Schlagworte: Polizei

Kolumne: Klopfschmerzen

ODESSA/UKRAINE Ich bin ein Verräter. Ich habe den Sohn meiner Vermieterin, den ich kaum kenne, bei der Polizei verpfiffen. Vielleicht ist alles auch noch viel schlimmer – falls der Polizist an meiner Tür gar kein Polizist gewesen ist. Ich habe mir nämlich keinen Dienstausweis zeigen lassen.

Alles begann mit einem Klopfen an meiner Wohnungstür. Es klopft eigentlich nie jemand. Die Klingel ist sowieso kaputt. Ich habe nicht einmal ein Namensschild. Früher, in meiner ersten Odessa-Wohnung, in der Nähe des Ukrainischen Theaters, hat es gelegentlich geklopft und auch geklingelt. Meist kamen ältere Frauen, um die Werte vom Strom-, Gas- oder Wasserzähler abzulesen. In meiner zweiten Odessa-Wohnung mache ich das selbst und bringe die Ergebnisse – wie die Miete – in das Stammlokal meiner Vermieterin, das dadurch zwangsläufig auch mein Stammlokal geworden ist. Ich weiß nicht, was mit den Zahlen geschieht, nachdem ich sie abgeliefert habe. Alle paar Monate bezahle ich bei der Vermieterin kommentarlos einen dreistelligen Griwna-Betrag. Es ist nicht so, dass ich ihr vertaue, ich bin bloß zu faul, die Einzelheiten der Abrechnung zu verstehen.

Gestern stand also vor meiner Tür ein Mann von der Polizei. Er trug keine Uniform, nannte einen Namen und fragte, ob ich diese Person sei.
Ich verneinte, nannte meinen Namen und zitterte trotzdem.
„Kennen Sie ihn vielleicht?”
„Er ist der Sohn meiner Vermieterin”, sagte ich. „Aber ich kenne ihn kaum.”
„Was heißt denn kaum?”
„Er hätte fast mal meinen Boiler repariert, musste aber leider seinen Zug in den Skiurlaub bekommen.”
„Ich verstehe, dann kennen Sie ihn eigentlich doch recht gut.”
„Aber ich würde ihn nicht unbedingt wiedererkennen”, sagte ich. Damit konnte er eine Gegenüberstellung vergessen. „Ich habe auch nur die Telefonnummer meiner Vermieterin.”
„Die nehme ich.”
„Stimmt etwas mit der Wohnung nicht?”, fragte ich dann noch.
„Alles in Ordnung”, sagte der Mann, speicherte die Nummer und verschwand.

Ich bin kein Niemand mehr in meinem Viertel. Die vier Wochen auf Krücken nach meinem Unfall mit der Marschrutka haben mich zu einer Kiezgröße gemacht. Selbst die Türsteher im Supermarkt begrüßen mich per Handschlag. Wenn man ein halbes Jahr lang selbst von den Nachbarn im selben Stock ignoriert wird, nimmt man so etwas wahr. Vor einer Woche habe ich sogar Post bekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass dies überhaupt möglich sei, ich wusste ja nicht einmal, dass ich einen Briefkasten besitze. Ich entsinne mich auch nicht, jemals Postboten in Odessa gesehen zu haben, aber wahrscheinlich halte ich nur Ausschau nach gelben Fahrrädern. Gewöhnlich klemmen Zettel, meist Rechnungen, an meiner Tür, neben der stummen Klingel. Da sie ausschließlich an den Sohn meiner Vermieterin adressiert sind, kümmern sie mich nicht. Ohne meine Nachbarin von unten hätte ich von der Post nie erfahren. Sie öffnete mir den Briefkasten sogar mit einem Generalschlüssel. Wie sollte ich auch, da ich angenommen hatte, ich besäße gar keinen Briefkasten, einen Briefkastenschlüssel besitzen? Ich habe mich über die Werbung des Fitnesstudios sehr gefreut.

Mein Freund Oleg sorgt sich wegen des Polizisten um mich. „Du hast den Kerl nicht nach seinem Ausweis gefragt?”, schrie er gestern, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. „Bist du jetzt vollkommen bescheuert?”
„Weißt du, es steht nicht jeden Tag ein Polizist vor meiner Tür.”
„Du hättest nicht aussagen müssen. Warum hast du nicht den ahnungslosen Deutschen gespielt? Ihr mit eurem Übereifer, wollt immer die treuesten Staatsbürger sein. Selbst zum Dummstellen bist du zu blöd.”
„Oleg, es war bestimmt ein Polizist”, sagte ich.
„Ich sag nur: Trau keinem Polizisten, den du nicht selbst bestochen hast.”
„Lass uns etwas trinken gehen.”
„Dass ich diesen Satz mal von dir hören würde”, sagte Oleg. „Wohin gehen mir?”
„Entscheide du”, sagte ich, „ich brauche nur Bier. Viel hilft viel.”
„Bier ohne Wodka ist rausgeschmissenes Geld.”
„Wie du meinst.”

Meine Vermieterin trägt mein Verrätertum übrigens mit Fassung. Sie hat natürlich gleich angerufen und ein bisschen mit mir geschimpft. Warum ihr Sohn von der Polizei gesucht wird, habe ich allerdings nicht erfahren. Sie sagte nur: „Mach nie die Tür auf, wenn jemand klopft. Und falls irgendwer fragt, warum du in dieser Wohnung bist – du machst Urlaub, klar?” Ich zahle ihr eine sehr hohe Miete, ich denke, ich habe Anspruch auf einen Hauch Legalität. Ich will kein Kolumnist im Untergrund sein. Es wäre nicht unbedingt die Angst, die mich von diesem Schritt abhielte – ich bin bloß viel zu eitel für anonyme kolumnistische Anschläge.

Ich bin sehr, sehr eitel. Zunächst hatte ich geglaubt, ein bisschen sogar gehofft, der Polizist komme, um mich abzuführen, weil meine Kolumnen eine leichte Form des Landfriedensbruchs darstellten. Es hätte mir geschmeichelt, politischer Gefangener der Ukraine zu sein.

Schlag den Staat

Nachgestellte Szene (fehlerhaft)

Die Handlung und die handelnden Personen dieser Geschichte sind fast frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Und die Überschrift ist auch fast geklaut – von dem hier nämlich.

ODESSA/KUTSCHURGAN, UKRAINE Zum Glück habe ich den Türöffner auf zwei Beinen, ich wäre ohne ihn verloren. Der Mann, ein ziemlich hoher ukrainischer Staatsdiener, hat in den vergangenen zwei Wochen viel telefoniert, um herauszufinden, wie ich mein Auto wieder legalisiere. Es ist illegal in Odessa. Ausländer, die ihr Auto nicht registrieren lassen, müssen es alle zwei Monate aus dem Land schaffen. In der Region Odessa genügt dafür eine Fahrt zur moldawischen Grenze und zurück. Ich habe es leider nie getan. Das Auto ist seit Mai 2008 am Schwarzen Meer. Recherchen, soweit sie in einem Land wie der Ukraine zumal für einen Ausländer überhaupt möglich sind, ergeben, dass ich mit einer Strafe zwischen 800 und 2000 Euro rechnen muss. Theoretisch könnte der Wagen auch beschlagnahmt werden. Genaues weiß auch mein Türöffner nicht. Es hänge möglicherweise vom Zöllner ab, der kontrolliere, sagt er.

Da ich nichts riskieren will, organisiert mein Beamtenfreund eines Nachmittags eine Konsultation in einer Behörde. Als wir dort ankommen, telefoniert er und sagt: „Mach mal bitte die Tür auf.” Eine Minute später öffnet ein Uniformierter. Wir laufen durch einen langen Flur. Links und rechts in den Büros wird sich offenkundig auch nicht unbedingt überarbeitet. Die Schreibtische sind leer. Nach hundert Metern schließt der Uniformierte eine Tür auf, und schon sind wir wieder an der frischen Luft – bloß auf der anderen Seite des Gebäudes. Irgendwann stehen wir vor einem anderen Beamten. Mein zweibeiniger Türöffner erklärt die Lage. Der Beamte schaut, ob mein Auto im Computer eingetragen ist, und findet nichts. Warum das so ist, weiß er nicht. Vielleicht bin ich vor 13 Monaten gerade noch eingereist, bevor an den ukrainischen Grenzen ein System eingeführt worden ist, in dem alle Autos gespeichert sind. Es wird eine Weile diskutiert, das Risiko kalkuliert und schließlich entschieden, es könne ohne Angst vor einer Beschlagnahme zur Grenze gefahren werden.
„Wann?”, frage ich.
„Jetzt”, sagen beide Männer gleichzeitig.

Fast hätte ich gar nicht fahren können. Am Mittag ist das Auto in der Garage nicht angesprungen. Die Batterie war tot. Ein anderer Bekannter, diesmal kein hoher Staatsdiener, kam vorbei, baute seine Batterie aus und wiederbelebte meinen Koma-Skoda. Als ich erzählte, ich hätte den Motor das letzte Mal im November oder Dezember gestartet, genau wisse ich das nicht mehr, schüttelte er nur den Kopf.

Mein Türöffner reicht mir seine Visitenkarte, die ihn als hohen Beamten ausweist, und sagt, ich solle sie in meinen Pass legen und anrufen, falls die Zöllner Probleme machten. Dann verabschiede ich mich und fahre mit meiner Begleiterin in Richtung Chişinău (Kischinau) zur moldawischen Grenze nach Kutschurgan.

Gaischnik bei der Arbeit (Archivbild aus Odessa)

Wir haben Odessa kaum verlassen, da werden wir an einem Kreisel von zwei Gaischniki angehalten, wie die Verkehrspolizisten der Staatlichen Autoinspektion (GAI, ukrainisch offiziell: DAI) vom Volk genannt werden.  Ich habe sie bereits vor mehr als einem Jahr kennen gelernt, als ich von Deutschland nach Odessa fuhr. Gaischniki sind berüchtigte Vergehenerfinder und Handaufhalter. Wenn sie eine Strafe aussprechen wollen, entdecken sie auch einen Grund – oder suchen sich einfach einen Raser wie damals bei mir. Die Berliner Zeitung schrieb einmal:

Ebenso zutreffend wäre es indes, die GAI als landesweites System staatlicher Willkür zu bezeichnen. In ihrer sowjetischen Blütezeit betrieb die GAI an jeder Kreuzung einen mit mindestens zwei Beamten besetzten Posten, an dem „slatkije bulotschki” verdient wurden, als „süße Brötchen” bezeichnete Bestechungsgelder. Wie alle sowjetischen Beamten arbeiteten die GAIschniki für einen Hungerlohn. Dass der Beruf des Verkehrspolizisten dennoch begehrt war und für einen Platz an einem GAI-Posten viel Geld floss, ist damit zu erklären, dass die Chancen der Beamten, sich ein Zubrot zu verdienen, fast unbegrenzt waren.

So nahm sich ein Verkehrspolizist das Recht, jeden Pkw-Fahrer anzuhalten und wegen tatsächlicher oder angeblicher Verstöße gegen die Verkehrsordnung zur Aufbesserung seines Gehalts zu zwingen. Die GAI hieß deshalb im Volksmund DAI! – „Gib!”. Und mancher GAIschnik kam auf diese Weise zu einem Eigenheim, wenigstens aber zu einer Datsche.

Nachdem sie Pässe und Führerschein studiert haben, entdecken die Gaischniki im Fahrzeugschein ein Problem: Mein TÜV ist schon im Oktober 2008 abgelaufen. Die Polizisten verwechseln den TÜV mit der Abgasuntersuchung, was aber nicht weiter nicht schlimm ist. Denn die ist auch abgelaufen. Sie schreien und drohen, sie würden das Auto beschlagnahmen. Meine Begleiterin zeigt ihnen das Dokument der deutschen Botschaft in Kiew, das ihr Schikanekontrollen ersparen soll, wie sie für Ausländer in der Ukraine üblich sind. Man solle ihr „Unterstützung, besonders in Fragen des Reisens, des Straßenverkehrs und der Grenzübertritte, gewähren”, heißt es. Die beiden Gaischniki schauen es an, lesen den ukrainischen Text, halten das Blatt gegen die Sonne, um die Echtheit des Stempels zu prüfen, und schauen danach auf mich. Es schmeichelt mir durchaus, dass sie sich vorstellen können, ich hätte das Botschaftsschreiben gefälscht.

Wir rufen ein paar Bekannte an, die in Odessa in hohen Positionen arbeiten und reichen das Telefon an einen der Polizisten weiter, vielleicht beeindruckt das ja. Es beeindruckt überhaupt nicht.
„Wären Sie eine echte Odessitin, wüssten Sie, was zu tun ist”, sagt der Gaischnik zu meiner Begleiterin und Verhandlungsführerin.
„Ich bin zwar keine echte Odessitin, aber ich verstehe trotzdem, was Sie meinen. Endlich sagen Sie’s.”
„Dann komm mal mit.”

Meine Begleiterin holt 100 Griwna, umgerechnet fast zehn Euro, aus dem Auto und geht zum Dienstwagen der Beamten. Der Gaischnik lehnt das Honorar allerdings ab und sagt, solch geringe Beträge nehme er nicht an, davon fühle er sich persönlich beleidigt. Genau so sagt er es: „Sie beleidigen mich persönlich.” Dann wünscht er eine „glückliche Reise”.

Ein Anruf bei der Werkstatt, in der ich mein Auto schon einmal reparieren lassen habe, ergibt, dass wir uns nicht fürchten müssen vor weiteren Kontrollen. Die Abgasuntersuchung sei eine deutsche Vorschrift, folglich gelte sie auch nur in Deutschland, sagt der Chef. „Aber wenn es dich beruhigt, kannst du eine ukrainische Untersuchung bekommen. Die brauchst du zwar nicht, aber vielleicht fühlst du dich dann besser.”

Erst vor einer Woche war ich bei ihm gewesen, weil der Türöffner meinte, ich solle mir zur Sicherheit für die Fahrt zu Grenze einen Schein ausstellen lassen, dass mein Auto ein Jahr kaputt gewesen sei. Der Werkstatt-Chef hatte daraufhin einen Fotografen angerufen, der bei ihm Kunde ist und einen Verkehrspolizisten kennt. Der Fotograf telefonierte, rief zehn Minuten später zurück und bestätigte, dass es Probleme geben könne und der Polizistenfreund von einer Fahrt nach Kutschurgan dringend abrate, so lange man dort keinen zuverlässigen Zöllner kenne.

Den Rest der Strecke bis zur Grenze, knapp 75 Kilometer insgesamt, schaffen wir ohne Probleme. Die Straße ist durchaus passabel, kaum Schlaglöcher, nur ein paar Wellen, links und rechts Weizenfelder, hier und dort ein paar Kühe und Ziegen. Viele Leute in dieser Region, einst Heimat deutscher Auswanderer, arbeiten in Odessa. Manchmal ist eine Viertelstunde lang kein Mensch zu sehen. Nicht anders sieht Vorpommern aus.

Vor der Grenze tauschen wir die Plätze, ich setze mich nach hinten und überlasse meiner Begleiterin das Steuer. Wir hoffen, dass die Zöllner bei einer Frau ein bisschen weniger auf das Auto schauen – und ein bisschen mehr auf – auf irgendetwas anderes. Zwei Kinder haben wir zur Sicherheit auch dabei. Im Journalismus gibt es den schönen Satz: „Tiere und Kinder gehen immer.” Gemeint ist: Geschichten über Tiere und Kinder lesen die Leute gern. Für uns sollen die Kinder die Zöllner nur etwas milde stimmen, falls es eng wird. Die Kleine wird angewiesen, auf Kommando ganz theatralisch zu weinen. Ich lese auf ihrem sechs Wochen alten Gesicht, dass sie verstanden hat und mitspielen wird.

Während die Pässe kontrolliert werden, streicht ein Zöllner ums Auto, entdeckt die abgelaufene Plakette am Kennzeichen und beginnt mit meiner Begleiterin ein Gespräch, lässt sich dann aber doch beschwichtigen. Links, in der anderen Kontrollspur, ist gerade ein moldawischer Rollerfahrer angekommen. Er trägt weder Helm noch Hemd. Eine Minute später ist er schon wieder weg. Auch wir dürfen ausreisen. Die Kleine braucht nicht zu weinen, tut es aber trotzdem.

Der moldawische Zöllner fragt, wohin wir fahren würden. Meine Begleiterin erzählt, wir wollten Freunde in Chişinău besuchen. Der Blick des Mannes sagt: Ja ja, deine Mudder.

Text zum Mitsingen

Er schickt uns zum Registrieren. Während abermals die Pässe durchgeschaut werden, schreit die Kleine plötzlich, obwohl ich nichts angewiesen habe. Als alles erledigt ist, fragt meine Begleiterin den Zöllner, ob er ein Café zum Verschnaufen empfehlen könne. Er glaubt natürlich nicht, dass wir Moldawien bereisen wollen, wir sind schließlich nicht die ersten Ausländer, die bei ihm ihr Auto wieder legal machen. Er sagt nur: „Kehren Sie besser gleich um. Hier gibt’s sowieso nichts.” Wir wenden noch vor dem letzten Kontrollpunkt und treffen gleich wieder auf den Moldawier, dem wir gerade noch etwas von Freunden in Chişinău erzählt haben. Er lächelt nicht, er grinst. Der zweibeinige Türöffner ruft an und fragt, wo wir steckten. Ich kann ihn beruhigen. Wir haben seine Visitenkarte niemandem zeigen müssen. Er ist darüber nicht unglücklich.

Die Ukrainer nehmen uns wieder auf. Die letzte Passkontrolle geschieht ohne Probleme. Während die Begleiterin die Emigrationskarten ausfüllt, wechsele ich der Kleinen die Windel. Wohl deshalb hat sie bei den Moldawiern so wild geschrien.

Erleichtert, geradezu glücklich, die Strafe gespart zu haben, darf das Auto in die Waschstraße. Dort ist es zuletzt vor 14, 15 oder 16 Monaten in Deutschland gewesen – so genau weiß ich auch das nicht mehr.

Kolumne: Kolumnist unter Verdacht

ODESSA, UKRAINE Ich hasse Wodka. Ich mag Bier. Bier ist gut. Bei Bier merke ich, wann es Zeit wird, den letzten Schluck zu trinken und nach Hause zu gehen. Wenn ich das Gesicht im Spiegel zum vierten Mal mitleidig anlächele und es mir zum vierten Mal zunickt, ist dieser Augenblick gekommen. Bier ist so sympathisch, weil es – mit eingebrautem Harndrang – diese Selbstkontrolle erlaubt: Alle Wege führen zum Klo.

Oleg und die zweite Leber

Von Wodka tut mir nach dem Aufwachen immer alles weh, so sehr, als steckte der Körper, von der Stirn bis zu den Zehen, in einem Schraubstock – ganz gemeiner Wodkater. Wenn ich mit meinem Freund Oleg Wodka trinke, weiß ich, dass ich mir für den nächsten Tag wenig vorzunehmen brauche. Ums Überleben, um nichts sonst, geht es dann. Ich weiß nicht, wie Oleg das macht, dass er fit ist. Vielleicht trinkt er, heimlich, vor dem Einschlafen einen Eimer Sprudel-Aspirin auf Ex. Vielleicht bekommt er nachts frisches Blut. Vielleicht besitzt er eine zweite Leber.

„Prost!”, sagte ich und schlug mein Wodkaglas an seins. „Freust du dich eigentlich über mein Weihnachtsgeschenk?”
„Bist du komplett bescheuert?”, schrie Oleg. „Beim Leichenschmaus stößt man nicht an.”
„Oleg, ich verstehe kein Wort. Welcher Leichenschmaus?”
„Natascha ist tot!”
„Welche Natascha?”, fragte ich.
„Natascha! Natalia!”
„Oh, entschuldige bitte. Mein Beileid.”

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Oleg hatte mich in seine Stammkneipe bestellt. Nun tranken wir auf Natalia, die am Freitag plötzlich gestorben war. Oleg vermisst sie. Seine Augen stierten ins Nichts, seine Nase war wundrot. Er schwieg oft und trug schwarz. Aus den Lautsprechern an der Wand kam „Last Christmas” von Wham. Es war der 11. Januar. Seit einem Monat höre ich ununterbrochen irgendwo Weihnachtslieder.

Reine Routine

„Wo warst du eigentlich am Freitag zwischen eins und drei?”, fragte Oleg plötzlich.
„Zu Hause.”
„Zeugen?”
„Wie bitte?”, fragte ich.
„Kann jemand bestätigen, dass du zur Tatzeit zu Hause warst?”, fragte Oleg.
„Willst du behaupten, dass ich…”
„Ich behaupte gar nichts.”
„Verdächtigst du mich, dass ich Natalia umgebracht habe?”
„Reine Routine, ich muss das fragen”, sagte Oleg und hielt mir die Kerze ganz dicht vors Gesicht. „Ich hab Zeit, ich kann warten. Ein Geständnis wirkt sich übrigens strafmildernd aus.

Ausblick nach Sibirien

Olegs Drohungen lassen mich inzwischen kalt. Ich habe schon genug Ängste als Deutscher in Odessa. Ich habe Angst, dass der Ukraine das Gas ausgeht. Ich habe Angst, wenn ich an dem Gebäude vorbeigehe, in dem einst der sowjetische Geheimdienst KGB saß, ich erinnere mich jedes Mal an diesen Spruch: „Die KGB-Zentrale ist das höchste Haus Odessas – von dort kann man Sibirien sehen.” In der Süddeutschen Zeitung stand vor ein paar Tagen – es ging mal wieder um den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine – etwas über die „Rohstoffoligarchen, die vor allem am Zwischenhandel verdienen, die oft gleichzeitig auch Besitzer von Zeitungen und Sendern sind”. Bei „einigen dieser Oligarchen” handele es sich „um ehemalige Geheimdienstler, die nach wie vor gute Beziehungen zu früheren Arbeitsgebern unterhalten”.

Ich habe auch Angst vor den Polizisten, die neuerdings Bürger nach dem Ausweis fragen, um illegale Ausländer in Odessa aufzuspüren. Ich nehme nie irgendwelche Dokumente mit, wenn ich das Haus verlasse – natürlich aus Angst, bestohlen zu werden. Ich habe sogar Angst vor den Apothekerinnen. Sie hassen mich offenbar. Gestern brauchte ich unbedingt Nasenspray, ich hätte auch Tropfen genommen. Die Verkäuferin sagte, es gebe nichts. Ich versuchte alles, ich flehte sie an, ich röchelte sogar ein bisschen herum, ich schnappte mit weit aufgerissenem Mund nach Luft, und wenn mir auf die Schnelle eingefallen wäre, was „unterlassene Hilfeleistung” auf Russisch heißt, hätte ich auch diesen Vorwurf angebracht.

Eine Nacht mit Natalia

Ja, ich habe mit Natalia eine Nacht verbracht. Oleg war verreist. Er hatte mir den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben, ich sollte ihr eigentlich bloß Frühstück bringen, weil sie gerade etwas geschwächt war, aber, mein Gott, sie ist dann abends mit zu mir gekommen. Wir schliefen in getrennten Zimmern. Da war nichts.

„Also kein Alibi von eins bis drei”, sagte Oleg.
„Ich habe Natalia nicht umgebracht. Ich habe sie geliebt wie du…wie dich…ach, was weiß ich.”
Mord aus Eifersucht“, sagte Oleg, sprang auf und schmiss dabei seinen Stuhl um. „Ich hab schon schlechtere Motive gesehen, originellere natürlich auch. Aber von einem Kolumnisten kann man wahrscheinlich nicht mehr erwarten.”

Dem Dieb brennt die Mütze

Ich schwieg und trank meinen Wodka weiter. Mir wurde schlecht.
„Du kann jetzt deinen Anwalt verständigen”, sagte Oleg.
„Dreckskerl.”
„Na vore shapka gorit”, sagte Oleg.
„Dem Dieb brennt die Mütze?”
„Das ist ein russisches Sprichwort. Bei euch bellen getroffene Hunde, glaube ich.”
„Ich bin unschuldig.”
„Du kannst gehen. Verschwinde.”

Oleg nuschelte etwas. Ich verstand nur einzelne Wörter und Satzfetzen: „SpuSi hat geschlampt … Todesursache ungeklärt … Fremdverschulden nicht auszuschließen … KTU … Durchsuchungsbeschluss … Obduktion … Gegenüberstellung … DNA-Abgleich …”

Da wusste ich, es war keine gute Idee, Oleg zu Weihnachten die Tatort-DVD-Sammelbox zu schenken – wenn ein paar Tage später seine geliebte Schildkröte Natalia stirbt.

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“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Zweiter Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

[Der erste Teil steht hier]

Zweiter Teil: Reisen wie auf dem Fließband

Ukrainische Polizisten müssen beweisen, dass sie das Gesetz verteidigen, sie kontrollieren für die Bilanz. Ob das Bußgeld eintrifft, ist ihnen egal. Deshalb wird vor Weihnachten besonders gerast. Das Protokoll gelangt zwar noch in die Statistik, der Fall aber wird nicht mehr bearbeitet. Später erfahren wir, warum wir zweimal so schnell gewesen sind, wie es die Polizei gewollt hat. Uns wurden alte Geschwindigkeiten gezeigt. Die Uhrzeit auf der Pistole hätte die Beamten überführt. Ukrainern ist dieses Misstrauen in Autoritäten bestimmt angeboren.

Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei 200 Meter entfernt vom Polizeirevier
Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei im Stadtzentrum - 200 Meter entfernt vom Polizeirevier

Seit 24 Stunden sind wir im Land. Die ersten zehn Minuten am Freitag habe ich aufrichtig versucht, mich an die Vorschriften zu halten. Ich fuhr im Ort sechzig. Es war lebensgefährlich, was vielleicht damit zu tun hat, dass die Dörfer auch zehn Kilometer lang sind, wenn dort zwei Häuser stehen. Der Rückspiegel hatte ständig gelbe Treffer, so oft wurde mit der Lichthupe auf uns geschossen. Ukrainer rasen, als wären sie auf der Flucht, drängeln, dass man fast ihre Augenfarbe erkennt, und scheren noch am Berg aus. Im Gras erinnern viele Kreuze daran, dass mancher sein Leben gleich mit überholt hat. Kein Polizist hat uns an diesem Abend zwischen Lemberg und Ternopil aufgehalten. Heute jedoch wartete auf den 400 Kilometern bis Uman in jedem fünften Dorf ein Paar. Angeblich trinkt der Ukrainer am Wochenende mehr und spürt plötzlich Sehnsucht nach seiner Datscha.

Auf der Autobahn: Kein Ziel in Sicht
Fast am Ziel, aber noch immer auf der Autobahn

Die Angst vor Kontrollen ist uns so peinlich geworden wie das Selbstmitleid wegen der Schlaglöcher. Um derlei als unangemessen zu empfinden, genügt im klimatisierten Auto ein Blick nach links und rechts, auf Pflüge, die ein Gaul zieht, auf Kinder, die noch in der Finsternis mit Oma und Opa auf dem Feld wühlen. Alte mit mehr Zehen als Zähne verkaufen vor Häusern, die in Deutschland gesperrt würden, ihre Ernte: Äpfel, Kartoffeln, Salatköpfe. Weil das Auto auf kaputten Straßen nur langsam vorwärts kommt, fliegt das Elend nicht vorbei. Es nimmt kein Ende. Wir haben nicht angehalten. Wir hätten uns mit den Frauen doch nichts zu sagen gehabt, selbst wenn wir uns hätten verständigen können. So alt, wie sie mit ihren Kopftüchern aussehen, können wir niemals werden. Wir dürfen gar nicht so altern. Das deutsche Gesundheitssystem lässt es nicht zu. Weil es uns so gut pflegt, hat der Tod einen so schlechten Ruf: Er holt die meisten zu früh, glauben wir. Wir haben angehalten, wo die Ukraine ungefähr aussieht wie Deutschland: an Tankstellen. Nur die Preise sorgten für ein Gefühl von Ferne. Der Liter kostet 90 Cent.

Um auf der Autobahn nicht von weitem entdeckt zu werden, verstecken wir uns hinter einem Laster mit Darmwind, der nach Fuselbenzin riecht. Das einzige, das noch beschleunigt, ist der Puls, wenn wir Polizisten sehen, wo Pappeln stehen. Seit Stunden sind wir die einzigen Westeuropäer, da macht sich jeder Baum verdächtig. Wie auf einem Fließband rollen wir dahin: siebzig bergauf, siebzig bergab, siebzig in Kurven, siebzig auf Geraden. Doch der Regen muss die Streckenposten vertrieben haben. Odessa erreichen wir nach 52 Stunden und 2100 Kilometern. Wir wollen zugleich schlafen und uns betrinken.

Durch sieben teilen

Um das Problem mit dem Umzugsgut kümmert sich mittlerweile ein Krisenstab. Freunde in Mecklenburg berichten von einer Tour nach Weißrussland. Bekannte in Odessa verhören Deutsche, deren Hausstand es irgendwie durch den Zoll geschafft hat. Auch der Pfarrer der deutschen Gemeinde in der Stadt ist eingeweiht. Die Verwandten haben alles schon vorher gewusst und verschweigen dies auch nicht. Meine Frau kennt inzwischen fast jeden Grenzer. Fortwährend klingelt ihr Telefon. Doch alle Schriftstücke, die beweisen, dass sie im Land arbeiten soll und umziehen muss, sind am Zoll wertlos. „Ihr müsst euch daran gewöhnen, dass bei uns erst einmal nichts klappt”, sagt spät abends in einer Bar unsere ukrainische Freundin, die mehr als zehn Jahre in Niedersachsen gelebt hat. Ich brauche zwei Einschlafbiere.

Vor der berühmten Oper, dem angeblich zweitschönsten Haus der Welt

Am Sonntagmorgen wandere ich durch Odessa und belausche eine Stille, die mir Stunden später, sobald sich der Verkehr staut und die Menschen aus 133 Nationen erwacht sind, wie eine Sinnestäuschung erscheinen wird. Noch aber wird in der Puschkinskaja, einer der schönsten Straßen der Stadt, der Bürgersteig mit dem Schlauch abgespült. Drei Stunden bevor der Zug abfährt, der mich noch einmal nach Schwerin bringt, besuchen wir eine Werkstatt. Wir wollen auf das Auto in Odessa nicht verzichten. Doch wenn wir es zurücklassen, könnten die Zöllner vermuten, wir hätten es verkauft, und sehr unangenehm werden, um das Geld zu finden. Also machen wir es zum Patienten, lassen es krankschreiben und täuschen eine Panne vor. Der Reparaturschein wirkt echt.

Der Wagen muss samt Schlüssel im Autohaus bleiben. Der Chef ist mal in Magdeburg gewesen, ich bin dort geboren. Er wird mich nicht betrügen. Wir sind fast verwandt. Das Abschiedsfoto – Autohändler, Autobesitzer und Auto -, kommt entweder ins Familienalbum oder in die Fahndung. „Griesdoff, haben Sie keine Angst”, sagt der Mann. Ein Amerikaner hat sogar seinen Lexus bei mir abgestellt.” Unser Vermieter will trotzdem noch mal vorbeischauen.

Die ukrainische Freundin versucht mich zu trösten. Sie fühlt sich mitschuldig, dass uns der Zoll besiegt hat und der Umzugslaster voll beladen zurückfährt. Sie sagt: „Wenn jetzt noch dein Wagen verschwindet, glaube ich an nichts mehr. Dann verlasse ich das Land für immer und gehe dorthin, wo kein Ukrainer lebt.”

“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Erster Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

Diese Reisereportage ist meine Weihnachtsgeschichte. Ich weise aber darauf hin, dass sie im Mai spielt. Mitte Mai bin ich nämlich mit dem Auto von Schwerin nach Odessa gefahren, um den Umzug der Familie vorzubereiten. Lesen Sie heute den ersten Teil. Am Heiligen Abend ersten Weihnachtsfeiertag folgt die Fortsetzung.

Erster Teil: Langsamer als die Polizei es will

Auf der Autobahn zwischen Kiew und Odessa: Erlaubt sind 110 Kilometer pro Stunde.

So viel Glück ist nicht ukrainisch. Die Autobahn von Kiew hinunter ans Schwarze Meer hat vier Spuren und keine Schlaglöcher. Auf einmal ist nichts mehr zu spüren von jener Krankheit, mit der sich das Auto auf der ersten Holperpiste hinter der Grenze angesteckt hatte. Das Symptom war, unüberhörbar, ein Klappergeschwür unter der Haube, das sich später bis zum Heck auswuchs. Im Deutschland der schönen Straßen hätte der ADAC einen Engel schicken müssen, der am Motor nachsieht und Muttern nachzieht. In der Ukraine aber, wo Täler und Hügel schon im Asphalt beginnen, wird jedes Auto zum Hypochonder. Der Patient, ein vierjähriger Skoda Octavia, ist nach dem Abbiegen auf die Autobahn bei Uman augenblicklich gesund. Bis Odessa sind es nur noch 270 Kilometer.

Von Schwerin nach Odessa: 2100 Kilometer Screenshot: ViaMichelin.de

In zweieinhalb Stunden werden mein Beifahrer und ich aussteigen, einen Teller Borschtsch bestellen und – wie es sich gehört – Wodka trinken: sto gramm, 100 Gramm. Müssten wir nicht vor dem Umzugswagen in Odessa ankommen und die Wohnung einrichten, wir könnten weiterfahren bis Usbekistan, Turkmenistan oder Sibirien; niemand könnte das verhindern. Dann springt ein Polizist vors Auto und dirigiert mit seinem schwarz-weißen Stock. Das Glücksgefühl ist wieder verschwunden. Seit wir im Land unterwegs sind, haben wir nie mehr als 65 Kilometer in der Stunde geschafft. Die Angst ist immer mitgefahren.

Ternopil: Blick aus dem Hotelzimmer

Früh am Morgen in Ternopil, dreihundert Meter entfernt vom Hotel, bin ich falsch in eine Einbahnstraße gebogen. Die vier Ukrainer vor mir übersah der Polizist. Für uns machte er keine Ausnahme. „Man darf dort nicht lang”, sagte er auf Russisch. „Komm mit.” In seinem Lada blätterte er im Pass, fragte nach dem Ziel der Reise und nuschelte etwas. Am Anfang bat ich ihn, den Satz zu wiederholen, irgendwann ließ ich es sein. Ein Ukrainer, der von einem Ausländer nicht verstanden wird, spricht gewöhnlich nicht langsamer, sondern lauter. Nachdem er mich drei Minuten über die Schwere meines Vergehens belehrt hatte, was ich allerdings eher seinem Blick als seiner Stimme entnahm, redete er solange an mir vorbei, bis ich wieder ein Wort verstand: „Straf”. Wenigstens war ich noch nicht verurteilt. Als ich mich nach dem Preis erkundigte, wurde aus der Faust unter dem Lenkrad eine Hand mit fünf Fingern. Die Geldübergabe scheiterte jedoch. Ich reichte ihm fünf Euro, er rührte sie nicht an. Erst als der Schein auf der Handbremse lag, winkte er mich weg vom Beifahrersitz, als würde er eine Fliege vom Oberschenkel verscheuchen.

Der Ternopiler See

Im vergangenen Jahr hat der neue Präsident Viktor Juschtschenko, der sich vom Westen lieben lässt und wegen dieser Nähe Russland ständig das Herz bricht, viele korrupte Beamte ausgewechselt. Seitdem fürchten die Überlebenden, so bestochen zu werden, dass es auffällt. „Wo geht es nach Odessa?”, fragte ich zum Abschied den Ternopiler Polizisten. „Priamo, priamo”, sagte er. Ich fuhr davon wie empfohlen oder besser: befohlen – immer geradeaus. Ich hätte viel mehr bezahlt, um freizukommen.

Nach fünf Minuten auf der Autobahn, kurz hinter Uman, stehen wir. Mein Beifahrer sieht, wie der Mann in Uniform den Kopf hereinsteckt und den Mund für einen Vortrag öffnet, erbleicht sogleich und flüstert, während ich noch an meiner Verteidigung bastele, die die Schuld widerlegt: „Gib zu, dass du 124 gefahren bist, und vergiss deine 105. Er weiß selbst, dass 110 erlaubt sind. Ihr habt beide Recht, aber er eben ein bisschen mehr.” Für 280 Griwen, umgerechnet 40 Euro, verkauft uns der Polizist die Freiheit, lächelt und wünscht eine gute Fahrt.

Kurz nach Mitternacht hatte in Ternopil das Telefon geklingelt. Der Möbeltransporteur ließ die schlechte Nachricht von einem ukrainischen Zöllner überbringen. Ich wollte weiterschlafen. Die erste Nacht hatten wir in Polen zwischen Breslau und Krakau an einer Tankstelle verbracht, was kaum zu empfehlen ist. Nach fünf Stunden im Auto fühlt man sich morgens wie die eigene Oma – und sieht auch noch so aus. In der Mittagshitze hatten wir dann erst am Grenzübergang Przemysl drei Stunden auf Einlass gewartet und hernach den Ukrainern nur die Frage beantworten müssen, ob Drogen im Gepäck seien. Kopfschütteln genügte.

Auf der Autobahn: Marktfrauen verkaufen Obst und Gemüse.

Der Zöllner am Telefon stellte sich eine halbe Minute vor und erzählte von einem neuen Gesetz, das mich verpflichte, für alles Quittungen vorzulegen: das Spielzeug des Kindes, für Bücher, Kleider und die Hausapotheke. Ich hätte gern erwidert, dieses Gesetz sei seit höchstens fünf Minuten in Kraft, weil er allein es beschlossen habe. Stattdessen stotterte ich auf Russisch: „Bitte Sie verstehen, äh, dass nicht in Deutschland, äh, äh, Entschuldigung, jeder seine Zettel von das Einkaufen aufbewahren. Verstehen Sie?” Mehr konnte ich zu unserer Rettung im Halbschlaf nicht ausdrücken. Es war zu wenig. Der Transporteur fuhr zurück nach Polen – allerdings ohne die bereits gezahlten 500 Euro Bestechungsgeld. Er war zum zweiten Mal gescheitert, versprach aber, es später wieder zu versuchen.

Die Tachonadel klebt an der 90. Das ist unser Tempolimit auf der Autobahn. Werden wir überholt, wirkt es, als würden wir parken, so schnell sind die anderen weg. Hunde eilen von links nach rechts. Wo die Leitplanke fehlt, ziehen Busse auf die Gegenspur. Es gibt Zebrastreifen, Bushäuschen und Basare. Mein Beifahrer könnte Ziegen und Kühe und Pferde streicheln, wenn er die Hand aus dem Fenster hielte. Wir werden von einem Motorrad überholt, auf dem drei Männer sitzen; keiner trägt einen Helm. Auf dem Standstreifen wird getrunken und gegessen, geredet, geradelt und getorkelt. Wären wir Ukrainer, könnten wir dort ein Zelt aufbauen und den Grill anmachen, ohne dass es irgendwen stören würde. Als Deutsche aber müssten wir sicher noch dafür bezahlen, dass wir zu laut Verkehrsfunk hören. Mit unserem Kennzeichen ist es unmöglich, den Wilden Osten unbemerkt zu durchqueren. Es ist ein Makel, der jede Tarnung auffliegen lässt.

Marktfrauen irgendwo in der Ukraine

„Sie sind 128 gefahren”, sagt der Polizist an der nächsten Ausfahrt. Er hat uns herausgewinkt, aber danach erst einmal zwei Minuten warten lassen, schließlich hatte auch er warten müssen. Sicher hatte sein Kollege per Funk gemeldet, dass gleich zwei etwas einfältige Mecklenburger vorbeikämen – mit vollen Portmonees und noch volleren Hosen. Nur waren wir wegen der Bummelei spät dran. Trotzdem spendiert er uns diese schöne Zahl 128.

„Das muss ein Irrtum sein”, sage ich. Ich wehre mich. Ich klopfe auf das Tachometer. Ich überhöre die Ratschläge des Beifahrers. Ich errege mich, so stark es der Mut zulässt. Ich muss aussteigen. Der Polizist führt seine Laserpistole vor und schießt zweimal auf Autos. „Charrascho?”, fragt er und präsentiert das Ergebnis. Nichts ist gut! Ich, mäßig überzeugt, erzähle, was mein russischer Wortschatz hergibt, um ihn gnädig zu stimmen: dass ich Journalist sei und eine Dienstreise machte, dass mein Sohn keine Windeln mehr brauche und überhaupt ein Wunderkind sei. Es fehlt nicht viel, dass ich aus Verehrung für die Klitschko-Brüder, seine Landsleute, ein bisschen boxe.
Der Polizist, mäßig begeistert, schreibt auf der Motorhaube das Protokoll. „Straf kommt mit der Post nach Odessa”, sagt er und verlangt drei Unterschriften. Meine Adresse habe ich mir ausgedacht, ich denke, er weiß es. „Spasiba”, sage ich. Unterwegs muss mein Stolz ausgestiegen sein, sonst hätte ich mich nicht bedankt.

Kolumne: Alles bleibt anders

ODESSA, UKRAINE Bisweilen wünsche ich mir, ich wäre ein bisschen wie mein Freund Oleg. Er ist lebenstüchtig, was auch erklärt, warum die Frauen auf ihn stehen und auf mich nur zukommen, wenn sie seine Telefonnummer brauchen. Frauen mögen Macher, die nach zehn Flaschen Bier und zehn Schnäpsen lallend in den Flur fallen und trotzdem ein Loch in den Putz bohren, auf das sich jeder Dübel freut. Ich würde, schon nach vier Flaschen Bier und vier Schnäpsen, an der Wohnungstür den Schlüssel abbrechen; bohren würde der Mann vom Notdienst. Darum betrinke ich mich, wenn ich es einrichten kann, nur zu Hause und verstecke vor dem ersten Schluck den Schlüssel vom Bad. Ich will nie wieder in der Wanne schlafen müssen. Eine Nacht mit einem Traum, in dem Uwe Barschel erscheint, reicht mir. (Es war kein Selbstmord.)

Einsatz neben Odessas Büchermarkt, Ende September 2008

Als Oleg und ich gestern zum Strand fahren wollten, stand vor meinem Auto ein blauer Hyundai. Mein Plan war: warten. Zuparker halten sich fast immer in der Nähe auf und kehren schnell zurück. “Google”, flüsterte ich vor mich hin, “ungefähr 400 Treffer für Zuparker, für Falschparker sogar ungefähr 97700, kranke Welt.” Das Flüstern beruhigte mich augenblicklich.
„Und, Kolumnist, wie geht’s weiter?”, fragte Oleg.
„Wir warten. Hast du eine bessere Idee?”
Oleg sah sich um, trat dem Hyundai gegen das rechte Vorderrad und löste die Alarmanlage aus. Dann hockte er sich zu mir, während der Hyundai jaulte, und sagte: „Jetzt können wir warten.” Vierzig Sekunden später eilte ein Mann herbei, legte demütig zwei Hände auf die Brust und fuhr davon.
“Danke, Oleg.”
“Gern geschehen.”

Kein Bock auf Kolumnistencamping

Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn Oleg und ich gemeinsam ein Haus bauen würden. Ich wäre – vor dem ersten Spatenstich – ausschließlich damit beschäftigt, Kacheln für die Küche auszusuchen. Oleg würde an Zement denken – und an den Spaten natürlich.
“Oleg, versprich mir, dass wir nie ein Haus bauen werden”, sagte ich.
“Mit dir würde ich nicht mal zelten”, sagte Oleg. “Kolumnistencamping ist nichts für mich.”

Manchmal habe ich Angst, dass mein Freund sein Revier verlieren könnte, es geschieht nämlich Seltsames. Überall in Odessa werden die Bäume beschnitten. Noch im Juli hatte ein nächtlicher Sturm die schönen und üppigen Kastanien und Akazien umgerissen und auf Autos gezerrt. Es wird auch sehr viel abgeschleppt, ich sehe neuerdings mehr schwebende Hyundai als schlafende Hunde.

Strand Arkadia in Odessa, März 2008
Strand Arkadia in Odessa, März 2008

Überdies hat das Parlament in Kiew gerade die Strafen für Verstöße im Verkehr deutlich erhöht. Im Auto ohne Freisprecheinrichtung zu telefonieren kostet bis zu 850 Griwen, also fast 120 Euro. Bislang zahlte man nur seine Telefoneinheiten. Wer eine rote Ampel übersieht, kann wählen: 510 bis 680 Griwen oder 30 bis 40 Stunden gemeinnützige Arbeit. Bislang war dieses Vergehen ein Schnäppchen, vier Schachteln Zigaretten waren teurer.

Dass die Polizisten dank der höheren Strafen auch mehr Bestechungsgeld bekommen, wie die Zeitungen vermelden, stört mich nicht. Das ist in meinen Augen Mitarbeiterbeteiligung und motiviert doch, zumal die neue Härte bereits Wirkung zeigt. Heute Morgen, Punkt halb neun, haben zwei Autofahrer die Rotphase an der Ecke Jekaterinskaja und Troizkaja nicht ignoriert. Sie nutzten die Zeit effektiv und prügelten sich. Ich halte mich als Zeuge bereit, sage aber an dieser Stelle gleich: Ich weiß nicht, wer angefangen hat.

Der Arzt im Hausmeisterkittel

“Halt mal kurz an”, sagte Oleg gestern auf dem Weg zum Strand. “Da ist irgendwas passiert.”
Wir stiegen aus und sahen auf dem Bürgersteig einen Ohnmächtigen. Sein Gesicht war schon ein bisschen gelb. Fünf Männer stellten Diagnosen. Alkohol als Ursache der Ohnmacht wurde ausgeschlossen. Man nahm sich wirklich sehr viel Zeit für den Patienten.
“Ist denn irgendjemand in dieser netten Runde Arzt?”, fragte Oleg nach einer Weile. Die Blicke der fünf Männer wanderten zu mir, wahrscheinlich weil ich als einziger eine Brille trug.
“Ach, der ist nur Kolumnist”, sagte Oleg. Es folgte ein lautes Gelächter. Oleg lieh sich mein Telefon und rief einen Arzt.

Nach zehn Minuten kam der Krankenwagen. Ein Mann brachte eine Trage und steckte sich eine Zigarette an. Er trug einen Hausmeisterkittel. Nachdem er aufgeraucht hatte, bat er Oleg und mich, den Ohnmächtigen auf die Trage zu heben. Zu dritt brachten wir ihn in den Krankenwagen. Darin war nichts: keine medizinische Technik, keine Sauerstoffanlage, keine Absaugpumpe, kein Defibrillator, nicht mal ein Verbandskasten.

“Sind Sie Arzt?”, fragte ich.
“Sehe ich so aus?”, fragte der Mann zurück und rieb sich die Hände an seinem Hausmeisterkittel, holte aus der Brusttasche eine Zigarette, drehte dem bewusstlosen Gelben den Rücken zu, rauchte und fragte, was ich in Odessa machte, erzählte, dass seine Kinder auch viel im Internet unterwegs seien und in meinem Blog kommentieren könnten, kramte einen Kugelschreiber hervor und notierte sich meine Domain auf einem alten Kassenzettel.
“Ich muss los, hat mich gefreut”, sagte er und kletterte, eine frisch entzündete Zigarette zwischen den Lippen, in seinen Krankenwagen.

“Kolumnist, bleib bei deinen Streichen”, sagte Oleg am Strand. “Und mach dir um mich keine Sorgen. Erstens werden die Bäumen in jedem Herbst geschnitten. Und wie du vielleicht gesehen hast, liegen die Äste, Zweige und Blätter jetzt auch schon eine Woche herum. Zweitens wird viel abgeschleppt, weil wahrscheinlich irgendein Politiker in der Stadt ein Abschleppunternehmen aufgemacht hat.”
“Und was ist mit den Strafen für Raser?”, fragte ich.
“Ich nehme an, dass einige Politikersöhne gerade eine Ausbildung zum Polizisten machen.”

Kolumne: Adolf Hitler und meine Spiegel-Affäre

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg ist ein angenehmer Beifahrer. Man darf bei ihm praktisch alles. Oleg hat die Gabe, augenblicklich zu erblinden vor Einbahnstraßen, Stoppschildern und roten Ampeln. Meinen Atem, der beschleunigt, wenn ich am Steuer nicht ganz legal handele, hört er dafür umso schärfer. „War irgendwas, Kolumnist?”, fragt er dann. „So lange ich nichts sage, ist alles in Ordnung.” Die ersten vier Wochen bin ich nur mit Oleg Auto gefahren. Es gab für mich im Grunde keine Verbote, abgesehen von: „Lass die Lücke nicht so groß werden! Sonst springt einer rein.” Man kann sagen: Oleg hat mich als Verkehrsteilnehmer in Odessa versaut. Ich bin von ihm ukrainisiert worden.

Seit sechs Tagen fahre ich allein. Gestern habe ich zum ersten Mal gehupt, obwohl nur jemand Rücksicht nahm auf andere. Ich selbst werde kaum mehr bedrängt, was als Mensch nicht unbedingt für mich spricht, als Fahrer allerdings schon. Dass ich Gebote noch halbwegs beachte und mich kontrolliert offensiv fortbewege, liegt daran, dass vor zwei Wochen ein Nachbar den linken Autospiegel abgetreten hatte. „Ihr Nazis habt meinen Opa umgebracht”, schrie er, was juristisch bestimmt nicht ganz sauber formuliert ist, historisch-moralisch aber irgendwie hinkommt. Andererseits ist mir am nächsten Tag, während ich in einer Verhörzelle des Polizeireviers den Mann anzeigte, eingefallen, dass es das Wort „Vergangenheitsbewältigung” nur in der deutschen Sprache gibt. Im Gang schnarchten zwei Blutverschmierte ihren Rausch aus. Ich dachte an Adolf Hitler und sah braune Flecken auf meinem Hemd.

Ein paar Tage nach unserer Anzeige, an deren Nutzen wir bereits gezweifelt hatten, weil nichts geschah, bestellte uns ein Polizist zu sich. Nein, er bat um einen Besuch und erklärte sich bereit, zu uns zu kommen, als wir den Termin verschieben wollten. Zehn Minuten später saß er mit einem Kollegen an unserem Küchentisch. Noch einmal zehn Minuten später hatten wir vom Täter das Geld für die Reparatur erhalten und im Gegenzug die Anzeige zurückgenommen.

Es ist nur ein Verdacht, ich kann es nicht beweisen, aber ich bin ziemlich sicher, dass der Nachbar den Polizisten eine Aufwandsentschädigung gezahlt hat und deshalb noch vor ihrem Feierabend dieses Problem mit den Deutschen in den Papierkorb gelangen musste. Nur so kann ich mir den plötzlichen Eifer erklären. In der Ukraine ist nichts umsonst.

Ich habe im Skoda-Autohaus einen neuen Spiegel bestellt, er wird direkt vom großen Werk in Bratislava nach Odessa geliefert – ich glaube: von einem Fahrradkurier, der einen schönen Gepäckträger hat, vielleicht sogar einen Korb, aber nicht viele Gänge. Es dauert jedenfalls. Ich hatte gedacht, es könnte ein Problem sein, ohne den Spiegel zu fahren. Dann kam Oleg, der staatlich ungeprüfte Schadensgutachter. „Fährt die Kolumnistenkarre nicht ohne das Ding?”, hat er gefragt. „Na siehste! Mein Bruder braucht die Spiegel nur, wenn ihm eine Frau auf dem Fußweg zu sehr gefällt. Aber du bist ja verheiratet. Los, fahren wir ans Meer.”