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Eine Erregung: Glückwunsch, Odessa!

ODESSA, UKRAINE Ich staune auch nach 15 Monaten noch, wie in Odessa groß und offiziell wichtig gefeiert wird. Nehmen wir einmal das Fest zum 215. Geburtstag der Stadt – lange kann die Planung nicht gedauert haben. Unmöglich hat sich da irgendjemand in der Verwaltung auch nur länger als zwei Minuten Gedanken gemacht, sonst hätte dieses Fest nicht ausgesehen, wie es ausgesehen hat: als hätten sich die Mitglieder des Organisationskomitees am Vortag kurz vor Feierabend zum ersten Mal versammelt, sich ein paar Ideen zugeworfen und dann ein Programm zusammengeklöppelt:

“Machen wir eine große Bühne mit Livemusik.”
“Am besten an der Treppe.”
“An der Treppe, wow, wäre ich nicht drauf gekommen. Das ist gut. Das wird fantastisch.”
“Wir brauchen unbedingt Blumen. Ein Geburtstag ohne Blumen geht gar nicht.”
“Machen wir doch eine Blumenschau.”
“Ist das nicht langweilig?”
“Hey, die Blumen sehen aus wie Herzen, total romantisch.”
“Oh, tschuldige, ich habe nix gesagt.”
“Leute! Leute! Vergesst mir das Feuerwerk nicht.”
“F-e-u-e-r-w-e-r-k! Chef, Sie sind der Größte!”
“Gut, wir haben’s oder? Dann schönen Feierabend!”

So ein Kitsch-her-Projekt führt dann zu einem Fest, das unheimlich teuer ist, aber billig aussieht, das bunt sein soll, aber nur grell ist, das laut ist, aber unhörbar. Und die Besucher werden erst gar nicht einbezogen. Sie dürfen sich vor Blumen in Herzform fotografieren lassen, ein Konzert beklatschen und sich betrinken.

Um es anders zu sagen: Mich irritiert und besorgt, dass diese Stadt keinerlei Anspruch hat, ihren Bürgern irgendetwas mitzugeben, wenn die Chance mal besteht. Da gibt es keinen Stand, der vor Aids und HIV warnt, obwohl die Ukraine die höchste Infektionsrate Europas hat und Odessa da noch einmal Spitzenreiter ist. Da präsentiert sich kein einziger Verein der Stadt, und es wird gar nicht erst versucht, für so etwas wie ehrenamtliches Engagement zu werben – obwohl nichts dringender gebraucht würde.

Ich will nicht moralisieren. Ich erwarte aber ein bisschen mehr von einer Supermetropole, die so verdammt stolz ist auf sich und gelegentlich herabschaut auf den Rest des Landes und der Welt, in der überall sinnfreie Angeber-Plakate hängen – von “Ich liebe dich, mein Odessa” bis “Das ist unsere Stadt” -, die gleichzeitig erstickt an ihren Problemen, in der Obdachlose stundenlang leblos auf dem Bürgersteig liegen und sogar Polizisten an ihnen vorbeilaufen.

Vor allem aber verstehe ich nicht, dass Leute diesen Unsinn, diesen Spuk, diese Volksverarschung mitmachen, ohne laut zu schreien, den Kopf gegen die Wand zu schlagen oder wenigstens das Rathaus zu stürmen.

(Wenn meine Kamera repariert ist, werden die Fotos vielleicht wieder besser.)

Dumm und Duma

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes

Das Taurische Palais war Geburtsstätte, Zitadelle und Friedhof der russischen Demokratie. Bis Februar 1917 war es Sitz der Duma. (…) In dieses elegante Palais brachten die bäuerlichen Duma-Abgeordneten die politische Kultur ihrer Dorfscheunen. “Man musste sich nur in diesem bunten Haufen von … ,Abgeordneten’ … umsehen”, bemerkte ein schockierter höherer Beamte, “und man schauderte angesichts dessen, was sich einem da als Russlands erste Abgeordnetenversammlung darbot. Es war eine Ansammlung von Wilden. Offenbar hatte die russische Provinz alles, was es dort an Barbarischem gab, nach Petersburg gesandt.” (…) Der muffige Geruch vom billigen Tabak der Bauern und ihrer Kleidung füllte die langen Gänge des Palais. Der Boden war übersät mit den Spelzen ihrer Sonnenblumenkerne, die sie trotz aller Verbotsschilder überall hinspuckten, da die meisten von ihnen gar nicht lesen konnten. Einige Bauernabgeordnete betranken sich in Kneipen, gerieten in Schlägereien, und wenn versucht wurde, sie zu verhaften, beriefen sie sich auf ihre Immunität als Duma-Abgeordnete. Zwei erwischte man sogar dabei, wie sie “Eintrittskarten” ins Taurische Palais verkauften. Es stellte sich heraus, dass sie bereits kleinerer Diebereien und Schwindeleien überführt worden waren, weshalb man sie eigentlich von der Wahl hätte ausschließen müssen.

Zum Glück ist heute alles ganz anders.

Bitte nicht stören!

Viktor Juschtschenko, der allseits unbeliebte Staatspräsident, wird morgen Odessa besuchen. Wie die Regionalverwaltung für Kraftfahrzeuginspektion mitteilt, müssten sich Einwohner und Gäste der Stadt auf ein paar Einschränkungen vorbereiten. Der Bericht der Nachrichtenseite “Vikna-Odesa” trägt die herrliche Überschrift:

Präsidentenbesuch: Odessiten werden gebeten, die “zu beschützende Person” nicht zu stören.

Autofahrer sollen das Zentrum für die Dauer von Juschtschenko Visite (10 bis 21 Uhr) weiträumig umfahren. Fußgänger werden aufgefordert, im Falle des Erscheinens der Präsidentenkolonne auszuweichen und nicht die Straße zu überqueren. Autos, die auf dem Bürgersteig oder am Straßenrand parken, können – sofern auch sie stören – abgeschleppt werden.

Eine junge Odessit, die ich gerade getroffen habe, sagte: “Odessa wird morgen zum Irrenhaus. Wir leben in einer Monarchie. Und Juschtschenko glaubt tatsächlich, er wäre unser König. Dabei ist er nicht mal unser Präsident.”
“Ich muss doch aber zum Flughafen”, sagte ich.
“Es ist Juschtschenko vollkommen egal, dass Herr Wesemann aus Deutschland zum Flughafen muss, um seine Schwiegereltern abzuholen.”

Kolumne: Oleg und die Gänsefüßchen

ODESSA, UKRAINE Manchmal ist mein Freund Oleg ein bisschen arg begriffsstutzig. Woran das liegt, weiß ich nicht, wahrscheinlich bin ich selbst nicht der Hellste, sonst wüsste ich es bestimmt. Gestern Abend hat er mich wieder besucht.
„Kommst du, um dich zu entschuldigen?”, fragte ich.
„Nee, wieso?”
„Ich habe Sonnenbrand”, sagte ich.
„Es gibt Sonnencreme und Sonnenschirme.”
„Sonnenbrand kann sehr unangenehm sein.”
„Und was kann ich dafür?”, fragte er. „Gib mir mal bitte einen Teller Pelmeni.”

Gesundheitspfad am Strand

Ich erinnere mich gut. Am vergangenen Donnerstag hatte ich beschlossen, übers Wochenende wegzufahren. Ich würde am Montagmorgen in einer Pension mit Blick aufs Meer aufwachen. Montag war Feiertag in der Ukraine; offiziell, um genau zu sein, war der Feiertag zu Ehren der Verfassung bereits am Sonntag. Aber wenn in der Ukraine ein Feiertag aufs Wochenende fällt, ist der Montag grundsätzlich frei. Ich hatte mir am Donnerstagmorgen eine Reiseroute ausgedruckt, im Internet eine Pension gefunden und das Auto getankt. Dann kam Oleg zum Abendessen vorbei.
„Schon was vor am Wochenende, Kolumnist?”, fragte er und schaufelte einen Löffel Pelmeni in seinen Mund.
„Ich verreise.”
„Würd’ ich nicht machen”, sagte Oleg und kaute. „Die Pelmeni sind nicht schlecht, kannst du öfter kochen.”
„Mein Auto ist doch wieder legal.”
„Weiß ich, stand doch im Blog, dass du mit der Kolumnistenkarre nach Kutschurgan gekutscht hast. Hattest ganz schön die Hosen voll, oder? Ich würde trotzdem nicht fahren.”
„Das Auto ist legal!”
„Das Wetter wird aber beschissen”, sagte Oleg.
„Ist denn auf den ukrainischen Wetterbericht Verlass?”, fragte ich.
„Auf den ukrainischen Wetterbericht ist genauso viel Verlass wie auf alles Ukrainische. Aber das ist nicht der Punkt.”
„Was ist denn der Punkt?”
„Am Tag der ,Verfassung’”, sagte Oleg und zeichnete mit den Zeige- und Mittelfingern beider Hände unsichtbare Gänsefüßchen in die Luft, „am Tag der ,Verfassung’, übrigens auch am Tag davor und danach, ist das Wetter immer mies. Meistens regnet es, weil der Himmel weint.”
„Wieso sagst du eigentlich ,Verfassung’?”, fragte ich und setzte Anführungsstriche, wie es Oleg getan hatte.
„Ich versteh nicht.”
„Wieso sagst du ,Verfassung’ und nicht Verfassung?”
„Sehr witzig, hat die Ukraine eine Verfassung?”
„Du meinst also, ich soll zu Hause bleiben?”
„Drei Tage Regen, Sonnabend, Sonntag, Montag, kannst dich auf mich verlassen.”

Oleg, so viel weiß ich jetzt, ist kein Verfassungspatriot im engeren Sinne. Ich bin zwar auch keiner, aber ich kenne zumindest einige Deutsche, die es sind, also, ich kenne sie nicht direkt persönlich, eingefleischte Verfassungspatrioten wie Jürgen Habermas und Richard von Weizsäcker zählen eher nicht zu meinem Umgang, was vermutlich nicht nur am Altersunterschied liegt, sondern – siehe oben – auch ein bisschen an meinem Gehirnnebel. Ich hänge halt lieber mit Typen wie Oleg rum. In gewisser Weise verstehe ich ihn. Man braucht sich nur das Hickhack um die ukrainische Präsidentschaftswahl anzuschauen. Zunächst hatten 401 der 450 der Abgeordneten des Parlaments für den 25. Oktober als Wahltag votiert und sich auf die Verfassung berufen, um die Abstimmung vorzuziehen. Daraufhin klagte Staatsoberhaupt Viktor Juschtschenko vor dem Verfassungsgericht – und worauf berief er sich wohl? Genau. Er bekam Recht.

In der Verfassung steht, dass die Wahl am letzten Sonntag des fünften Amtsjahres des Präsidenten stattfinden muss. Allein diese Formulierung ist für mich intellektuell gar nicht fassbar. Als sei das nicht kompliziert genug, gibt es zum einen „unterschiedliche Interpretationen, auf welchen Termin dieser letzte Sonntag fällt”.  Zum anderen „ist umstritten, ob die Verfassung in ihrer jetzigen Form bereits anzuwenden ist, da die Wahlgesetzgebung während der Amtszeit des jetzigen Präsidenten geändert wurde”.
Nun wird wahrscheinlich – oder vielleicht, was weiß denn ich – am 17. Januar gewählt. Wer übrigens glaubt, die Parlamentarier hätten sich wegen des mutmaßlich schöneren Wetters für den Oktober und gegen den Januar entschieden, liegt falsch.

„Brauchst du Sonnencreme?”, fragte Oleg und füllte sich Pelmeni auf.
„Du hast gesagt, am Tag der Verfassung, am Tag davor und am Tag danach werde es regnen.”
Oleg schwieg, zuckte mit den Achseln und schmatzte.
„Du hast gesagt, der Himmel weine wegen der Verfassung.”
„Worauf willst du hinaus?”
„Es hat nicht geregnet am Verfassungswochenende, nicht ein einziges Mal, es war die ganze Zeit blauer Himmel, und das blöde Verfassungswochenende hat mir einen schönen Sonnenbrand verpasst”, sagte ich und fing auf einmal an zu schreien. „Ich hätte am Tag der Verfassung in einer wunderbaren Pension mit Meerblick aufwachen können, wie ich es geplant hatte – bis du kamst mit deinem Verfassungsdauerwolkenbruch.” Ich schrie sehr, sehr laut. „Weißt du, wie ich den Tag der Verfassung verbracht habe? Morgens bin ich zum Großeinkauf in den Supermarkt gefahren, nachmittags an den Strand, wo es so heiß war, dass ich jeder Fliege dankbar war, die ein bisschen Wind gemacht hat. Der Himmel hat nicht geweint, du Poetrologe.”
„Verfassung, Verfassung, Verfassung, ich höre die ganze Zeit Verfassung”, schrie Oleg.
„Ja und?”, schrie ich.
„Wovon redest du?”, fragte Oleg. Er schrie noch lauter, sein ganzes Gesicht war rot, es glühte wie mein Rücken. „Welche Verfassung?”

Alle Oleg-Kolumnen:


Aloholkontrolle

Falls es noch eines Beweises bedurfte, dass Ukrainer in der Europäischen Union diskriminiert werden:

Leserin Nataliya aus Kiew hat mir geschrieben, bislang sei die harte Landung der Blaumeise¹ noch gar kein Thema in der Ukraine.

Nachtrag: Offenbar ist der Skandal nicht zu verheimlichen. Wie bild.de berichtet, habe die Meldung gestern die Fernsehnachrichten “in der Ukraine und sogar in Moskau” beherrscht. Und weiter heißt:

Andere in Kiew verstehen die Aufregung überhaupt nicht. So zitiert „Russland aktuell” im Internet Luzenkos Fraktionskollegen Sergej Moskal. Der erklärte angeblich, wenn die Fraktion jeden Fall von Trunkenheit von Abgeordneten in der Öffentlichkeit diskutieren würde, wäre man bald arbeitsunfähig, denn es gäbe „keinen Abgeordneten der Fraktion, der nicht trinkt”.

¹ Die Werkbank, an der sich solche schiefen Bilder drechsele, kommt nächste Woche auf den Sperrmüll.

Nachbarschaftshilfe

Polens früherer Präsident Alexander Kwasniewski hat der Ukraine in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung ein miserables Zeugnis ausgestellt. Von einem “Staat mit eingebauter Blockade” spricht er und sieht in einer Verfassungsreform den einzigen Ausweg aus der ökonomischen Stagnation und den seit Jahren ungelösten Problemen: der Korruption, dem fehlenden Schutz des Eigentums, einem Rechtsstaat auf dem Niveau einer besseren Bananenrepublik. Er schreibt:

Der Mangel an staatlicher Effektivität führt dazu, dass eine schlechte ökonomische Situation immer schlimmer wird. Und er gefährdet die Integration des Landes in die Weltwirtschaft. Ohne eine Verfassungsreform wird eine Wirtschaftsreform schwierig, wenn nicht unmöglich sein.

Kwasniewski empfiehlt, die Verteilung der Rollen zwischen Staatschef, Premier, Kabinett und Parlament neu und klar zu definieren, um die Ukraine aus dem Dilemma “einer Art doppelten Präsidentschaft” zu befreien. Und am Ende seiner schonunglosen Analyse schlägt er vor, was beim Aufbau einer funktionierenden Verfassung beachtet werden muss:

  • mehr Mitsprache für die Bürger,
  • weniger Einfluss für die politischen Führer,
  • das Ausland als Vorbild.

Kwasniewski hat übrigens ganz gute Kontakte in die ukrainische Politik. Er war mit dem keineswegs sehr demokratischen Ex-Präsident Leonid Kutschma befreundet und hat 2007 von dessen Schwiegersohn, dem cleveren Oligarchen Viktor Pintschuk, Geld für seine Stiftung erhalten.

Kiewer Dachschaden

Quelle: Segodyna.ua

ODESSA, UKRAINE Hauptstadtoberbürgermeister neigen zur Schrägheit.¹ Es gibt aber Ausnahmen. Leonid Tschernowezki, der Herrscher über Kiew, ist ein Visionär, er hat revolutionäre Ideen. So will er den Fuhrpark seines Amtes verkaufen, die Posten der Stadtbeamten versteigern und Bürger nur noch zur Sprechstunde empfangen, wenn sie 100000 Dollar bezahlen. Die Eintrittsgebühr für Friedhöfe hat er sogar schon durchgesetzt.

Doch wie das nun mal ist mit Visionären – sie werden angefeindet. Das ukrainische Parlament hat jetzt eine ad-hoc-Kommission gebildet, um am Oberbürgermeisteroberstübchen einen Dachschaden nachzuweisen. Unterstützt vom Gesundheitsministerium, fordert sie ein psychiatrisches Gutachten – sollte es negativ ausfallen, könnte der Visionär seines Amtes enthoben werden.

Der Politiker, natürlich Millionär, verteidigte sich, wie es in anderen Kulturen undenkbar wäre. Er lief im Dynamo-Stadion 400 Meter, machte 15 Klimmzüge und schwamm eine Bahn im Schwimmbad. Danach posierte er für Fotografen in einer violetten Badehose und in Schwimmbadschlappen, zeigte seine Hauptstadthühnerbrust und sagte: “Schaut euch meinen Körpern an, kann ich nicht normal sein?” Generell denkt er in ganz großen Dimensionen über sich: “Fähige Leute haben Eigenarten. Genialität grenzt häufig an Wahnsinn.”

Dass ausgerechnet das Parlament – Kiews größter Boxring – das Stadtoberhaupt nicht für normal hält, ist natürlich eine schöne Schlusspointe.

¹ Denken Sie nur an Londons Ex-Bürgermeister Ken Livingstone, der US-Präsident George W. Bush “die größte Bedrohung für das Leben auf diesem Planeten” nannte. Für Berlins Regierenden Klaus Wowereit führe ich erst gar keine Belege an.

Politikerbeschimpfung

Weil das erste Mal so schön gewesen ist:

Vergiß die Politik, lies keine Zeitung, hör kein Radio, schlag den Fernseher ein, stell ein Farbporträt von Mao oder Fidel hinein, laß dich nicht verarschen, geh nicht ins Netz, geh nicht wählen, sag nein zur Demokratie, geh nicht auf Demos, tritt keiner Partei bei, verkauf deine Stimme nicht den Sozialdemokraten, beteilige dich nicht an der Diskussion über das Parlament, sag nicht “Mein Präsident”, unterstütze nicht die Rechten, unterschreib keine Petitionen an den Präsidenten – das ist nicht dein Präsident, wink nicht dem Gouverneur, wenn du ihn auf der Straße siehst, du wirst ihn sowieso nie auf der Straße sehen, geh nicht auf Kandidatenpartys, du hast keinen Kandidaten, vergiß die Gewerkschaften – sie nutzen dich aus, sag nein zur nationalen Wiedergeburt, dich hängen sie als ersten auf, du bist ihr Feind, ihr Jude, ihr Schwuler, du bist ihr Faschist und Bolschewist, du störst ihren Politikbetrieb, störst ihre Absprachen, ihre frisierten Fernsehratings, du störst sie dabei, dich zu verarschen, das Internet zu kontrollieren, Wahlkämpfe zu gewinnen, die Demokratie aufzubauen, Kundgebungen zu veranstalten, das Parteileben zu ordnen, die Sozialdemokraten zu bekämpfen, Gesetze zu blockieren, den Volkspräsidenten an die Macht zu bringen – ein Volk braucht einen Volkspräsidenten! sich mit den Rechten zu einigen, eine Petition an den Präsidenten, an den Volkspräsidenten, auf den Weg zu bringen, den Gouverneur an den Eiern zu packen [...] Die Politik ist käuflich, Zeitungen und Radio sind käuflich, die Glotze – die Wahrheit über die Glotze kennst du selbst! Mao ist tot, Fidel ist tot, laß dich nicht verarschen. Das Netz wird kontrolliert, die Wahlen sind käuflich, die Demokratie ist tot, das Parlament käuflich, der Präsident käuflich – du hast überhaupt keinen Präsidenten [...] denk nicht an Politik, in der Zeitung – alles Verräter! im Radio – Verräter! im Fernehen – Verräter! Mao – ein Verräter!, Fidel – ein verdammter Verräter! im Netz – nur Schwule und Verräter! bei den Wahlen – Verräter! Die Demokratie spitzelt, das Parlament spitzelt! der Präsident – ein Verräter, das ist nicht dein Präsident! die Rechten, der Gouverneur, der Kandidat – Verrrääääääter!

Serhij Zhadan: Anarchy in the UKR, Frankfurt am Main 2007, S. 57-59.

Die Pleite der Super-Oligarchen

ODESSA, UKRAINE Ist es eigentlich strafbar, einen Ukrainer ärmer zu machen, als er ist? Nein? Und reicher? Oder ist ein solches Vergehen zwar nicht justiziabel, aber sehr wohl gefährlich in der Ukraine?

Ich entschuldige mich in aller Form bei Rinat Achmetow, dem Superoligarchen und Förderer des Fußballklubs Schachtjor Donezk. Jüngst habe ich den Chef der Beteiligungsgesellschaft System Capital Management (SCM) in einem Essay ein Vermögen von 31 Milliarden Dollar – nun ja – angedichtet, muss ich wohl sagen. Das hat möglicherweise mal gestimmt, ist jetzt aber nachweislich falsch. Der reichste Ukrainer hat in der Weltfinanzkrise Geld verloren. “Kyiv Weekly” berichtet von 18 Milliarden Dollar. Das sind 70 Prozent. Keinen ukrainischen Oligarchen hat es härter getroffen. Klar, es besaß und besitzt auch niemand mehr als Achmetow, der laut der Zeitung mit 29 Milliarden Dollar ins Jahr 2008 gestartet war.

Doch der Zusammenbruch der Börsen und Banken hat nicht bloß Achmetow getroffen. “Kyiv Weekly” spricht vom “Fall of oligarchs”, vom Absturz jener Männer also, die in den neunziger Jahren an der Privatitisierung ukrainischer Staatsbetriebe verdient hatten und aufgestiegen waren. Die Firmen, die ihnen entweder gehören oder an denen sie stark beteiligt sind, sind jetzt deutlich weniger wert als vor der Krise. Für Viktor Nusenkis muss man fast schon mit dem Sammelbecher herumgehen. “He got 80% poorer.” Nusenkis, einst Direktor im Kohlebergbau und heute wie Achmetow Mitglied des Donezker Clans, ist bis auf 2,6 Milliarden Dollar verarmt.

Viktor Pinchuk hat vier Millionen Dollar seines Vermögens verloren – in Prozenten: 69. Herr Pinchuk war auch schon Gast in diesem Blog. Der Schwiegersohn des früheren Präsidenten Leonid Kutschma hat mal mit Achmetow für 800 Millionen Dollar das größte und profitabelste Stahlunternehmen der Ukraine kaufen dürfen, obwohl ausländische Investoren das Doppelte geboten hatten. Staatschef war damals, uups, Kutschma. Nach dessen Abschied erklärte ein Kiewer Gericht den Verkauf für ungültig.

Ganz glimpflich ist Dimitrij Firtasch davongekommen. Er hat nur 18 Prozent verloren. Allerdings besaß er vorher auch nur kümmerliche 2,4 Milliarden Dollar.

Jetzt wird es hart.

Auch Konstantin Schewago ist unter den Verlierern. Er hat für die Talfahrt des ukrainischen Eisenerzproduzenten Ferrexpo an der Londoner Börse bezahlt und als Mehrheitseigner – Firmentitel “Chief Executive Officer” – 80 Prozent seines Reichtums eingebüßt: fast drei Milliarden Dollar.

Übrigens: Schewago ist ein Parteifreund der Premierministerin Julia Timoschenko und sitzt seit 1998 im Kiewer Parlament.

Mittlerweile hat der Oligarch Igor Kolomojskij mit seinem Imperium, der Privat-Gruppe, einen Anteil von fast sieben Prozent an Ferrexpo erworben. Kolomojskij wird gern als “beinhart” beschrieben, stammt aus Dnepropetrowsk und gilt als Mitglied des dortigen Clans, womit man wieder bei Pinchuk ist, einem anderen Häuptling dieses Stamms.

Spitzenreiter, was den prozentualen Verlust angeht, ist Wladimir Boiko; der Vorstandschef und de-facto-Boss des Metallurgischen Kombinats Iljitsch Maripol hat 82 Prozent – 2,6 Milliarden Dollar – verloren.

Übrigens: Boika ist Sozialist und Mitglied des Parlamentausschusses für Industriepolitik.

So, das musste sein. Mehr wüssen Sie über die Ukraine erst einmal nicht wissen. Ach, fast vergessen: Rinat Achmetow, klar, auch Abgeordneter in Kiew. Jetzt dürfen Sie sich zurücklehren.

Zum Genießen kommt noch mal die in Heimarbeit zusammengeschraubte Tabelle:

Randnotiz 1: “Kyiv Weekly” spricht von “our oligarchs”.
Randnotiz 2: “Focus Money” hat am 2. Juli den Kauf von Ferrexpo-Aktien empfohlen. Die Überschrift hieß: “Eisenerz bringt Kohle”.
Randnotiz 3: Ja, ich weiß, dass es nicht witzig ist, wenn Aktien abschmieren, weil das Unternehmen dann möglicherweise Beschäftigte rausschmeißen muss.
Randnotiz 4: Letztlich ist das Geld natürlich nur auf dem Papier weg. Analysten allerdings glauben, dass die Oligarchen nicht vor 2013 den alten Reichtum wiedererlangen werden.