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“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Zweiter Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

[Der erste Teil steht hier]

Zweiter Teil: Reisen wie auf dem Fließband

Ukrainische Polizisten müssen beweisen, dass sie das Gesetz verteidigen, sie kontrollieren für die Bilanz. Ob das Bußgeld eintrifft, ist ihnen egal. Deshalb wird vor Weihnachten besonders gerast. Das Protokoll gelangt zwar noch in die Statistik, der Fall aber wird nicht mehr bearbeitet. Später erfahren wir, warum wir zweimal so schnell gewesen sind, wie es die Polizei gewollt hat. Uns wurden alte Geschwindigkeiten gezeigt. Die Uhrzeit auf der Pistole hätte die Beamten überführt. Ukrainern ist dieses Misstrauen in Autoritäten bestimmt angeboren.

Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei 200 Meter entfernt vom Polizeirevier
Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei im Stadtzentrum - 200 Meter entfernt vom Polizeirevier

Seit 24 Stunden sind wir im Land. Die ersten zehn Minuten am Freitag habe ich aufrichtig versucht, mich an die Vorschriften zu halten. Ich fuhr im Ort sechzig. Es war lebensgefährlich, was vielleicht damit zu tun hat, dass die Dörfer auch zehn Kilometer lang sind, wenn dort zwei Häuser stehen. Der Rückspiegel hatte ständig gelbe Treffer, so oft wurde mit der Lichthupe auf uns geschossen. Ukrainer rasen, als wären sie auf der Flucht, drängeln, dass man fast ihre Augenfarbe erkennt, und scheren noch am Berg aus. Im Gras erinnern viele Kreuze daran, dass mancher sein Leben gleich mit überholt hat. Kein Polizist hat uns an diesem Abend zwischen Lemberg und Ternopil aufgehalten. Heute jedoch wartete auf den 400 Kilometern bis Uman in jedem fünften Dorf ein Paar. Angeblich trinkt der Ukrainer am Wochenende mehr und spürt plötzlich Sehnsucht nach seiner Datscha.

Auf der Autobahn: Kein Ziel in Sicht
Fast am Ziel, aber noch immer auf der Autobahn

Die Angst vor Kontrollen ist uns so peinlich geworden wie das Selbstmitleid wegen der Schlaglöcher. Um derlei als unangemessen zu empfinden, genügt im klimatisierten Auto ein Blick nach links und rechts, auf Pflüge, die ein Gaul zieht, auf Kinder, die noch in der Finsternis mit Oma und Opa auf dem Feld wühlen. Alte mit mehr Zehen als Zähne verkaufen vor Häusern, die in Deutschland gesperrt würden, ihre Ernte: Äpfel, Kartoffeln, Salatköpfe. Weil das Auto auf kaputten Straßen nur langsam vorwärts kommt, fliegt das Elend nicht vorbei. Es nimmt kein Ende. Wir haben nicht angehalten. Wir hätten uns mit den Frauen doch nichts zu sagen gehabt, selbst wenn wir uns hätten verständigen können. So alt, wie sie mit ihren Kopftüchern aussehen, können wir niemals werden. Wir dürfen gar nicht so altern. Das deutsche Gesundheitssystem lässt es nicht zu. Weil es uns so gut pflegt, hat der Tod einen so schlechten Ruf: Er holt die meisten zu früh, glauben wir. Wir haben angehalten, wo die Ukraine ungefähr aussieht wie Deutschland: an Tankstellen. Nur die Preise sorgten für ein Gefühl von Ferne. Der Liter kostet 90 Cent.

Um auf der Autobahn nicht von weitem entdeckt zu werden, verstecken wir uns hinter einem Laster mit Darmwind, der nach Fuselbenzin riecht. Das einzige, das noch beschleunigt, ist der Puls, wenn wir Polizisten sehen, wo Pappeln stehen. Seit Stunden sind wir die einzigen Westeuropäer, da macht sich jeder Baum verdächtig. Wie auf einem Fließband rollen wir dahin: siebzig bergauf, siebzig bergab, siebzig in Kurven, siebzig auf Geraden. Doch der Regen muss die Streckenposten vertrieben haben. Odessa erreichen wir nach 52 Stunden und 2100 Kilometern. Wir wollen zugleich schlafen und uns betrinken.

Durch sieben teilen

Um das Problem mit dem Umzugsgut kümmert sich mittlerweile ein Krisenstab. Freunde in Mecklenburg berichten von einer Tour nach Weißrussland. Bekannte in Odessa verhören Deutsche, deren Hausstand es irgendwie durch den Zoll geschafft hat. Auch der Pfarrer der deutschen Gemeinde in der Stadt ist eingeweiht. Die Verwandten haben alles schon vorher gewusst und verschweigen dies auch nicht. Meine Frau kennt inzwischen fast jeden Grenzer. Fortwährend klingelt ihr Telefon. Doch alle Schriftstücke, die beweisen, dass sie im Land arbeiten soll und umziehen muss, sind am Zoll wertlos. „Ihr müsst euch daran gewöhnen, dass bei uns erst einmal nichts klappt”, sagt spät abends in einer Bar unsere ukrainische Freundin, die mehr als zehn Jahre in Niedersachsen gelebt hat. Ich brauche zwei Einschlafbiere.

Vor der berühmten Oper, dem angeblich zweitschönsten Haus der Welt

Am Sonntagmorgen wandere ich durch Odessa und belausche eine Stille, die mir Stunden später, sobald sich der Verkehr staut und die Menschen aus 133 Nationen erwacht sind, wie eine Sinnestäuschung erscheinen wird. Noch aber wird in der Puschkinskaja, einer der schönsten Straßen der Stadt, der Bürgersteig mit dem Schlauch abgespült. Drei Stunden bevor der Zug abfährt, der mich noch einmal nach Schwerin bringt, besuchen wir eine Werkstatt. Wir wollen auf das Auto in Odessa nicht verzichten. Doch wenn wir es zurücklassen, könnten die Zöllner vermuten, wir hätten es verkauft, und sehr unangenehm werden, um das Geld zu finden. Also machen wir es zum Patienten, lassen es krankschreiben und täuschen eine Panne vor. Der Reparaturschein wirkt echt.

Der Wagen muss samt Schlüssel im Autohaus bleiben. Der Chef ist mal in Magdeburg gewesen, ich bin dort geboren. Er wird mich nicht betrügen. Wir sind fast verwandt. Das Abschiedsfoto – Autohändler, Autobesitzer und Auto -, kommt entweder ins Familienalbum oder in die Fahndung. „Griesdoff, haben Sie keine Angst”, sagt der Mann. Ein Amerikaner hat sogar seinen Lexus bei mir abgestellt.” Unser Vermieter will trotzdem noch mal vorbeischauen.

Die ukrainische Freundin versucht mich zu trösten. Sie fühlt sich mitschuldig, dass uns der Zoll besiegt hat und der Umzugslaster voll beladen zurückfährt. Sie sagt: „Wenn jetzt noch dein Wagen verschwindet, glaube ich an nichts mehr. Dann verlasse ich das Land für immer und gehe dorthin, wo kein Ukrainer lebt.”

Kolumne: Tuning für den Brillennazi

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg hat mir gestern ein Geschenk vorbeigebracht. Er war ziemlich aufgeregt. Er hatte dreimal vorher angerufen und gefragt, wann ich nach Hause käme.
„Tut mir leid wegen der Brille. Das nächste Mal bin ich dein Blindenhund“, sagte er und reichte mir einen Bettbezug. „Pack schnell aus, ich habe auch eine Bohrmaschine mit, wir können gleich anschrauben, ist ja noch hell draußen.”
Ich griff in den Bettbezug und fand ein braunes Blech, nicht breit, aber lang. „Was ist das?”, fragte ich.
Tuning“, sagte Oleg.
„Wie bitte?”
„Tuning.”
„Ja, schon klar, aber was ist der Sinn?”
„Tuning.”
„Oleg, Tuning, ja, aber: wofür, warum, wieso, weshalb, wozu?
„Tuning. Außerdem friert damit die Kolumnistenkarre im Winter nicht so”, sagte Oleg. „Jetzt freu dich doch endlich.”

Ein paar Tage vorher hatten wir uns gestritten. Allmählich wird es ernster, ich schätze, wir brauchen ein bisschen mehr Abstand voneinander oder ein bisschen mehr Nähe zueinander, vielleicht werden wir wieder Freunde, vielleicht waren wir niemals Freunde, es kann sogar sein, dass wir nur noch wegen der Leser zusammen sind. Ja, wir haben uns auseinandergelebt, aber das Blog wird nicht darunter leiden, das haben wir uns versprochen.

Ich brauchte eine neue Brille, weil die alte heruntergefallen und zerbrochen war. Ich besuchte den deutschen Optiker M. in Odessa. Wenn es um meine Brille geht, bin ich Patriot. Man könnte auch sagen, ich bin ein Brillennazi. Ich lebe zwar schon ein halbes Jahr in Odessa, vertraue aber noch immer nicht ukrainischem Handwerk. Das liegt auch an Ardo FLS 105 S, meiner Waschmaschine. Ich habe sie in Odessa gekauft, sie stammt aber aus Italien. Dass sie aus Italien stammt, verrät der riesige Aufkleber neben dem Bullauge. Ich frage mal ganz naiv: Wie schlimm müssen ukrainische Waschmaschinen sein, wenn ukrainische Waschmaschinenverkäufer italienische Waschmaschinen als Spitzenprodukte anpreisen? Denkt der Ukrainer bei Italien an Fußball, Mafia, Spaghetti, Mailänder Scala, Dolce&Gabbana und Waschmaschinen?

Die Persönlichkeitsstörung des Kindergartencowboys

Beim Optiker M. hing eine deutsche Fahne. Der Chef wusste, was ich wollte, er schwieg die meiste Zeit, nickte gelegentlich unauffällig und ersparte mir die Fassungen für Männer, die Intellektuellengesichtsschmuck suchen. Mir muss niemand erzählen, eine Brille könne die Persönlichkeit hervorheben. Ich hatte früher ein Nasenfahrrad als einen Roller. Beim Fasching im Kindergarten war ich der einzige Cowboy mit zwei Halftern, einen für die Pistole, den anderen für die Brille. Wenn es zum Duell kam, zog ich erst links, um den Halunken überhaupt zu sehen, und dann rechts. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mal jemand erledigt hätte. Wer so aufwächst, entwickelt genug Persönlichkeit.

Als ich meine Brille am Sonnabendmorgen vom deutschen Optiker M. abholen wollte, war es drinnen stockfinster. Ich erkannte mit Mühe drei Gestalten, die regungslos in der Mitte des Raums standen. Der Chef erzählte, er habe die Gläser nicht schneiden und einsetzen können, weil es in der ganzen Straße keinen Strom gebe. Seine zwei Helferinnen zeigten mir ihre leeren Hände. Vor den anderen Geschäften, vor den Cafés und Restaurants brummten Generatoren und sorgten für Strom. Die Werbeschilder leuchteten, die Musik dröhnte. Mein Optiker hatte ein Batterie betriebenes Leselämpchen, das einen schmalen Streifen blauen Lichts spendete, vielleicht war es auch nur das Solarium für einen aus Afrika eingeschleusten Brillenwürger (wissenschaftlicher Name: Prionopidae). Acht Stunden später, kurz vor Ladenschluss, schaute ich noch einmal vorbei. Die drei Gestalten standen noch genauso da wie am Morgen. Nur das Glühlämpchen war jetzt tot.

Oleg macht Hündchen

Ich rief Oleg an und bat ihn, mich abzuholen, ich war verzweifelt und wütend, ich wollte mich beklagen, ein bisschen spazieren und dann irgendwo etwas essen. Ich brauchte Trost oder wenigstens Mitleid. Oleg kam erst nach einer Stunde. Er stieg aus dem Bus, brach von einer Akazie einen dicken, langen Zweig ab, reichte ihn mir, bellte ein paar Mal und schnupperte an meinem Hosenbein. Dann lachte er mich aus.

„Warum gehst du auch zu einem deutschen Optiker?”
„Deutsche Optiker sind zuverlässig.”
„Aber doch nicht in Odessa, Mensch”, schrie Oleg. „Denk doch mal nach. Hier fällt oft der Strom aus. Wenn ich eine witzige Kolumne brauche, aber der Bürgermeister gerade eine einwöchige Humorausbruchssperre verhängt hat, frage ich doch auch nicht einen deutschen Kolumnisten. Der hält sich doch daran.”
„Was willst du mir sagen, Oleg?”
„Ich mach es kurz, Kolumnist: selber Schuld, kein Mitleid.”
“Du bist ein echter Freund.”
“Weißt du, wie oft ich früher Hausaufgaben im Kerzenschein gemacht habe?”, fragte Oleg. “Es gab in Odessa Zeiten, da musste ich mit einem Feuerzeug in der Hand Bruchrechnung üben. Und trotzdem bin ich klüger als du – und schöner ja sowieso.”

Draußen war es kalt. Wir übertönten mit unserem Streit die Generatoren. Unsere Atemwolken boxten in der Dunkelheit miteinander. Oleg und ich schnauften wie zwei sibirische Schlittenhunde, die schon den dritten Tag Altkanzler Helmut Kohl und die ukrainische Schauspielerin Ruslana Pisanka durch die Arktis ziehen. Wir wollten uns prügeln. Ich verzichtete auf einen Faustkampf, weil ich mich rechtzeitig an meine Zeit als Kindergartencowboy erinnert hatte.

Verliebt in die Prinzessin der Küche

Am Abend vergaß ich in der Kneipe einen schönen Pullover, nachdem ich ohne Brille zu tief ins Glas geschaut hatte. Am Sonntagmorgen kaufte ich auf dem Priwos-Markt die Prinzessin der Küche, einen Gemüse- und Obstschneider vom Allerfeinsten. Sie kann einer Gurke eine Krone aufsetzen und eine Mandarine schälen, wie noch nie eine Mandarine geschält worden ist. Das hatte der Verkäufer jedenfalls erzählt.

Danach kaufte ich noch Casino Royale. Die DVD lag auf einem Stapel zwischen Jeanshosen und Datteln. Ich wollte sie Oleg schenken, der James Bond liebt. Oleg aber schaute die Hülle an und sagte: „Das ist Ein Quantum Trost. Falls du es vergessen hast, wir waren am 6. November zusammen im Kino. Ich hatte Karten für die Premiere besorgt.” Am Sonntagnachmittag wäre ich dann noch fast überfahren worden. Ich ging um halb acht schlafen, nachdem ich mit der Prinzessin der Küche eine Gurke massakriert hatte. Meine Brille war am Montagmorgen fertig.

Oleg streichelte die Bohrmaschine. „Es wird gleich dunkel”, sagte er. “Was ist jetzt? Schrauben wir schnell das Blech auf die Motorhaube? Drei Löcher reichen.”
„Nur wenn du mir die Prinzessin der Küche abkaufst.”
Oleg starrte den Karton an, studierte die Farben und die Aufschrift, überlegte lange und fragte dann: “Späte achtziger oder frühe neunziger Jahre, was meinst du?”
“Die Prinzessin ist eine Weltneuheit. Du findest sie noch nicht einmal im Internet.”
“Also späte Achtziger”, sagte Oleg. “Ich nehme dein Geschenk zurück. Du bist sowieso kein Tuningtyp. Guck dir doch deine neue Spießerbrille an.”

Nachtrag: Das kann kein Zufall sein. Im Wochenendmagazin der Süddeutschen Zeitung steht heute ein Interview mit Woody Allen. Eine Antwort: “Wegen der hier (er fasst sich an die Brille) halten mich die Leute für einen Intellektuellen.”

Nachtrag 2: Christian Zaschke schreibt in “Hängende Spitze”, der Montagsfußballglosse der Süddeutschen Zeitung: “Die Würger gehören zur Ordnung der Sperlingsvögel, bisweilen werden weitere Familien einbezogen; zu nennen wären Buschwürger (Malaconotidae), Brillenwürger (Prionopidae), Schnäpperwürger (Platysteiridae), Vangawürger (Vangidae) und natürlich die Warzenköpfe (Pityriasidae).”

Der Text ist leider bislang nicht online.

Ein Sonnabend in Odessa

ODESSA, UKRAINE Ich würde gern wieder etwas schreiben, leider ist das unmöglich. Meine Brille ist kaputt, ich sehe so gut wie nichts. Nachher diktiere ich meiner Sekretärin die entsprechende Kolumne. Schauen Sie sich doch bitte so lange die Fotografien an, die heute Morgen beim Spaziergang durch Odessa entstanden sind. Oder lesen Sie, um sich vorzubereiten auf die zweite Brillenkolumne, abermals die erste Brillenkolumne vom 4. September: Meine Brille gehört mir. Ich taste mich jetzt zum Optiker.

Park vor dem Bahnhof
Park vor Odessas Bahnhof
Bahnhof
Odessas Bahnhof
Zwischen den Zügen

Blick aus dem Wartesaal
Blick aus dem Wartesaal auf die Gleise
Gemüsehändler auf dem Markt Privos
Gemüsehändler auf dem Markt Priwos

Blick auf den Priwos
Blick auf den Priwos

Hinter dem Priwos

Wie heißt d@ auf Russisch?

Da Sie von der schweren Kost der vergangenen Tage so tüchtig genascht haben, belohne ich Sie jetzt mit einem Gewinnspiel. Wie heißt das @-Zeichen auf Russisch? Ausgeschlossen sind der Rechtsweg und Verwandte des Blogbetreibers. Bei mehreren richtigen Antworten entscheide ich, wer gewinnt. Vielleicht lose ich, mal sehen. Der Gewinner bekommt jedenfalls eine Kaffeetasse mit den Wahrzeichen der Stadt Odessa und darf wählen, ob sie benutzt oder unbenutzt sein soll; es gibt ja auch Bloggergroupies.

Schicken Sie Ihre Antwort an christoph [punkt] wesemann [klammeraffe] gmail [punkt] com.

[Ich entschuldige mich für das Wortspiel in der Überschrift. Wenn mal einmal anfängt, kann man nicht mehr aufhören. Das ist eine K@tenreaktion.]

Nachtrag, 21 Uhr: Ein junger Mann aus Berlin hat mir soeben, 15 Minuten nach Veröffentlichung, das richtige Lösungswort geschickt. Ich habe ihm schon eine Kaffeetasse versprochen – aber das bleibt eine Ausnahme. Ich bin ja kein Oligarch.

Nachtrag, 24. November: Was halten Sie davon, wenn wir die Spielregeln ein bisschen ergänzen? In die Verlosung schaffen es nun auch die amüsantesten @-Wortspiele. Axel und ich starten außer Konkurrenz. Bringen Sie mir Ihre Sch@ze. Schw@zen Sie den Kommentarbereich voll. Denken Sie nur mal an den deutschen Abwehrspieler, der bei Real Madrid so oft auf der Bank sitzt, oder an das Oberhaupt der Familie Feuerstein.

Kolumne: Gasperletheater

ODESSA, UKRAINE Dies könnte meine letzte Kolumne sein. Ich kann nichts versprechen, aber es sieht ein bisschen so aus, als würde ich mich bald verabschieden. Dabei habe ich viele Ideen, ich plane zum Beispiel eine Orgasmuskolumne, um den Mangel an Leserinnen in diesem Blog zu beheben. Leider hat die Familie das Stück bislang nicht zur Veröffentlichung freigegeben, ich werde ein paar Stellen, die ich für Höhepunkte meines Schaffens halte, streichen – falls es dazu überhaupt noch kommt.

An der schweren Stahltür hängt seit gestern ein Schreiben von Odessas Gasgesellschaft. Unser Haus hat Schulden in Höhe von 1400 Griwen, also weniger als 200 Euro. Ich finde, bei einem solchen Betrag muss man nicht gleich drohen, schon morgen könne das Gas abgestellt werden. Ich gerate doch so leicht in Panik. In der Wohnung stehen drei Eimer mit Wasser für den Fall einer Dürre, ich besitze 104 Kerzen und 33 Streichholzschachteln, aber ich werde cool bleiben können, wenn die Sonne zwei Wochen am Stück nicht aufgeht, ich besitze auch so viele Spritzen, Mullbinden, Pflaster, Kompressen, Plastikhandschuhe und Vitamintabletten, dass ich halb Odessa Erste Hilfe leisten könnte, ich übe zweimal in der Woche, dienstags und freitags, an mir selbst die stabile Seitenlage und wiederbelebe gleich danach mit Mund-zu-Maul-Beatmung irgendein Kuscheltier.

Aber dieses Schreiben der Gasgesellschaft macht mich fertig. Ich fühle mich machtlos, ich habe gedacht, ein Sack Grillkohle könnte mich beruhigen. Nein, der Sack beruhigt mich nicht, der nimmt nur Platz weg. Wahrscheinlich werde ich mich von einem Wassereimer trennen müssen.

Dr. Frost oder Frieren als Studienfach

Es gibt in Odessa eine Nationale Frostakademie. Das ist kein Scherz, ich habe alles selbst gesehen: den Stempel des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Ukraine, den Dreizack, den Code, die Unterschrift eines vereidigten Übersetzers für Deutsch und Ukrainisch, die Unterschrift eines stadtbekannten Notars. Ganz oben auf dem Abschlusszeugnis stand: Nationale Frostakademie Odessa. Der vereidigte Übersetzer hat mir versichert, dies sei die korrekte Übersetzung. Ich habe mir das Foto des Absolventen zeigen lassen. Das Gesicht des Absolventen der Nationalen Frostakademie Odessa sah aus, als wäre es, nun ja, gerade aufgetaut.

Ich weiß nicht, wie lange ich in einer Wohnung ohne funktionierende Heizung Kolumnen schreiben kann. Meine Form ist extrem temperaturabhängig. Mir fällt ja schon nichts mehr ein, wenn ich an den Klimawandel auch nur denke. Ohne regelmäßige Wärmezufuhr wird die Witzefabrik in meinem Gehirn irgendwann schließen, schon jetzt läuft ja die Produktion ziemlich schleppend, weil es draußen so kalt ist und ich kein Mützengesicht habe.

Mein Freund Oleg hat kein Mitleid. „Hör mal, Gasputin, hast du eine Ahnung, wie kalt es im Winter 2004 auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz war, als wir die Orange Revolution gemacht haben?”, hat er vorhin gefragt.
„Woher soll ich das wissen?”
„Es war kutschmakalt. Aber ein Revolutionär kennt keinen Schmerz. Reiß dich zusammen.”

Die Klack-klack-klack-Königin und die Wau-wau-wau-Witwe

Ich würde gern wissen, wer bei mir im Haus ein Gasdieb ist. Ich verdächtige zunächst einmal jeden und lasse mich von der langbeinigen Schönheit unterm Dach, deren Stöckelschuhe so herrlich klackern, wenn sie die Treppe hinabsteigt, genauso wenig blenden wie von der hundelieben Babuschka im ersten Stock. Ich verurteile auch niemanden – weder die Klack-klack-klack-Königin noch die Wau-wau-wau-Witwe.

Einmal im Monat klingelt bei mir eine Frau, zeigt ihren Ausweis, tritt ein, liest den Stromverbrauch ab und kassiert nichts. Zwei Tage später klingelt die Vermieterin, zeigt ihren Ausweis nicht, tritt ein, lässt mich den Stromverbrauch ablesen und kassiert die Miete. Einmal im Monat erzählt mir die Untermieterin der Hundehütte irgendetwas vom Wasser, das ich bezahlen muss. Einmal im Monat finde ich an der Tür einen Brief der ukrainischen Telekom, dabei habe ich nur ein Handy, das ich selbst auflade. Einmal im Monat, meist an jedem Dritten, bringe ich einer Telefongesellschaft, deren Namen ich gar nicht kenne, 150 Griwen vorbei, damit ich weiter Internet habe. Einmal im Monat gebe ich außer meinem Sohn auch noch einen nicht ganz kleinen Geldbetrag im Kindergarten ab.

Bisweilen, erst vorgestern wieder, spende ich dem Kindergarten Geld, weiß aber nicht mal ungefähr, wofür. Während mir die Erzieherin erklärt, was wem wann und warum gekauft werden soll, rechne ich meine Spende in Dollar und Euro um. Bisweilen, erst heute wieder, pumpt mich Oleg an. „Ich brauche was von der Kolumnistenkreditbank“, hat er gesagt. „Aber ich unterschreibe nichts. Ich habe sowieso keine Sicherheiten.” Bisweilen, wahrscheinlich schon morgen wieder, guckt mich die Frau, die den Hausflur wischt, an, als erwarte sie, dass ich mich an ihrem Lohn beteilige.

Das doppelte Ländchen

Sehr oft verlasse ich morgens mit 50 Griwen die Wohnung und komme abends mit ein paar Kopeken heim, ohne dass ich irgendeine Quittung in der Tasche habe. Nachts träume ich, dass Kolumnistenkollege Axel die Zugangsdaten meines Blogs ändert und das neue Passwort erst herausrückt, nachdem ich ihm ein Lösegeld überwiesen habe. Ich besteche Polizisten, Ärzte und Krankenschwestern, um entweder weniger scharf oder viel schärfer kontrolliert zu werden. Sollte noch irgendjemand von mir verlangen, geschmiert, bespendet, bezahlt, belohnt oder bekreditiert zu werden, verliere ich endgültig den Überblick über meine Finanzen.

Ich bin auch erschöpft, weil es in der Ukraine alles doppelt gibt. Es gibt zwei dominierende Konfessionen – die Ukrainisch-orthodoxe Kirche und die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patronats -, zwei Sprachen, zwei russische Verben für eine Tätigkeit, zwei Klitschkos. Nichts von alledem kann ich auseinanderhalten.

Trotzdem weiß ich ganz sicher, dass ich meine Gasrechnung bezahlt habe, ich könnte es sogar beweisen, wenn ich nur die Quittung hätte, ich erinnere mich, es war an dem Tag, als es so stark geregnet hat oder die Sonne brannte, ich habe ein gutes Gedächtnis, ich sehe geradezu vor mir, wie ich das Geld übergeben habe – an Oleg oder die Kindergärtnerin, an die Putzfrau oder den Verkehrspolizisten, an meinen Arzt oder eine Krankenschwester, an die Stöckelschuhträgerin von oben oder die Hundehalterin von unten, an die Vermieterin, die Stromableserin oder an Axel.

Schöne olle Kamellen (II)

ODESSA, UKRAINE Ich weiß, ich komme mit dieser Geschichte ein bisschen spät. Aber ich habe sie gerade erst gefunden. Kurz zum Verständnis: Die Skyliners Frankfurt, eine deutsche Basketballmannschaft, mussten im Europokalspiel zum ukrainischen Gegner MBC Nikolaev reisen – ja ja, das Leben eines Sportler hält schon Schicksale bereit.

Und nun kommt die Deutsche Presseagentur vom 14. Oktober:

«Wir konnten seit drei Tagen nicht trainieren und sind zwei Tage ununterbrochen unterwegs. Das sind natürlich schwierige Bedingungen, um eine Partie von einer solchen Bedeutung zu spielen», sagte Sportdirektor Kamil Nowak vor dem Hinspiel der ersten Qualifikationsrunde im neu geschaffenen EuroChallenge-Wettbewerb.

Die Skyliners waren am 13. Oktober um 08.00 Uhr zu der ohnehin aufwendigen Reise aufgebrochen. Wegen Nebels in Frankfurt/Main hatte sich zunächst ihr Abflug nach Budapest verzögert.(…)

Der Abflug in die Ukraine war am Folgetag auf 12.45 Uhr angesetzt, die Ankunft auf 15.20 Uhr. Den Basketballern wurde zugesichert, dass sie am Flughafen in Odessa schnell abgefertigt würden. Allerdings stand ihnen noch eine dreistündige Busfahrt nach Nikolaew bevor. «Die FIBA hat uns erklärt, dass das Spiel notfalls um ein paar Stunden verlegt würde. Wir müssen mit dem Bus direkt in die Halle. Das ist alles sehr schwierig», so Nowak. Mehr

Hihi. Mein Mitleid hält sich in Grenzen, was möglicherweise daran liegt, dass ich einmal mit Auto von Schwerin nach Odessa gefahren bin – die Reportage über diese turbulente Reise kündige ich hiermit vollmundig an. Die Frankfurter hatten immerhin eine Polizei-Eskorte von Odessa nach Nikolaev.

Das Beste zum Schluss: Als ich am 15. Oktober nach Deutschland geflogen bin, saßen in Odessas Flughalle auch sehr große Jungs im Trainingsanzug herum. Ich habe leider kein Foto gemacht, kann aber berichten, dass Pascal Roller - der Guard der Frankfurter – den “Spiegel” las. Mein Abflug nach Prag verzögerte sich übrigens – und es war kein Nebel in Odessa. Statt in Hamburg landete ich in Berlin. Und die Koffer waren auch nicht da. Wie gesagt: hihi.

Das Spiel in Nikolaev endete übrigens 75:68 für die Skyliners. Pascal Roller – Hobbys: reisen, lesen, ins Kino gehen – erzielte 15 Punkte und war zweitbester Schütze seiner Mannschaft. Gratulation!

Kolumne: Wann ruft Guido Knopp an?

ODESSA, UKRAINE Als Kolumnist fehlt mir eindeutig das Repertoire. Fast immer schreibe ich über dieselben Leute, was möglicherweise nicht weiter auffiele, wenn es mehr als zwei wären oder einer der beiden nicht Adolf Hitler hieße. Ich bin kein Ewiggestriger, der in der Vergangenheit lebt, ich trage zwar einen Seitenscheitel, aber das hat eher optische als ideologische Gründe. Allmählich komme ich in ein Alter, in dem ein vernünftiger Mann an jedem Haar hängt, weil er nichts mehr zu verschenken hat von dem, was auf dem Kopf noch wächst. Die Haare vermehren sich ja nicht – jedenfalls nicht dort. Als einer, der schon einige Geburtstage in seinem Leben gefeiert hat, würde ich, wenn ein Schurke käme und „Geld oder Glatze, Hunderter oder Haarausfall” riefe, immer das Portmonee zücken, egal, wie viel ich verlöre.

“Hitlers Kolumnist”

Ich schreibe also entweder Kolumnen über Oleg, weil er mein Freund in Odessa ist, oder über Adolf Hitler, weil gerade ein Nachbar mein Auto demoliert hat, um sich an einem Deutschen für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu rächen. Wenn der ZDF-Geschichtslehrer Guido Knopp irgendwann „Hitlers Kolumnisten” macht, weil ihm nichts mehr einfällt, bin ich ganz sicher dabei, so viel steht fest.

Und jetzt fragen mich Journalisten, wie ich auf den Skype-Skandal gestoßen sei. Bei diesem Kommunikationsdienstleister haben sich mehr als 30 Nutzer aus der ganzen Welt als Adolf Hitler angemeldet. Auch Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Hermann Göring und Dr. Josef Mengele skypen. In vielen Profilen stehen Hakenkreuze neben Hetze. Es ist sehr unappetitlich.

Wie erklärt man Journalisten und Lesern, dass man Adolf Hitler jagt? Ich habe mich ein bisschen in Lügen verstrickt, ich war überfordert. Zunächst behauptete ich, ich hätte den Führer fragen wollen, ob er wegen der Weltfinanzkrise ein Comeback plane. Ich hielt diese Antwort für einigermaßen originell, bekam aber bald Angst, ich könnte als doppelter Verharmloser dastehen: von Hitler und vom Bankensterben. Ich habe mich danach auf alles berufen: Zufall, Tippfehler, Gier nach Ruhm. Was mein Mund sonst noch so ausgespuckt hat, weiß ich gar nicht mehr. Bestimmt habe ich auch ein paar Mal Oleg die Schuld gegeben.

Klein Adolf in Ägypten

Oleg hat mich vorhin aufgeregt angerufen und gesagt: „Mir ist etwas eingefallen. Was ist eigentlich mit den Leuten bei Skype, die wirklich heißen wie die alten Nazis, ohne neue Nazis zu sein? Warum soll in Algerien, den USA, Tschechien, Kuba, Finnland, Kanada, Trinidad und Tobago oder Ägypten nicht ein Mann so heißen?”
„Ich bin kein Ägyptologe, aber ich bezweifele, dass viele ägyptische Eltern ihr Baby Adolf Hitler nennen, ich glaube das eher nicht”, sagte ich. „Ich rufe für dich auch gern die größte Geburtsstation von Trinidad und Tobago an und frage, wie viele Adolfchen in der letzten Nacht auf die Welt gekommen sind.”
„Aber was ist mit diesem Busfahrer in Wien, der angeblich wirklich so heißt?”, fragte Oleg. “Willst du dem das Skypen verbieten?”
„Oleg, glaubst du, das größte Unglück eines Mannes, der im wahren Leben Adolf Hitler heißt, wäre, nicht mehr skypen zu dürfen?”

Gestern Nacht habe ich von meiner Beerdigung geträumt; es war insgesamt doch sehr feierlich. Der Sarg hätte vielleicht ein bisschen schöner sein können. Aber wer sollte unter der Erde über meine geizige Familie lästern? Der Pfarrer sagte, ehe er mich verabschiedete: „Er hat sein Kolumnistenleben ganz und gar Adolf Hitler gewidmet.”

Muss ich erwähnen, dass nicht sehr viele Leute bei meiner Beerdigung gewesen sind?

Dieser Text ist auch auf kolumnen.de veröffentlicht. Dort finden Sie natürlich viele andere großartige Kolumnen großartigen Autoren. Nein, ich übertreibe nicht.