Schlagworte: Transnistrien

Wort zum Sonntag

Ich kenne mich nun in Odessa schon ganz gut aus. Beim Gehen über die Straße gibt es viel zu beobachten: Ich sehen viel äußeres Elend, und auch das innere Elend glaube ich zu sehen. Es hat sich den Gesichtern der Menschen aufgeprägt. Manchmal kann man ganze Straßenzüge abwandern, und man findet kein einziges ordentliches, freundliches, frohes Gesicht. Fast alles vergrämte Menschen.

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Mit der Straßenbahn geht es in endloser, langsamer Fahrt 18 km. Wenn sie hält, hört man das muntere Geknabber der Sonnenblumkernesser. Kein Mensch redet, aber alles knabbert.

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Der Park ist angenehm. Schön am Wasser gelegen, an seinem Rand ein Stadion, zwar verwahrlost, aber doch Zeuge entschwundener Pracht. Beim Gang durch das Häusermeer der Stadt muss ich feststellen, dass wir unterschiedliche Stilgefühle haben.

Textauszug: Hermann Binder, Aufzeichnungen aus Transnistrien (September – Dezember 1942), Verlag Südostdeutsches Kulturwerk, München 1998

Fotografien: Christoph Wesemann, Zwei Flaschen im Zoo, Straßenbahn am Priwos-Markt, Stadion im Schewtschenko-Park, Odessa 2008