiß nicht, wie Leute darauf kommen, eine solide Diktatur, ohne allzu viel Gewalt also, sei weniger anstrengend als die Demokratie. Ich treffe zum Beispiel dauernd Taxifahrer, die sagen: „Die Weißrussen haben Lukaschenko. Die Russen haben Putin. Und wir? Warum haben wir Juschtschenko?”

Ich bin in drei Geschäften gewesen, nirgends gab es ein Katzenkostüm. Die Kindergärtnerin steckte mir daraufhin die Telefonnummer eines Verleihs zu. Dort gab es noch Katzenkostüme, nur leider hätte ich eine Stunde mit der Marschrutka in einen Vorort von Odessa fahren müssen. Ich tue ja viel für meinen Sohn, ich bin kein schlechter Vater, ich würde, falls von so etwas die Rede sein könnte, auch auf meine Karriere verzichten, wenn er das verlangte. Aber ich sitze nicht zwei Stunden in einem schaukelnden Bus wegen eines Katzenkostüms.

Zettel von der blöden Kuh

Die Proben für das Faschingsprogramm heute hatten vor drei Wochen begonnen. Mein Sohn brachte einen Zettel mit nach Hause, auf dem ein Gedicht stand, besser gesagt, ich vermutete, es sei ein Gedicht, es reimte sich ja. Den Inhalt verstand ich nicht. Jedes Mal, wenn ich meinen Sohn abholte, sagte die Kindergärtnerin: „Er kann seinen Text noch nicht.” Jedes Mal dachte ich: „Blöde Kuh, wenn es so wichtig ist, dass er den Text auswendig kann, dann lern halt mit ihm. Er verbringt täglich acht Stunden mit dir. Ich sehe ihn nicht mehr als drei.” Jedes Mal versprach ich, wir würden zu Hause üben.

Wir haben natürlich nicht geübt. Mein Sohn weigerte sich, er hatte überhaupt keine Lust – und ich noch viel weniger.
„Will ich nicht”, sagte er. „Merk ich mir sowieso nicht.”
„Willst du nicht?”, fragte ich. „Merkst du dir sowieso nicht, oder?”
„Nee.”
„Gut.”

Zwischendurch war der Zettel mit dem Vierzeiler verschwunden. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn versteckt hatte oder mein Sohn. Jedenfalls wurde er nicht vermisst.
Ich habe früher auch keine Gedichte lernen können. Von meiner Schulzeit sind mir nur drei sehr zerfetzte Gedichtfetzen geblieben:

Noch da, John Maynard?
„Ja, Herr, ich bin’s!”

Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
„Den Dank, Dame, begehr ich nicht!”

Walle! walle

Mehr ist da nicht. Und übrigens bin ich froh, dass mein Sohn einen starken Willen hat.

Vor ein paar Tagen hatte sein Kindergartenkumpel Kolja Geburtstag. Kolja ist schon ein ziemlich robuster Kerl für seine vier Jahre, er lässt sich nichts gefallen, er steht auch nicht so auf Diskussionen. Als Geburtstagskind durfte er sich etwas wünschen. Kolja wünschte sich, dass jedes Kind einen Panzer malt. So kam es auch. Der Kindergartengruppenspielzeugpanzer stand Aktmodel. Mein Sohn machte nicht mit.

Ungefähr in jeder zweiten Stunde erzählt mir meine Russischlehrerin, ich müsse unbedingt mit meinem Sohn diese und jene Militärausstellung besuchen. Als ich mich einmal beklagte, es fehle in Odessa an intellektuellen Genüssen und Kultur im öffentlichen Raum, stritten wir uns. Am nächsten Tag brachte sie triumphierend eine Zeitungsseite mit. Auf der Seite waren Messen angekündigt – eine Yachtmesse, eine Schmuckmesse, eine Pelzmodenmesse, eine Fliesenmesse und eine Messe für Autozubehör.

Oscar vs. Fasching

Ich habe meinem Sohn ein Tigerkostüm gekauft, ich dachte, das sei schon in Ordnung, eine Raubkatze ist schließlich auch eine Katze. Leider war ich der einzige, der so dachte. In der Ukraine hat der  Kindergartenfasching einen höheren Stellenwert als die Oscar-Verleihung in den USA. Die anderen Eltern sprachen kein Wort mit mir und schauten durch mich hindurch. Die Erzieherin sagte: „Katze miau, Tiger krrrrrr – großer Unterschied.”

Alle Kinder trugen nacheinander ihren Vers vor. Mein Sohn stand ganz hinten, er kam als letzter dran. Ich habe das Unheil also kommen sehen. Als er an der Reihe war, schwieg er. Ich sah, wie er überlegte, er zupfte aus Verlegenheit an seiner Hose herum, wie ich es früher auch getan hatte, er zog sie hoch, obwohl sie perfekt saß, er gab sich alle Mühe, irgendwo in seinem Gehirn ein Stück des Vierzeilers zu finden. Aber dort war ja nichts. Nachdem er das eingesehen hatte, gähnte er, spielte mit seinem Schwanz und grinste auch noch frech. Souflieren und helfen konnte ich natürlich nicht. Dafür hätte ich das Gedicht lernen müssen.

Aber er sang wie Tom Jones und tanzte wie Fred Astaire. Niemand tanzte wie mein Sohn!

Mich hat er nicht enttäuscht. Ich bin stolz, denn er kommt nach mir. Wahrscheinlich wird er seinem Vater die Schuld geben für das Gedichtdesaster, wenn die Kindergärtnerin ihn verhört. Ich habe es früher nicht anders gemacht.

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Hauptstadt von Absurdistan

ODESSA, UKRAINE Ach, muss das toll gewesen sein in der ausverkauften Oper. Hätte ich doch bloß die angebotenene Eintrittskarte genommen. Alle waren da, der Gouverneur des Bezirks Odessa, hohe Verwaltungsfunktionäre, Wirtschaftsbosse und auch sonst alles, was Rang und Schulden Namen hat. Es wurden schließlich Ukrainer wegen ihrer besonderen Verdienste geehrt.

Bitte fragen Sie mich nicht, wer alles wofür womit ausgezeichnet worden ist. Selbst Anwesende haben es nicht verstanden. Es gab Urkunden und Orden vom Präsidenten, vom Gouverneur und vom Oberbürgermeister. Im Dreißig-Sekunden-Takt wurden mehr als 50 Leute geehrt. Dann folgte ein sehr umfangreiches Kulturprogramm. Es traten, angekündigt von einer scharfen Blondine, Volksmusiker und Volkstänzer auf, eine Boygroup und Solisten, bisweilen auch kaum Definierbares, nennen wir es: kühne Kunst. Der ganze Spaß dauerte mehr als zwei Stunden. Ein Augen- und Ohrenzeuge aus Deutschland sagt: “Herrlich absurd war das! Diese Mischung aus Tradition und Spuk hat mich an meine Zeit in Weißrussland erinnert.”

Übrigens war die Veranstaltung überraschend vorgezogen worden, weil der Gouverneur sonst nicht gekommen wäre. Erst abends wurde bekanntgegeben, dass der Festakt schon am nächsten Tag stattfinden würde und nicht, wie geplant, am übernächsten. “Ich möchte mal wissen, wie die es hinbekommen haben, dass der Stall trotzdem voll war”, sagt eine Deutsche, die in Odessa lebt. “Mich hat die Frau angerufen, die mir die Karte besorgt hatte. Aber die war vorher auch nur angerufen worden.”

Meine Lieblingskünster sehen Sie übrigens auf dem letzten Foto. Die Dame in dem schlecht sitzenden Kostüm und die Herren ringsum sind Rampensäue, die jeden Augenblick im Scheinwerferlicht genießen.

Film und Fotos: Herr Professor K. aus Deutschland. Danke.

Polizeibericht: Deutscher Journalist verunglückt

ODDESSA, UKRAINE (blog) Der prominente deutsche Journalist und Kolumnist Christoph Wesemann ist bei einem Verkehrsunfall am Donnerstagmorgen auf der Autobahn zwischen Odessa und Kiew schwer verletzt worden. Über seinen Gesundheitszustand ist bislang wenig bekannt. Lebensgefahr besteht allerdings nach Auskunft seiner ukrainischen Ärzte nicht.

Wesemann hatte am Donnerstagmorgen einen Minibus bestiegen, um nach Kiew zu reisen, wo er an einer deutsch-ukrainischen Medienkonferenz teilnehmen sollte. Gegen 8.30 Uhr hielt der Fahrer auf der linken Spur, weil sich einige hundert Meter voraus im dichten Nebel ein Unfall ereignet hatte. Wenig später wurde der Bus von einem Mercedes gerammt und rutschte etwa zehn Sekunden lang über die eisglatte Straße. Wesemann begab sich sogleich in medizinische Behandlung setzte die Reise in die ukrainische Hauptstadt in einem anderen Bus heldenhaft fort und sprach gestern auch auf der Konferenz. Sein Zustand soll sich dann jedoch rapide verschlechtert haben. Wesemann hat für den frühen Abend eine Erklärung angekündigt.

Christoph Wesemann arbeitet seit Juni vergangenen Jahres als Journalist in Odessa und betreibt auch ein Weblog, eine Art Tagebuch im Internet. In Deutschland hat er sich vor allem als Kolumnist einen Namen gemacht. Der 30-Jährige schildert auf humorvolle Weise seinen Alltag in der Schwarzmeermetropole Odessa. Eine ständig wiederkehrende Figur in seinen Kolumnen ist ein gewisser Oleg.

Neujahrskonzert in Odessa: Phil Disko – wenig Harmonie

ODESSA, UKRAINE Ich komme gerade vom Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters und habe die größten Erfolge die bekanntesten Kompositionen von Johann Strauss gehört: “Wo die Zitronen blühen”, “Spanischer Marsch”, die Ouvertüre aus der “Fledermaus”, Polkas in allen Variationen, also schnell, französisch und masurisch, und als Zugabe natürlich “Donauwalzer” und “Radetzkymarsch”. Für das Protokoll: dritte Reihe, 120 Griwna, also zwölf Euro.

Hobart Earle dirigiert gern ohne Partitur, und manche Odessiten, die mehr verstehen von klassischer Musik als ich, sagen, das höre man auch. Der Amerikaner habe die Einzelstimmen, so die Kritik, nur ungefähr im Kopf, weshalb ihm die letzte Präzision und die Möglichkeit der Interpretation fehlten. Andere wiederum bescheinigen ihm, er habe Odessas Orchester deutlich nach vorn gebracht und überdies die Ukrainer an die Wiener Musik herangeführt. Seine Anhänger sehen in ihm gar einen musikalischen Botschafter Österreichs.

Nun, Earle hat vielleicht einen amerikanischen Zugang zur klassischen Musik und sieht sich als Unterhalter; er tanzt und schwebt und hüft und rudert. Des Dirigenten Rückhand ist vorbildlich, da schwingt der Arm so komplett durch, dass jeder Freizeittennisspieler neidisch werden muss. Im “Napoleon-Marsch” gibt Earle den kleinen Franzosen, setzt sich eine Herrschermütze auf, reicht sie an seine Erste Geige weiter und fechtet dann sogar mit ihr: Taktstock gegen Bogen.

Earle, ein Schüler Leonard Bernsteins und früher Dirigent des Wiener Kammerorchesters, ist seit 1992 Musikalischer Leiter der Philharmoniker und überdies der einzige Ausländer, dem der Titel “Verdienter Künstler der Ukraine” verliehen worden ist. Vor allem die älteren Damen, jene Philharmonie-Babuschkas, die kaum eine Vorstellung versäumen, vergöttern den Maestro – unter anderem wegen des wallenden Haars, der feinen Schuhe, der amerikanischen Lockerheit und des leichten Akzents im vorzüglichen Russisch.

Vielleicht ahnt Earle, dass seinen Musikern Grenzen gesetzt sind, so lange sie in der Philharmonie spielen müssen. Das Haus, vom Architekten Alexander Bernardazzi als Börse entworfen, in der intime Geschäftsgespräche verschluckt werden sollten, hat eine schlechte Akustik. Von den Wänden blättert der Putz. In der Pause bestürmen 100 Frauen zugleich drei Toiletten. Vom Sitzplatz bis zur Garderobe braucht man knapp 20 Minuten. Und selbst der Große Saal mit seinen mehr als 1000 Plätzen wirkt nur auf den ersten Blick festlich. Es steht doch einiges herum.

Hobart Earle kann wohl auch ernsthaft sein, an diesem Nachmittag aber wirkt es bisweilen, als hätte sich der unmögliche Schmalzgeiger André Rieu auf das Dirigentenpult verirrt, zumal sich beide auch äußerlich ähneln. Earle flötet den Kuckucksruf selbst und zwitschert Vogelstimmen mit sichtlichem Genuss. Selbst für ein Neujahrskonzert, das manches gestattet, das an anderen Tagen im Konzertsaal unterbleibt, sind diese Einlagen zu sehr Klamauk. Earles Musiker zünden Konfettiknaller, um Jagdschüsse auszudrücken. Der Chef hat nicht nur nichts dagegen, dass mitgeklatscht wird, er erzwingt es sogar und dirigiert am Ende mehr das Publikum als sein Orchester. Aber er scheint Spaß zu haben, was man nicht von allen anderen auf der Bühne sagen kann.

Seltsames in fünf Punkten:

1. Entlang der Bühne ist eine Lichterkette angebracht, wie sie in deutschen Diskotheken hängt. Sie blinkt unaufhörlich gelb, blau, rot, grün. Die Lämpchen der zwei Plastikweihnachtsbäume, links und rechts, flackern genauso. Und so sieht das aus:

2. Die Musiker reden miteinander, während die Erste Geige, der Konzertmeister also, beim Einstimmen ist. Selbst die Violinisten sind ins Gespräch vertief. Es wird sehr oft bis zum Einsatz geplaudert. Wahrscheinlich konzentrieren sich ukrainische Musiker anders.

3. Im Foyer werden Kartoffelchips verkauft.

4. In der Pause mischen sich die Musiker unters Volk. Sie rauchen an der Bar unten im Flur. Der Weg zur Bar ist gottlob ausgeschildert.

5. Ich habe noch nie so miesepetrige Musiker gesehen. Auf den Gesichtern zeigte sich die große Langeweile, die pure Gleichgültigkeit, obwohl das Publikum gerade jubelte. Falls Sie nicht wissen, was ich meine, so sieht das aus:

Ach ja, das Programm:

[Was die Überschrift betrifft, bin ich verhandlungsbereit. Ich weiß, Namenswitze gehören sich nicht. Vorschläge bitte in den Kommentarbereich, danke.]

Cholodomor droht: Ab Freitag kein Gas

ODESSA, UKRAINE Es kommen kalte Zeiten. Bis Freitag wird es Gas geben – oder andersherum: danach nicht mehr. Der Gouverneur der Region Odessa, Nikolaj Serdjuk, hat angekündigt, man bereite sich “auf das Allerschlimmste vor”. Die Kreise Boldgrad, Ismajil, Reni und Tarutyne könnten von der Versorgung abgeschnitten sein. Die Evakuierung von Krankenhäusern und Altersheimen wird bereits geplant.

Für Gefahren dieser Art gibt es das Wortspiel “Cholodomor”, abgeleitet von Holodomor, der großen Hungersnot unter Diktator Josef Stalin in den Jahren 1932/1933. Wie viele Opfer es in der Ukraine gab, ist umstritten – die Rede ist von mindestens 3,5 Millionen Toten. Der Holodomor wird von manchen bis heute als “Hunger-Holocaust” bezeichnet. Andere sprechen von Völkermord. Das Wortspiel “Cholodomor” steht für die Kältekatastrophe (xолод=Kälte).

Odessas Oberbürgermeister Eduard Gurwitz hat den Journalisten geflüstert, die Stadt habe offene Rechnungen. Wenn ich die Meldung in der Zeitung “Segodnya” richtig verstehe, hat Odessa bei den Gaslieferanten 92 Millionen Griwna Schulden – also neun Millionen Euro ungefähr.

Ich glaube, ich gehe heute mal besser zum deutschen Stammtisch.

Kolumne: Kolumnist unter Verdacht

ODESSA, UKRAINE Ich hasse Wodka. Ich mag Bier. Bier ist gut. Bei Bier merke ich, wann es Zeit wird, den letzten Schluck zu trinken und nach Hause zu gehen. Wenn ich das Gesicht im Spiegel zum vierten Mal mitleidig anlächele und es mir zum vierten Mal zunickt, ist dieser Augenblick gekommen. Bier ist so sympathisch, weil es – mit eingebrautem Harndrang – diese Selbstkontrolle erlaubt: Alle Wege führen zum Klo.

Oleg und die zweite Leber

Von Wodka tut mir nach dem Aufwachen immer alles weh, so sehr, als steckte der Körper, von der Stirn bis zu den Zehen, in einem Schraubstock – ganz gemeiner Wodkater. Wenn ich mit meinem Freund Oleg Wodka trinke, weiß ich, dass ich mir für den nächsten Tag wenig vorzunehmen brauche. Ums Überleben, um nichts sonst, geht es dann. Ich weiß nicht, wie Oleg das macht, dass er fit ist. Vielleicht trinkt er, heimlich, vor dem Einschlafen einen Eimer Sprudel-Aspirin auf Ex. Vielleicht bekommt er nachts frisches Blut. Vielleicht besitzt er eine zweite Leber.

„Prost!”, sagte ich und schlug mein Wodkaglas an seins. „Freust du dich eigentlich über mein Weihnachtsgeschenk?”
„Bist du komplett bescheuert?”, schrie Oleg. „Beim Leichenschmaus stößt man nicht an.”
„Oleg, ich verstehe kein Wort. Welcher Leichenschmaus?”
„Natascha ist tot!”
„Welche Natascha?”, fragte ich.
„Natascha! Natalia!”
„Oh, entschuldige bitte. Mein Beileid.”

[youtube]http://de.youtube.com/watch?v=5Rt5Glaeaus[/youtube]

Oleg hatte mich in seine Stammkneipe bestellt. Nun tranken wir auf Natalia, die am Freitag plötzlich gestorben war. Oleg vermisst sie. Seine Augen stierten ins Nichts, seine Nase war wundrot. Er schwieg oft und trug schwarz. Aus den Lautsprechern an der Wand kam „Last Christmas” von Wham. Es war der 11. Januar. Seit einem Monat höre ich ununterbrochen irgendwo Weihnachtslieder.

Reine Routine

„Wo warst du eigentlich am Freitag zwischen eins und drei?”, fragte Oleg plötzlich.
„Zu Hause.”
„Zeugen?”
„Wie bitte?”, fragte ich.
„Kann jemand bestätigen, dass du zur Tatzeit zu Hause warst?”, fragte Oleg.
„Willst du behaupten, dass ich…”
„Ich behaupte gar nichts.”
„Verdächtigst du mich, dass ich Natalia umgebracht habe?”
„Reine Routine, ich muss das fragen”, sagte Oleg und hielt mir die Kerze ganz dicht vors Gesicht. „Ich hab Zeit, ich kann warten. Ein Geständnis wirkt sich übrigens strafmildernd aus.

Ausblick nach Sibirien

Olegs Drohungen lassen mich inzwischen kalt. Ich habe schon genug Ängste als Deutscher in Odessa. Ich habe Angst, dass der Ukraine das Gas ausgeht. Ich habe Angst, wenn ich an dem Gebäude vorbeigehe, in dem einst der sowjetische Geheimdienst KGB saß, ich erinnere mich jedes Mal an diesen Spruch: „Die KGB-Zentrale ist das höchste Haus Odessas – von dort kann man Sibirien sehen.” In der Süddeutschen Zeitung stand vor ein paar Tagen – es ging mal wieder um den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine – etwas über die „Rohstoffoligarchen, die vor allem am Zwischenhandel verdienen, die oft gleichzeitig auch Besitzer von Zeitungen und Sendern sind”. Bei „einigen dieser Oligarchen” handele es sich „um ehemalige Geheimdienstler, die nach wie vor gute Beziehungen zu früheren Arbeitsgebern unterhalten”.

Ich habe auch Angst vor den Polizisten, die neuerdings Bürger nach dem Ausweis fragen, um illegale Ausländer in Odessa aufzuspüren. Ich nehme nie irgendwelche Dokumente mit, wenn ich das Haus verlasse – natürlich aus Angst, bestohlen zu werden. Ich habe sogar Angst vor den Apothekerinnen. Sie hassen mich offenbar. Gestern brauchte ich unbedingt Nasenspray, ich hätte auch Tropfen genommen. Die Verkäuferin sagte, es gebe nichts. Ich versuchte alles, ich flehte sie an, ich röchelte sogar ein bisschen herum, ich schnappte mit weit aufgerissenem Mund nach Luft, und wenn mir auf die Schnelle eingefallen wäre, was „unterlassene Hilfeleistung” auf Russisch heißt, hätte ich auch diesen Vorwurf angebracht.

Eine Nacht mit Natalia

Ja, ich habe mit Natalia eine Nacht verbracht. Oleg war verreist. Er hatte mir den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben, ich sollte ihr eigentlich bloß Frühstück bringen, weil sie gerade etwas geschwächt war, aber, mein Gott, sie ist dann abends mit zu mir gekommen. Wir schliefen in getrennten Zimmern. Da war nichts.

„Also kein Alibi von eins bis drei”, sagte Oleg.
„Ich habe Natalia nicht umgebracht. Ich habe sie geliebt wie du…wie dich…ach, was weiß ich.”
Mord aus Eifersucht“, sagte Oleg, sprang auf und schmiss dabei seinen Stuhl um. „Ich hab schon schlechtere Motive gesehen, originellere natürlich auch. Aber von einem Kolumnisten kann man wahrscheinlich nicht mehr erwarten.”

Dem Dieb brennt die Mütze

Ich schwieg und trank meinen Wodka weiter. Mir wurde schlecht.
„Du kann jetzt deinen Anwalt verständigen”, sagte Oleg.
„Dreckskerl.”
„Na vore shapka gorit”, sagte Oleg.
„Dem Dieb brennt die Mütze?”
„Das ist ein russisches Sprichwort. Bei euch bellen getroffene Hunde, glaube ich.”
„Ich bin unschuldig.”
„Du kannst gehen. Verschwinde.”

Oleg nuschelte etwas. Ich verstand nur einzelne Wörter und Satzfetzen: „SpuSi hat geschlampt … Todesursache ungeklärt … Fremdverschulden nicht auszuschließen … KTU … Durchsuchungsbeschluss … Obduktion … Gegenüberstellung … DNA-Abgleich …”

Da wusste ich, es war keine gute Idee, Oleg zu Weihnachten die Tatort-DVD-Sammelbox zu schenken – wenn ein paar Tage später seine geliebte Schildkröte Natalia stirbt.

[youtube]http://de.youtube.com/watch?v=0KcHpxkd1Eg[/youtube]

Silvester in Odessa

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=S9zYpFc57dw[/youtube]

Um halb zwölf vor der Oper
Um viertel nach elf vor der Oper
Um halb zwölf vor dem Rathaus
Stimmungskanone
Stimmungskanone
Die Jolka, Odessas Weihnachtsbaum
Die Jolka, Odessas Weihnachtsbaum
Um kurz vor zwölf auf dem Primorskij Boulevard
Um kurz nach halb zwölf auf dem Primorskij Boulevard
Psst, der Präsident spricht.
Fünf vor zwölf: Psst, der Präsident spricht.
Um kurz nach zwölf an der Treppe
Geschafft! Um kurz nach zwölf an der Treppe