Kolumne: Klopfschmerzen
ODESSA/UKRAINE Ich bin ein Verräter. Ich habe den Sohn meiner Vermieterin, den ich kaum kenne, bei der Polizei verpfiffen. Vielleicht ist alles auch noch viel schlimmer – falls der Polizist an meiner Tür gar kein Polizist gewesen ist. Ich habe mir nämlich keinen Dienstausweis zeigen lassen.
Alles begann mit einem Klopfen an meiner Wohnungstür. Es klopft eigentlich nie jemand. Die Klingel ist sowieso kaputt. Ich habe nicht einmal ein Namensschild. Früher, in meiner ersten Odessa-Wohnung, in der Nähe des Ukrainischen Theaters, hat es gelegentlich geklopft und auch geklingelt. Meist kamen ältere Frauen, um die Werte vom Strom-, Gas- oder Wasserzähler abzulesen. In meiner zweiten Odessa-Wohnung mache ich das selbst und bringe die Ergebnisse – wie die Miete – in das Stammlokal meiner Vermieterin, das dadurch zwangsläufig auch mein Stammlokal geworden ist. Ich weiß nicht, was mit den Zahlen geschieht, nachdem ich sie abgeliefert habe. Alle paar Monate bezahle ich bei der Vermieterin kommentarlos einen dreistelligen Griwna-Betrag. Es ist nicht so, dass ich ihr vertaue, ich bin bloß zu faul, die Einzelheiten der Abrechnung zu verstehen.
Gestern stand also vor meiner Tür ein Mann von der Polizei. Er trug keine Uniform, nannte einen Namen und fragte, ob ich diese Person sei.
Ich verneinte, nannte meinen Namen und zitterte trotzdem.
„Kennen Sie ihn vielleicht?”
„Er ist der Sohn meiner Vermieterin”, sagte ich. „Aber ich kenne ihn kaum.”
„Was heißt denn kaum?”
„Er hätte fast mal meinen Boiler repariert, musste aber leider seinen Zug in den Skiurlaub bekommen.”
„Ich verstehe, dann kennen Sie ihn eigentlich doch recht gut.”
„Aber ich würde ihn nicht unbedingt wiedererkennen”, sagte ich. Damit konnte er eine Gegenüberstellung vergessen. „Ich habe auch nur die Telefonnummer meiner Vermieterin.”
„Die nehme ich.”
„Stimmt etwas mit der Wohnung nicht?”, fragte ich dann noch.
„Alles in Ordnung”, sagte der Mann, speicherte die Nummer und verschwand.
Ich bin kein Niemand mehr in meinem Viertel. Die vier Wochen auf Krücken nach meinem Unfall mit der Marschrutka haben mich zu einer Kiezgröße gemacht. Selbst die Türsteher im Supermarkt begrüßen mich per Handschlag. Wenn man ein halbes Jahr lang selbst von den Nachbarn im selben Stock ignoriert wird, nimmt man so etwas wahr. Vor einer Woche habe ich sogar Post bekommen. Ich hätte nicht gedacht, dass dies überhaupt möglich sei, ich wusste ja nicht einmal, dass ich einen Briefkasten besitze. Ich entsinne mich auch nicht, jemals Postboten in Odessa gesehen zu haben, aber wahrscheinlich halte ich nur Ausschau nach gelben Fahrrädern. Gewöhnlich klemmen Zettel, meist Rechnungen, an meiner Tür, neben der stummen Klingel. Da sie ausschließlich an den Sohn meiner Vermieterin adressiert sind, kümmern sie mich nicht. Ohne meine Nachbarin von unten hätte ich von der Post nie erfahren. Sie öffnete mir den Briefkasten sogar mit einem Generalschlüssel. Wie sollte ich auch, da ich angenommen hatte, ich besäße gar keinen Briefkasten, einen Briefkastenschlüssel besitzen? Ich habe mich über die Werbung des Fitnesstudios sehr gefreut.
Mein Freund Oleg sorgt sich wegen des Polizisten um mich. „Du hast den Kerl nicht nach seinem Ausweis gefragt?”, schrie er gestern, nachdem ich ihm alles erzählt hatte. „Bist du jetzt vollkommen bescheuert?”
„Weißt du, es steht nicht jeden Tag ein Polizist vor meiner Tür.”
„Du hättest nicht aussagen müssen. Warum hast du nicht den ahnungslosen Deutschen gespielt? Ihr mit eurem Übereifer, wollt immer die treuesten Staatsbürger sein. Selbst zum Dummstellen bist du zu blöd.”
„Oleg, es war bestimmt ein Polizist”, sagte ich.
„Ich sag nur: Trau keinem Polizisten, den du nicht selbst bestochen hast.”
„Lass uns etwas trinken gehen.”
„Dass ich diesen Satz mal von dir hören würde”, sagte Oleg. „Wohin gehen mir?”
„Entscheide du”, sagte ich, „ich brauche nur Bier. Viel hilft viel.”
„Bier ohne Wodka ist rausgeschmissenes Geld.”
„Wie du meinst.”
Meine Vermieterin trägt mein Verrätertum übrigens mit Fassung. Sie hat natürlich gleich angerufen und ein bisschen mit mir geschimpft. Warum ihr Sohn von der Polizei gesucht wird, habe ich allerdings nicht erfahren. Sie sagte nur: „Mach nie die Tür auf, wenn jemand klopft. Und falls irgendwer fragt, warum du in dieser Wohnung bist – du machst Urlaub, klar?” Ich zahle ihr eine sehr hohe Miete, ich denke, ich habe Anspruch auf einen Hauch Legalität. Ich will kein Kolumnist im Untergrund sein. Es wäre nicht unbedingt die Angst, die mich von diesem Schritt abhielte – ich bin bloß viel zu eitel für anonyme kolumnistische Anschläge.
Ich bin sehr, sehr eitel. Zunächst hatte ich geglaubt, ein bisschen sogar gehofft, der Polizist komme, um mich abzuführen, weil meine Kolumnen eine leichte Form des Landfriedensbruchs darstellten. Es hätte mir geschmeichelt, politischer Gefangener der Ukraine zu sein.