Kategorie: Kolumnen

Kolumne: Wann ruft Guido Knopp an?

ODESSA, UKRAINE Als Kolumnist fehlt mir eindeutig das Repertoire. Fast immer schreibe ich über dieselben Leute, was möglicherweise nicht weiter auffiele, wenn es mehr als zwei wären oder einer der beiden nicht Adolf Hitler hieße. Ich bin kein Ewiggestriger, der in der Vergangenheit lebt, ich trage zwar einen Seitenscheitel, aber das hat eher optische als ideologische Gründe. Allmählich komme ich in ein Alter, in dem ein vernünftiger Mann an jedem Haar hängt, weil er nichts mehr zu verschenken hat von dem, was auf dem Kopf noch wächst. Die Haare vermehren sich ja nicht – jedenfalls nicht dort. Als einer, der schon einige Geburtstage in seinem Leben gefeiert hat, würde ich, wenn ein Schurke käme und „Geld oder Glatze, Hunderter oder Haarausfall” riefe, immer das Portmonee zücken, egal, wie viel ich verlöre.

“Hitlers Kolumnist”

Ich schreibe also entweder Kolumnen über Oleg, weil er mein Freund in Odessa ist, oder über Adolf Hitler, weil gerade ein Nachbar mein Auto demoliert hat, um sich an einem Deutschen für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu rächen. Wenn der ZDF-Geschichtslehrer Guido Knopp irgendwann „Hitlers Kolumnisten” macht, weil ihm nichts mehr einfällt, bin ich ganz sicher dabei, so viel steht fest.

Und jetzt fragen mich Journalisten, wie ich auf den Skype-Skandal gestoßen sei. Bei diesem Kommunikationsdienstleister haben sich mehr als 30 Nutzer aus der ganzen Welt als Adolf Hitler angemeldet. Auch Heinrich Himmler, Joseph Goebbels, Hermann Göring und Dr. Josef Mengele skypen. In vielen Profilen stehen Hakenkreuze neben Hetze. Es ist sehr unappetitlich.

Wie erklärt man Journalisten und Lesern, dass man Adolf Hitler jagt? Ich habe mich ein bisschen in Lügen verstrickt, ich war überfordert. Zunächst behauptete ich, ich hätte den Führer fragen wollen, ob er wegen der Weltfinanzkrise ein Comeback plane. Ich hielt diese Antwort für einigermaßen originell, bekam aber bald Angst, ich könnte als doppelter Verharmloser dastehen: von Hitler und vom Bankensterben. Ich habe mich danach auf alles berufen: Zufall, Tippfehler, Gier nach Ruhm. Was mein Mund sonst noch so ausgespuckt hat, weiß ich gar nicht mehr. Bestimmt habe ich auch ein paar Mal Oleg die Schuld gegeben.

Klein Adolf in Ägypten

Oleg hat mich vorhin aufgeregt angerufen und gesagt: „Mir ist etwas eingefallen. Was ist eigentlich mit den Leuten bei Skype, die wirklich heißen wie die alten Nazis, ohne neue Nazis zu sein? Warum soll in Algerien, den USA, Tschechien, Kuba, Finnland, Kanada, Trinidad und Tobago oder Ägypten nicht ein Mann so heißen?”
„Ich bin kein Ägyptologe, aber ich bezweifele, dass viele ägyptische Eltern ihr Baby Adolf Hitler nennen, ich glaube das eher nicht”, sagte ich. „Ich rufe für dich auch gern die größte Geburtsstation von Trinidad und Tobago an und frage, wie viele Adolfchen in der letzten Nacht auf die Welt gekommen sind.”
„Aber was ist mit diesem Busfahrer in Wien, der angeblich wirklich so heißt?”, fragte Oleg. “Willst du dem das Skypen verbieten?”
„Oleg, glaubst du, das größte Unglück eines Mannes, der im wahren Leben Adolf Hitler heißt, wäre, nicht mehr skypen zu dürfen?”

Gestern Nacht habe ich von meiner Beerdigung geträumt; es war insgesamt doch sehr feierlich. Der Sarg hätte vielleicht ein bisschen schöner sein können. Aber wer sollte unter der Erde über meine geizige Familie lästern? Der Pfarrer sagte, ehe er mich verabschiedete: „Er hat sein Kolumnistenleben ganz und gar Adolf Hitler gewidmet.”

Muss ich erwähnen, dass nicht sehr viele Leute bei meiner Beerdigung gewesen sind?

Dieser Text ist auch auf kolumnen.de veröffentlicht. Dort finden Sie natürlich viele andere großartige Kolumnen großartigen Autoren. Nein, ich übertreibe nicht.

Kolumne: Mit Hitler zu vier Pingbacks

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg nennt mich seit gestern nur noch Al Bundy.
“Bundy, hör mal”, hat er vorhin gesagt. “Ich muss dich was fragen.”
“Nenn mich nicht Al Bundy. Ich verkaufe keine Schuhe, mein Sohn ist zweidreiviertel und schon fast so groß wie Bud Bundy, ich habe keine Rothaarige geheiratet, und meine Füße stinken nicht. Meine Familie ist auch nicht schrecklich nett.”
“Aber du hast doch jetzt auch deine vier Touchdowns in einem Spiel geschafft”, sagte Oleg. “Weißt du das? Bist du vorbereitet, Bundy?”

Oleg meint den Wirbel um meine Geschichte Beim Führer war besetzt, er glaubt, ich hätte den einzigen Triumph meines kümmerlichen Daseins und meinen Augenblick Ruhm erhascht; nun gehe es bergab, und zwar richtig steil: Ich leide, weil ich plötzlich wieder unwichtig bin, werde zum Menschenfeind und fange an,  Freunde, die Familie und Feinde bei jeder Gelegenheit mit meinem Skype-Skandal zu langweilen. Bis zu meinem Tod sage ich mindestens einmal am Tag: “Damals, Odessa, Uliza Troizkaja, ich und eine ganze Adolfarmee, ich setze mich an den Computer und erledige diese Kerle. Vier – Pingbacks – in – einer – Woche.” Oleg sagt weiter voraus: In etwas mehr als 15 Jahren lasse ich mir, wie einst der rothaarige Tennisspieler, der ganz jung das Turnier von Wimbledon gewonnen hat, in einer Besenkammer eine kostbare Flüssigkeit stehlen und zeuge so ein Kind, das leider nicht nach der Mutter kommt, sondern mir auf das Scheußlichste ähnlich sieht.

Tricks beim Schönheitswettbewerb

Erstens finde ich mich nicht hässlich, ich würde mir durchaus ein durchschnittliches Aussehen bescheinigen.  Zweitens weiß ich nicht einmal, was Pingbacks sind. Drittens bin ich alles in allem eher bescheiden. Zum Beispiel habe ich mich nicht selbst nominiert für diesen Schönheitswettbewerb, der gerade im Internet ausgetragen wird, obwohl andere das bestimmt getan haben, ich würde sogar sagen: viele, sehr viele. Man muss nur schauen, wer nominiert ist. Ich aber habe auch noch allen verboten, die ich kenne, mich aus Liebe oder Freundschaft heimlich dort anzumelden. Ich blogge noch nicht einmal einhundert Tage. Ich kann kein Update machen, ich frage mich, warum meine Bilder so mies sind, natürlich weiß ich auch nicht, was Tracksbacks sind, obwohl es mir zwei Kluge so erklärt haben, dass es ein mittelmäßig intelligenter Orang Utan verstanden hätte. Genau deshalb habe ich verhindern wollen, dass ich beim Schönheitswettbewerb starte.

Ich will zu gern wissen, wer mich hintergangen hat.

Will Oleg mir schaden? Ist er missgünstig? Hat er Angst, dass Odessas Frauen plötzlich auf mich fliegen könnten?

Ich werde den Schönheitspreis auf keinen Fall annehmen. Die Jury soll das jetzt schon wissen. Wählt mich nicht! Ich lehne ab! Ich will keinen Freecom Network Media Player 450 WLAN. Was ist das überhaupt? Ich brauche auch keinen Freecom ToughDrive 320 GB, ich kann das nicht mal aussprechen. Was soll ich dort speichern? Meine miesen Bilder vielleicht?

Ein Treffen mit der schönen Bloggerin

“Bundy, schreibst du jetzt wegen der Enttarnung der ganzen Adolfs eigentlich schon deine Dankesrede für den Wächter-Preis, den du nie gewinnen wirst?”, fragte Oleg.
Ich gebe zu, ich habe mir für alle Fälle ein paar Namen notiert, damit ich in der Aufregung niemanden vergesse, wenn ich oben auf der Bühne stehe: Robert Basic, Stefan Niggemeier und Jens Weinreich, die immer an mich geglaubt haben. Das ist doch nicht schlimm, finde ich. Nichts wäre peinlicher als ein stotternder Blogger, der seine Helden vergessen hat und deshalb WordPress dankt.

Aber ich schwöre, ich habe mich nicht bei der Ex-Freundin gemeldet und geschrieben: “Siehste, wärst Du mal bei mir geblieben. Na, jetzt ist es zu spät. PS: Falls Du heute Abend anrufen willst – Xu Jinglei will mit mir essen gehen. Es könnte spät werden. Ach, das kannst Du nicht wissen: Xu ist Schauspielerin und Chinas populärste Bloggerin.”

Kolumne: Alles bleibt anders

ODESSA, UKRAINE Bisweilen wünsche ich mir, ich wäre ein bisschen wie mein Freund Oleg. Er ist lebenstüchtig, was auch erklärt, warum die Frauen auf ihn stehen und auf mich nur zukommen, wenn sie seine Telefonnummer brauchen. Frauen mögen Macher, die nach zehn Flaschen Bier und zehn Schnäpsen lallend in den Flur fallen und trotzdem ein Loch in den Putz bohren, auf das sich jeder Dübel freut. Ich würde, schon nach vier Flaschen Bier und vier Schnäpsen, an der Wohnungstür den Schlüssel abbrechen; bohren würde der Mann vom Notdienst. Darum betrinke ich mich, wenn ich es einrichten kann, nur zu Hause und verstecke vor dem ersten Schluck den Schlüssel vom Bad. Ich will nie wieder in der Wanne schlafen müssen. Eine Nacht mit einem Traum, in dem Uwe Barschel erscheint, reicht mir. (Es war kein Selbstmord.)

Einsatz neben Odessas Büchermarkt, Ende September 2008

Als Oleg und ich gestern zum Strand fahren wollten, stand vor meinem Auto ein blauer Hyundai. Mein Plan war: warten. Zuparker halten sich fast immer in der Nähe auf und kehren schnell zurück. “Google”, flüsterte ich vor mich hin, “ungefähr 400 Treffer für Zuparker, für Falschparker sogar ungefähr 97700, kranke Welt.” Das Flüstern beruhigte mich augenblicklich.
„Und, Kolumnist, wie geht’s weiter?”, fragte Oleg.
„Wir warten. Hast du eine bessere Idee?”
Oleg sah sich um, trat dem Hyundai gegen das rechte Vorderrad und löste die Alarmanlage aus. Dann hockte er sich zu mir, während der Hyundai jaulte, und sagte: „Jetzt können wir warten.” Vierzig Sekunden später eilte ein Mann herbei, legte demütig zwei Hände auf die Brust und fuhr davon.
“Danke, Oleg.”
“Gern geschehen.”

Kein Bock auf Kolumnistencamping

Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn Oleg und ich gemeinsam ein Haus bauen würden. Ich wäre – vor dem ersten Spatenstich – ausschließlich damit beschäftigt, Kacheln für die Küche auszusuchen. Oleg würde an Zement denken – und an den Spaten natürlich.
“Oleg, versprich mir, dass wir nie ein Haus bauen werden”, sagte ich.
“Mit dir würde ich nicht mal zelten”, sagte Oleg. “Kolumnistencamping ist nichts für mich.”

Manchmal habe ich Angst, dass mein Freund sein Revier verlieren könnte, es geschieht nämlich Seltsames. Überall in Odessa werden die Bäume beschnitten. Noch im Juli hatte ein nächtlicher Sturm die schönen und üppigen Kastanien und Akazien umgerissen und auf Autos gezerrt. Es wird auch sehr viel abgeschleppt, ich sehe neuerdings mehr schwebende Hyundai als schlafende Hunde.

Strand Arkadia in Odessa, März 2008
Strand Arkadia in Odessa, März 2008

Überdies hat das Parlament in Kiew gerade die Strafen für Verstöße im Verkehr deutlich erhöht. Im Auto ohne Freisprecheinrichtung zu telefonieren kostet bis zu 850 Griwen, also fast 120 Euro. Bislang zahlte man nur seine Telefoneinheiten. Wer eine rote Ampel übersieht, kann wählen: 510 bis 680 Griwen oder 30 bis 40 Stunden gemeinnützige Arbeit. Bislang war dieses Vergehen ein Schnäppchen, vier Schachteln Zigaretten waren teurer.

Dass die Polizisten dank der höheren Strafen auch mehr Bestechungsgeld bekommen, wie die Zeitungen vermelden, stört mich nicht. Das ist in meinen Augen Mitarbeiterbeteiligung und motiviert doch, zumal die neue Härte bereits Wirkung zeigt. Heute Morgen, Punkt halb neun, haben zwei Autofahrer die Rotphase an der Ecke Jekaterinskaja und Troizkaja nicht ignoriert. Sie nutzten die Zeit effektiv und prügelten sich. Ich halte mich als Zeuge bereit, sage aber an dieser Stelle gleich: Ich weiß nicht, wer angefangen hat.

Der Arzt im Hausmeisterkittel

“Halt mal kurz an”, sagte Oleg gestern auf dem Weg zum Strand. “Da ist irgendwas passiert.”
Wir stiegen aus und sahen auf dem Bürgersteig einen Ohnmächtigen. Sein Gesicht war schon ein bisschen gelb. Fünf Männer stellten Diagnosen. Alkohol als Ursache der Ohnmacht wurde ausgeschlossen. Man nahm sich wirklich sehr viel Zeit für den Patienten.
“Ist denn irgendjemand in dieser netten Runde Arzt?”, fragte Oleg nach einer Weile. Die Blicke der fünf Männer wanderten zu mir, wahrscheinlich weil ich als einziger eine Brille trug.
“Ach, der ist nur Kolumnist”, sagte Oleg. Es folgte ein lautes Gelächter. Oleg lieh sich mein Telefon und rief einen Arzt.

Nach zehn Minuten kam der Krankenwagen. Ein Mann brachte eine Trage und steckte sich eine Zigarette an. Er trug einen Hausmeisterkittel. Nachdem er aufgeraucht hatte, bat er Oleg und mich, den Ohnmächtigen auf die Trage zu heben. Zu dritt brachten wir ihn in den Krankenwagen. Darin war nichts: keine medizinische Technik, keine Sauerstoffanlage, keine Absaugpumpe, kein Defibrillator, nicht mal ein Verbandskasten.

“Sind Sie Arzt?”, fragte ich.
“Sehe ich so aus?”, fragte der Mann zurück und rieb sich die Hände an seinem Hausmeisterkittel, holte aus der Brusttasche eine Zigarette, drehte dem bewusstlosen Gelben den Rücken zu, rauchte und fragte, was ich in Odessa machte, erzählte, dass seine Kinder auch viel im Internet unterwegs seien und in meinem Blog kommentieren könnten, kramte einen Kugelschreiber hervor und notierte sich meine Domain auf einem alten Kassenzettel.
“Ich muss los, hat mich gefreut”, sagte er und kletterte, eine frisch entzündete Zigarette zwischen den Lippen, in seinen Krankenwagen.

“Kolumnist, bleib bei deinen Streichen”, sagte Oleg am Strand. “Und mach dir um mich keine Sorgen. Erstens werden die Bäumen in jedem Herbst geschnitten. Und wie du vielleicht gesehen hast, liegen die Äste, Zweige und Blätter jetzt auch schon eine Woche herum. Zweitens wird viel abgeschleppt, weil wahrscheinlich irgendein Politiker in der Stadt ein Abschleppunternehmen aufgemacht hat.”
“Und was ist mit den Strafen für Raser?”, fragte ich.
“Ich nehme an, dass einige Politikersöhne gerade eine Ausbildung zum Polizisten machen.”

Kolumne: Oleg und die Bayernwahl

ODESSA, UKRAINE Ich verstehe meinen Freund Oleg nicht mehr. Seit Wochen verfolgt er den bayerischen Wahlkampf, er liest jede Meldung, kennt alle Umfragen und weiß sogar, wie der Spitzenkandidat der FDP heißt. Ich weiß gerade noch, dass der sozialdemokratische Herausforderer nicht Magnet heißt. Oleg hat auch die Programme der Parteien studiert und für jede mögliche Regierung ein Kabinett gebildet. Jeder kriegt mindestens ein Ministerium: Frauen, linker Flügel, rechter Flügel, Gewerkschafter, Katholiken, Protestanten, Oberpfalz, Niederbayern. Damit geräuschloser regiert werden kann, hat er selbst dem Querulanten, den es in jeder Partei gibt, ein Pöstchen verschafft. Bei Oleg wird er Landtagspräsident.
Seit einer Woche klingelt jeden Abend um kurz nach zehn mein Telefon. Oleg fragt: „Was meinst du, Kolumnist: 50 plus x oder weniger für die CSU? Weißt du was, was ich nicht weiß?”

Scharf auf die Wählerwanderung

Bis vor einer Stunde hat Oleg geglaubt, wir würden am Sonntag zunächst gemeinsam die erste Prognose in der ARD gucken und danach den Rest genießen: Live-Schalte in die Parteizentralen, Jubel, Tränen, Durchhalteparolen, erste, zweite und dritte Hochrechnung, Rücktritte, Koalitionsgerüchte und vorläufiges amtliches Endergebnis gegen Mitternacht.

In Odessa aber habe ich nicht einmal einen Fernseher. Wie soll ich ein deutsches Programm empfangen? Ich glaube auch nicht, dass irgendeine Kneipe auf einer Großleinwand zufällig die Wahl in Bayern zeigt.

„Es wird nichts, Oleg.”
„Schade, ich hatte mich schon so auf die Elefantenrunde gefreut.”
„Tut mir leid. Du warst ja auch so scharf auf die Wählerwanderung.”
„Erzähl mir jetzt wenigstens von Bayern, eurem herrlichen Freistaat”, sagte er.

Unterwegs im Alkoholfrei-Staat

Ich habe München im Oktober geschildert und Oleg den warmen Wind spüren lassen, der manchmal aus Italien über die Alpen herüberweht und die Schönen auf der Maximilianstraße noch ein bisschen schöner macht, ich habe ihn durch den Englischen Garten geführt und ihm auf dem Viktualienmarkt eine Leberkässemmel spendiert. „München hat übrigens mehr Regentage im Jahr als Hamburg”, habe ich gesagt. „Wusstest du das? In Hamburg schlägt das Wetter nur schneller um.” Am Abend sind wir ins Staatstheater gegangen. Das Oktoberfest und das Hofbräuhaus haben wir nicht mehr geschafft. Mein Bayern für Oleg war ein Alkoholfrei-Staat.

Oleg öffnete die Augen. „Du würdest Günther Beckstein wählen”, sagte er.
„Fragst du oder weißt du?”
„Du bist doch so ein Ordnungsfanatiker. Muss doch immer alles sauber sein in deiner Welt. Du hättest gar keine Wahl. Beckstein wäre dein Mann.”

Ich habe Oleg erzählt, wie mir Günther Beckstein vor fast einem Jahr, am Tag der Deutschen Einheit in Schwerin, ein Interview gegeben hat, es war kein richtiges Interview, er hatte den Mikrofonhaltern vom Fernsehen schon alles erzählt, als ich mich ihm in den Weg stellte. Beckstein kam vom Drachenbootrennen der Ministerpräsidenten, war verschwitzt und schnaufte noch ein bisschen. Ich weiß nicht mehr, was ich in meinen Block gekritzelt habe, ich erinnere mich aber, dass ich Beckstein mochte. Er gab sich nicht betont volksnah und hatte keine vorbereiteten Antworten im Mund, er besaß Selbstironie und nahm sich alle Zeit für diesen Volontär einer mecklenburgischen Zeitung, der lauter seltsame Fragen stellte, aber tat, als sei er der Parlamentskorrespondent der Süddeutschen und immer wieder mit dem Putsch gegen Edmund Stoiber kam. Der Doktor der Juristerei – Promotionsthema: “Der Gewissenstäter im Straf- und Strafprozessrecht” – hätte über mich lachen können. Er lachte lieber über sich selbst. Beckstein war anständig. Sechs Tage später wurde er Landesvater.

„Er war der Sympathischste von allen Ministerpräsidenten”, sagte ich zu Oleg
„Und wer war am unsympathischsten?”
„Das war eindeutig…nein, das kann ich nicht verraten. Der Mann hört sowieso bald auf.”
„Nun sag schon.”
„Du kennst ihn nicht”, sagte ich und flüsterte einen Namen.
„Kenn ich nicht. Sag noch mal. Wie heißt der?”
Ich flüsterte abermals.
„Nie gehört.”
„Geht vielen so”, sagte ich und schwieg.

Der Kolumnistenkumpel als Retter

Ich dachte an Günther Beckstein vor einem Jahr und dann an die Schlagzeilen der vergangenen Wochen, an die Häme für den Wahlkämpfer, an diese Fotos. Manchmal war in den Zeitungen das Bierglas größer als Beckstein. Manchmal spiegelte sich in den Biergläsern mein Gesicht. Ich hätte Beckstein damals in Schwerin warnen müssen. Ich hab’s versaut.
„Ich hab’s”, rief Oleg und riss mich aus den Gedanken. „Frag Axel!”
„Wie bitte?”
Axel Scherm muss uns helfen. Er ist dein Kolumnistenkumpel.”

Wenn ich Oleg richtig verstanden habe, sollen wir Axel zehn Minuten vor der ersten Prognose über Skype anrufen. Wir werden schon erwartet. Herr Scherm hat am Nachmittag eine Kamera an seinen Computer angeschlossen und auf den Fernseher gerichtet. Dank einiger Testanrufe anderer Kolumnisten konnte er in den folgenden eineinhalb bis zwei Stunden das Übertragungsbild Stück für Stück optimieren. Schon seit dem Mittagessen murmelt er unaufhörlich: „Ich darf nicht vergessen: Fernseher um halb acht ganz laut drehen! Oleg will die Elefanten gut verstehen.” Das ist, in groben Zügen, der Plan.

„Meinst du, das klappt, Kolumnist?”
„Ich frag Axel.”
„Du hast was gut bei mir.”

(Diese Kolumne enthält keine Wahlempfehlung.)

Korrekturkolumne: Ich bin ein Staatsfeind

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg redet nicht mehr mit mir, weil ich Schande über die Ukraine gebracht haben soll. Ich dachte zunächst, er meine die Korruptionskolumne “Oleg ist dabei”, ich wollte mich verteidigen und sagte, ich hätte sie schreiben müssen und sei von den Lesern gezwungen worden. “Sie wollten immer mehr Honig, Oleg, wir feierten doch die Korruptionswoche in meinem Blog, Oleg, die Stimmung war prächtig. Oleg, bitte glaub mir. Außerdem ging es doch fast gar nicht um dich, sondern mehr um die Bären in Odessas Zoo.”

Oleg meinte aber meine Nachricht “Die schöne Tochter von Lady Ju”. Witalina (27) im Hochzeitskleid auf dem Laufsteg in Mailand hatte ich schon verdrängt. Ich bin ja ohnehin ziemlich vergesslich.
“Du hast Julia Timoschenko ein Kind gemacht, du Schuft! Sie ist eine Heldin. Sie hat die Orangene Revolution erkämpft”, schrie Oleg heute Nachmittag. “Du hast unserem Präsidenten Wiktor Juschtschenko, einem Maladjez, die Tochter genommen, du kranker Kolumnist.”
“Ich habe aus der Präsidententochter die Ministerpräsidentinnentochter gemacht, ist das unverzeihlich? Kann das nicht mal passieren?”, fragte ich.
“Ja! Nein! Du beleidigst ein stolzes Volk.”
“Ich habe etwas verwechselt, ich habe nicht aufgepasst, ich habe mich auch entschuldigt. Du schimpfst immerzu auf Timoschenko und Juschtschenko. Bei dir sind sie keine Helden und Prachtkerle. Ich dürfte nicht mal zitieren, was du über sie sagst.”
“Ich darf das, ich bin ein Ukrainer”, sagte Oleg. Danach kam dieser Satz von der Schande.

Skatbruder Heinz Moltke und die gerupfte Gans

Es gibt Statistiken, wonach jeder Lokführer zweimal im Leben mit seinem Zug ungewollt einen Selbstmörder überrollt. Journalisten erleben ähnliche Tragödien. Sie können Tote über Nacht wieder zum Leben erwecken, bloß dankt es ihnen niemand. Bei mir war es der Klassiker: Man holt ein Foto aus dem Archiv, von einem Skatabend zum Beispiel, um die Leser zur Teilnahme am Herbstturnier aufzurufen, und schreibt unter das Bild, Heinz Moltke habe im Frühjahr souverän gewonnen und hoffe wieder auf gute Karten. Wenn das Zeitungsarchiv gepflegt wird, findet man sogar noch das Foto des Siegers bei der Preisübergabe. Bei mir hatte Heinz Moltke eine schon gerupfte Gans im Arm. Er lachte.

Am nächsten Morgen, gerade in der Redaktion eingetroffen, hat man eine aufgelöste Frau am Telefon, genauer gesagt: die weinende Witwe Moltke. Da hilft dann nur: der beste Blumenstrauß, den der teuerste Florist im Ort für Geld binden kann, und ganz viel Demut. Ausreden sind absolut unangebracht und wirken verheerend. Bei Kaffee und Kuchen, natürlich vom Verursacher der Tränen gekauft und vorbeigebracht, erzählt Frau Moltke einen Nachmittag lang ihre Lebensgeschichte vom ersten bis zum letzten Tanz mit Heinz. Am Ende dieses mehrstündigen Monologs klagt man trotzdem nicht. Man dankt Gott für seine Güte und Milde, auch wenn man Atheist ist.

Juschtschenko und mein Blog

Vor einer Stunde habe ich Oleg angerufen, ich brauchte seinen Rat. Oleg meldete sich nicht mit seinem Namen, wie er es sonst tut, er nahm den Hörer ab und sagte gleich: „An deiner Stelle würde ich ein bisschen aufpassen, wenn ich auf die Straße gehe.”
„Liest Juschtschenko mein Blog?”
„Nein”, sagte Oleg.
„Ein Glück.”
„Natürlich lässt er lesen. Er ist der Präsident.”
“Oleg, hör mal bitte zu. Soll ich Juschtschenko und Timoschenko Blumen oder besser Kuchen schicken?”, fragte ich.
“Glaub mir, mein Freund, den Strauß, der dich retten könnte, den gibt es nicht. Und Kuchen würde ich dem Präsidenten erst recht nicht schicken. Andrejewitsch ist seit diesem Vorfall, du weißt schon, sehr vorsichtig geworden. Du kennst mich nicht, ja?”

Ich hoffe, ich habe jetzt als Journalist genug Tragödien angerichtet und werde nie mehr einen Toten zum Leben erwecken müssen. Wann immer ich Skat spiele, denke ich an Heinz Moltke (†) und die gerupfte Gans in seinem Arm.

Korruptionskolumne: Oleg ist dabei

ODESSA, UKRAINE Ich glaube, mein Freund Oleg ist korrupt, ein bisschen jedenfalls, man könnte dieses Problem vermutlich auch anders nennen. Bestimmt ist er nur ein sympathischer Kerl, der hilft, wenn im Büro Hilfe gebraucht wird, und dafür entlohnt wird. Ich kann ohnehin noch nichts beweisen, obwohl ich ihm allmählich auf die Schliche komme. Oleg macht Fehler, schwere Fehler.

Vor drei Tagen hat er mir das größte Honigglas geschenkt, das ich je gesehen habe, es ist unheimlich riesig. Die Bärenfamilie in Odessas Zoo könnte die Freunde aus dem Kiewer Gehege einladen, eine dreitägige Honigparty feiern und den Rest als Kleister zum Tapezieren der Wände nehmen. Danach müsste allen Bären wegen Honigvergiftung der Magen ausgepumpt werden.

Ich musste erfahren, woher das Glas stammt.
„Ist von Mama höchstpersönlich”, sagte Oleg.
„Schon wieder ein Geschenk von ihr?”, fragte ich.
“Das ist Kolumnistenköder, du sollst sie mal besuchen.”

Keine Angst vor fünf sibirischen Wintern

Olegs Mama muss fabelhaft sein. Sie ist eine bienenfleißige Imkerin, die überdies CDs presst oder sogar Boss einer Plattenfirma ist, eine Dickestrümpfestrickfabrik besitzt und immer ein paar Whiskyfässer im Keller hat. Hin und wieder schenkt sie mir eine CD. Die Strümpfe, die mir Oleg in ihrem Namen überreicht hat, brächten mich durch fünf sibirische Winter. Den Whisky habe ich noch nicht probiert. Erst muss der Honig alle werden. Natürlich leugnet Oleg, dass er sich bestechen lässt.

Ich habe überlegt, was man mir bieten müsste, dass ich korrupt würde. Viel ist mir nicht eingefallen. Geld interessiert mich nicht. Die Spielzeuge der Männer besitze ich schon. Ich habe ein Auto, das ich eigentlich nicht brauche, eine Uhr, die ich wegen ihrer Kostbarkeit kaum trage, und ein Handy, an dem ich nicht hänge. Es klingelt zweimal, dann verliere ich es schon wieder. Wer mein Telefon findet, hat praktisch ein neues Modell. Und wenn ich Eisenbahn spielen will, gehe ich zwischen 8 und 16 Uhr in das Zimmer meines Sohnes, dann ist er im Kindergarten, und stelle ein paar Weichen seiner Briobahn um. Die Dampflokomotive schnauft sogar.

Sehnsucht nach Pesto

Bis gestern hätte ich trotzdem gewusst, wie man mich verführen kann. Wäre ein Mann gekommen und hätte mir versprochen, jeden Montag zwei Gläschen Pesto, eingewickelt in Zeitungspapier, im Morgengrauen vor meine Tür zu legen, ich wäre schwach geworden. Pesto ist Mangelware in Odessa. An einem guten Tag fragt mich die Verkäuferin, was Pesto sei, nachdem ich sie gefragt habe, wo Pesto im Regal stehe. Ich stottere und sage: „So etwas Ähnliches wie das hier, nur in Grün und für Nudeln.” Dabei zeige ich auf Senf.

An einem schlechten Tag finde ich Pesto und überlege, ob der Marktleiter oder die Marktwirtschaft bekloppt ist, weil zwei Teelöffel dieser Paste umgerechnet zehn Euro kosten. Käme in einem solchen Augenblick dieser Mann und verspräche eine montägliche Lieferung ohne jedes Risiko für mich, ich würde wahrscheinlich einiges tun, das sich für einen Journalisten außerhalb der Lokalberichterstattung nicht gehört.

Bis gestern war ich in Gefahr. Als präventiven Schlag gegen meine Verführbarkeit habe ich mir heute einen Mixer gekauft. Jetzt mache ich Pesto selbst und bin nicht mehr korrumpierbar.

“Tribut an die Tradition”

Ich würde Oleg gern helfen, diesem Korruptionssumpf aus Honig, Whisky, dicken Socken und CDs zu entsteigen. Er ist doch bloß ein Opfer des ukrainischen Systems. Wahrscheinlich lassen sich die Kollegen auch beschenken für eine kleine Gefälligkeit und üben einen Gruppenzwang aus. Andrej Kurkow, einer der großen Schriftsteller des Landes in der Gegenwart, schreibt in seinem Buch „Die letzte Liebe des Präsidenten”, manche Korruption in der Ukraine könne gar nicht verboten werden. Sie sei „ein Tribut an die Tradition”.

Ich muss Oleg da trotzdem rausholen, ich bin Journalist, ich habe sogar einen internationalen Presseausweis, der mich vor Übergriffen schützen soll, ich kann doch nicht zuschauen, wie in meinem unmittelbaren Umfeld der Filz wächst. Ich könnte Oleg eine neue Identität verschaffen, ich habe ganz gute Kontakte in die Schweiz: Der Chef von Krusenstern.ch, ein Experte für Russland, Belarus und die Ukraine, hat mein Odessa-Blog verlinkt.

Andererseits, wie fülle ich meine Kolumnen, wenn Oleg in der Schweiz untergetaucht ist?

Kolumne: Meine Nächte als Gerhard Schröder

ODESSA, UKRAINE Ich will nicht, dass Gerhard Schröder im nächsten Jahr Kanzler wird, ich bin gegen eine dritte Amtszeit des Hannoveraner Hengstes, obwohl ich weiß, dass die Alternative Angela Merkel heißt. Frank-Walter Steinmeier, der sozialdemokratische Außenminister, ist ja bloß ein Strohmann. Noch am Wahlabend, gleich nach seinem Triumph, würde er Schröder vorschlagen und abermals dessen rechte Hand im Kanzleramt werden. Er ist kein Mann für die erste Reihe.

Mir ist Schröder schon jetzt unerträglich allgegenwärtig; es hat gewiss damit zu tun, dass er wieder kräftig mitmischt. Er verteidigt Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin im Kaukasuskonflikt und will im bayerischen Landtagswahlkampf die CSU besiegen. Ich verkrafte das nicht. Ich träume oft von Schröder, ich kann das nicht verhindern. Schröder steht jeden Abend an meinem Traumzaun und schreit, wohl nicht mehr ganz nüchtern: „Ich will hier rein!” Noch unangenehmer ist, dass ich wie Schröder bin. Nachts schlüpfe ich in die Schröderrolle. Das liegt zweifelsohne an den einhundert Tagen, die ich nun als oberster Odessit der Familie im Amt bin. Im Traum verteidige und erkläre ich meine ersten Entscheidungen. Die Schonfrist ist ja vorbei. Jetzt wird abgerechnet. Ich muss mich an meinen Versprechen messen lassen.

“Basta!”

Jedes Mal träume ich mich durch die ersten einhundert Tage in Odessa. Als die zwei anderen Mitglieder der Familie und ich zur ersten Sitzung zusammenkommen, sage ich als Chef der Exekutive: „Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen.” Ich spreche auch unbequeme Wahrheiten aus und kündige Reformen an, ich will verkrustete Strukturen aufbrechen und den Haushalt konsolidieren. Ich erinnere mich an meine Worte genau: „Die Wochenarbeitszeit wird steigen müssen. Den Mittagsschlaf unter der Woche werden wir streichen. Basta!”

In den nächsten Wochen setze ich dies mit meiner Richtlinienkompetenz auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen durch, weil es unvermeidlich ist, um nicht auf Kosten der nächsten Generation zu leben. Für so etwas gibt es natürlich keinen Beifall. Mehr als einmal stehe ich vor einem Misstrauensvotum. Mehr als einmal muss ich auch mit Rücktritt drohen.

Gleich am zweiten Tag habe ich einen Kassensturz angeordnet. Alle Ausgaben sollten auf den Prüfstand. Mein Ziel war und ist es, im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Mit dem Schuldenmachen muss Schluss sein; das ist für mich eine Frage der Generationengerechtigkeit. Mich selbst schone ich selbstverständlich nicht, auch mein Budget wird beschnitten. Zum Beispiel senke ich sukzessive die Aufwendungen für Sprit (Auto und Seele). Ich gehe häufiger zu Fuß und trinke mehr Tee.

Keine Glotze

Im Traum halte ich flammende Reden: „Ich weiß, wo ich herkomme”, schreie ich mit heiserer Stimme. „Und wer mich kennt, weiß, dass ich, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, meine ganze Kraft für die soziale Gerechtigkeit einsetze.”

Ich kaufe ein, mache die Wäsche und schütze insgesamt die innere Sicherheit. Ich habe ja auch versprochen, meine Stammwählerin zu entlasten und die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu verwirklichen. Natürlich habe ich auch gleich am ersten oder zweiten Tag im Amt ein Investitionsprogramm aufgelegt, um die Infrastruktur zu verbessern. Das neue Ehebett war nur der Anfang. Ich werde das Schlafzimmer weiter modernisieren. Ich bin überzeugt, dass sich das auszahlt. Die Geburtenrate wird steigen. Ich habe auch den Fernseher abgeschafft. Ich brauche nur „Segodnya” und „Argumentü i Faktü”, aber keine Glotze.

Heute Morgen habe ich verschlafen, ich war wohl ein bisschen amtsmüde, ich hätte Oleg zum Frühstück im Café treffen sollen. Stattdessen klingelte er mich aus dem Bett, kochte in der Küche Kaffee, brachte mir eine Tasse und weckte mich. Ich war noch einmal eingeschlafen, gab gerade wieder ein Interview und erzählte von meiner Mutter, die mich in schwerer Zeit groß gezogen hat.
„Trink erst mal den Kolumnistenkaffee, ist extra stark”, flüsterte Oleg.
„Die wollen mich fertig machen”, sagte ich.
„Wer?”
„Alle.”

Oleg als Gutachter

Ich nahm den ersten Schluck, setzte mich hin, war nicht länger verschrödert und sagte: „Oleg, ich bin jetzt einhundert Tage in Odessa. Bist du zufrieden, wie ich die Familie führe? Sei ehrlich.”
Oleg rückte näher, so dass seine Wimpern fast mein Kinn berührten, er drehte den Hals und starrte zu mir hinauf, schwieg einen Augenblick und schüttelte den Kopf. „Ich will mich nicht in deine inneren Angelegenheiten einmischen”, sagte er schließlich. „Aber kann es sein, dass die Kolumnistennasenhaare in Odessa schneller wachsen?”
„Ist das deine Bilanz?”
„Die Kolumnistennase hat den Filter verstärkt”, sagte Oleg. „Der alte Charles Darwin wäre stolz auf dich. Du hast eine absolute Anpassernase, du bist ein Wunder der Evolution. Die Nase schützt dich vor gesundheitlichen Schäden.”

„Was meinst du?”, fragte ich.
„Liest du denn keine Zeitung, die Segodnya zum Beispiel? Odessa ist die zweitschmutzigste Stadt der Ukraine.”
„Das kann nicht sein”, sagte ich.
„Das sagt die Stadtverwaltung auch.”
„Die Messung muss falsch sein”, sagte ich.
„Das sagt die Stadtverwaltung auch.”

Oleg nahm seine Wimpern wieder von meinem Kinn. Er lächelte. Dann sagte er: „Ich gratuliere, du bist ein echter Odessit.”

Nachtrag, 22.05: Mein Kolumnistenkollege Axel Scherm, der nur unwesentlich schlechter golft als Tiger Woods, aber wesentlich witziger ist, hat mich in den Kommentaren darauf hingewiesen, dass zumindest der erste Absatz meiner Kolumne kabarettreif ist. Ich empfehle mal zu schauen, wie sich die “Anstalt” im ZDF gestern Abend Gerhard Schröder gewidmet hat. Danke, lieber Axel.

Kolumne: Oleg und die Alpha-Blogger

ODESSA, UKRAINE Warum rede ich überhaupt noch mit meinem Freund Oleg? Gestern habe ich ihn gefragt, wie das mit meinem Auto sei. Ich habe jetzt ein Visum, ich muss die Ukraine also nicht mehr verlassen, weil die Neunzig-Tage-Frist für Touristen hinfällig ist. Mein Auto aber muss eigentlich nach sechzig Tagen aus dem Land verschwunden sein, das habe ich mir sagen lassen. Ich wollte nur wissen, ob mein Visum möglicherweise an der Sache etwas ändert. Oleg ist Ukrainer, er muss die Rechtslage kennen.
Er hat gesagt: „Die Kolumnistenkarre ist relativ legal in der Ukraine.”

„Relativ legal” – was soll bedeuten? Nimmt die Polizei mein Auto mit und lässt mich laufen? Oder nimmt sie mich mit und lässt das Auto fahren? Oder muss ich vielleicht nur die Räder abschrauben?
„Relativ legal ist gar nicht schlecht”, hat Oleg gesagt.

Morgen erste Blogsitzung

Ich frage mich, warum alles so kompliziert geworden ist. Oleg lässt mein Odessa-Blog inzwischen von Spionen beobachten, die bei Google arbeiten, ich wollte das gar nicht. Ich glaube, Oleg übertreibt es langsam, er steigert sich da in etwas hinein. Vor Wochen wusste er noch nicht, dass es das Internet überhaupt gibt, jetzt liest er diese Analysen, mischt sich ein und kennt alle Alpha-Blogger in Deutschland und der Ukraine samt Lebenslauf. Er hat auch noch angefangen, Helmut Markwort zu bewundern, ich weiß nicht, ob sich das noch stoppen lässt.

Morgen haben wir unsere erste Blogsitzung. Oleg will mit mir besprechen, was in der nächsten Woche veröffentlicht wird, er meint, wir müssten Themen setzen, er erwartet Vorschläge von mir. „Du reagierst zu viel, du musst mehr agieren”, hat er gesagt. Als ich guckte wie eine Kuh mit Darmwind, rief er: „Faktü, Faktü, Faktü – und immer an die Leser denken!”

In jeder freien Minute sichtet Oleg, was seine Spione aus meinem Odessa-Blog zusammentragen. Sie berichten angeblich, dass die Absprungrate zu hoch ist und ich viele neue Besucher gleich wieder in den ersten zehn Sekunden verliere. Vorerst will Oleg noch auf ein Relaunch der Seite verzichten, das könne man immer noch tun, hat er gesagt, er glaubt, Bilder würden auch schon einen gewissen Effekt erzielen und mich retten.

Zwischen Wowereit und den Pet Shop Boys

„Und wo wir gerade bei der Fehlersuche sind”, sagte er. „Den asiatischen Markt hast du bisher auch nicht erobert – nur ein Leser aus Taiwan, das ist eindeutig zu wenig.”
„Ich kenne keinen Taiwanesen”, sagte ich.
„Das ist egal, Kolumnist, in Asien liegt die Zukunft. China und Indien sind bald Weltmächte. Wenn nur einer von hundert Chinesen oder Indern dein Blog liest, können dich die Alpha-Blogger mal gern haben.”
Oleg will außerdem, dass das Blog mehr Romantik und Zärtlichkeit bekommt wegen der Frauen, denn Frauen, auch das haben die Spione offenbar herausgefunden, stünden bislang kaum auf mich, also eigentlich überhaupt nicht, die spürten nichts bei mir, null. Was das Scharfmachen von Frauen betrifft, liege ich zwischen Klaus Wowereit und den Pet Shop Boys.

Es gibt Dinge, da bin ich empfindlich, sehr empfindlich.
„Was soll das heißen?”, schrie ich.

„Ganz ruhig, Kolumnist, du bist nur kein Frauentyp”, sagte Oleg. „Du bloggst zu männlich.”
„Ich bin ein Mann.”
„Schreib einfach mal eine Kerzenscheinkolumne.”

Ich habe schon zugestimmt, dass demnächst eine Sushi-Kolumne von mir erscheint, um erst mal Japan klarzumachen. Eine Kolumne zu Ehren Buddhas – für Bangladesch, Bhutan, Indien, die Malediven, Nepal, Pakistan und Sri Lanka, Nord- und Südkorea, Indonesien, die Philippinen, Brunei, Vietnam, Osttimor und Malaysia – ist auch versprochen. Aber eine Kerzenscheinkolumne schreibe ich nicht auch noch.

„Dein Erfolg in der Ukraine ist schon ganz ordentlich. Darauf können wir aufbauen”, sagte Oleg noch und zeigte mir seine Unterlagen: 21 Besuche, 24 Minuten Besuchszeit. Wenn ich nicht aufpasse, ergeht es mir wie den Scorpions, die im Osten Europas erfolgreicher sind als in Deutschland. Ich werde so etwas wie der Klaus Meine der deutschen Blogosphäre.

Schweißausbrüche in der Nacht

Ich weiß nicht, was 21 Ukrainer durchschnittlich 24 Minuten in meinem Blog treiben. Vielleicht sind sie wirklich Leseratten oder suchen den Blick von außen auf ihr Land. Vielleicht müssen sie die Texte auch erst übersetzen und brauchen deshalb etwas länger.

Vielleicht aber stehe ich auch schon unter Feindbeobachtung.

Seit Oleg mich und mein Blog ausspionieren lässt, schlafe ich schlecht. Manchmal wache ich nachts auf, schweißgebadet natürlich. Ich schaue nach, ob die Tür abgeschlossen ist. Auf dem Weg zurück ins Bett frage ich mich jedes Mal: Wer klickt in Taiwan meine Seite an?

Irgendwann schlafe ich wieder ein und träume, dass ich mich von meinem Auto trenne, damit es nicht beschlagnahmt wird. Ich verkaufe es weit unter Wert. Der Käufer und neue Besitzer ist ein gewisser Oleg.

Kolumne: Mein Sohn und der Kapitalismus

ODESSA, UKRAINE Mein Sohn wird Kapitalist werden, ich habe es im Gefühl. Ich traue es ihm auch ohne weiteres zu, er hat schon jetzt gewisse Züge, die ich als kapitalistisch einstufe. Er lässt sich zum Beispiel für Dinge bezahlen, die in seinem Alter noch selbstverständlich sein sollten. Er stellt Forderungen. Er tut kaum noch etwas ohne Gegenleistung. Ich muss sagen, er verhandelt außerordentlich geschickt. Wenn er essen, baden oder schlafen soll, fragt er: „Kaufst du mir den gelben Bagger?” Manchmal soll es auch nur ein Besuch im Zoo sein. Irgendwann kommt immer der Augenblick, da ist man als Verhandlungsvater erpressbar. Ich kaufe lieber alle gelben Bagger, die ich in Odessa auftreiben kann, weil ich den Zoo kenne. Ich versuche, mein Urteil so freundlich wie möglich zu formulieren: Man riecht ihn von weitem.

Natürlich, mein Sohn ist noch in der Tauschphase, aber weiß ich denn, wie lange das so bleibt? Die Menschheit hat doch auch so angefangen: Tausche eine Nacht in der geheizten Höhle gegen Mammutbraten, ja, so war das. Mein Sohn hat überdies noch einen Hang zum Geiz. Er weigert sich, Straßenmusikanten Geld zu überbringen, er steckt es lieber ein, überhaupt hat er es gern. Stundenlang kann er Münzen sortieren und auftürmen, ohne dass er sich langweilt. Natürlich gebe ich mir die Schuld. Ich bin sein Vater.

Frauen, Porsche, Che Guevara

Mein Sohn darf Polizist werden oder Maschinist, Internist, Dentist, Journalist, Florist, Alchimist, Moralist, Putschist, Nudist, Defätist, Realist, Idealist, Christ und – wenn es unbedingt sein muss – auch Jurist oder Kolumnist. Ich hätte kein Problem, ich bin liberal, er soll finden, was ihn erfüllt. Aber mein Junge wird kein Kapitalist. Ich lasse es nicht zu, klar? Warum? Ist unsere Gesellschaft schon so verkommen, dass ein Vater begründen muss, warum der Sohn nicht Kapitalist werden soll?

Ich weiß noch nicht, wie ich das verhindere. Ich kann ja unmöglich als Gute-Nacht-Geschichte jeden Abend eine halbe Seite aus dem „Kapital” von Karl Marx vorlesen; da bin ich noch nicht durch, wenn der Sohn meines Sohnes beschließt, Kommunist zu werden. Eine Waldorfschule gibt es in Odessa nicht. Che-Guevara-Leibchen für Zweieinhalbjährige habe ich auch noch nicht gesehen. Ich sehe nur, dass die schönsten und elegantesten Frauen von mutmaßlichen Kapitalisten ausgeführt werden, und mein Sohn wird das auch bald merken. Von den Autos rede ich gar nicht. Mein Sohn steht auf Porsche. Wenn er in Odessa einen Porsche sieht, kriegt er den Mund gar nicht mehr zu. Raten Sie mal, wer drinsitzt. Ganz genau.

Jetzt hat ihm die ukrainische Botschaft in Berlin auch noch das Visum für Geschäftsreisende ausgestellt. Er ist noch nicht mal drei, reist aber als Unternehmer. So etwas bleibt doch nicht ohne Folgen, ich sag nur: frühkindliche Prägung.

Ein Vater-Sohn-Gespräch

Ja, ich weiß, es gibt Kapitalisten, die Gutes tun, die eine Stiftung gründen und spenden, ich lese so etwas auch hin und wieder. Aber mal ehrlich, kennen Sie einen, ich meine: persönlich?

Ich habe heute Morgen mit meinem Sohn gesprochen, es war mir wichtig, ich wollte Klarheit, ich konnte nicht mehr schlafen, ich musste ihn wecken.
„Guten Morgen, mein Schatz. Papa muss dich jetzt unbedingt etwas fragen”, habe ich gesagt.
„Will schlafen.”
„Willst du Ka-pi-ta-list werden oder Ni-hi-list?”
Mein Sohn hat ein paar Sekunden überlegt, sich die Augen gerieben und mich angeschaut. Er hat gelächelt und dann geantwortet: „Ka-pi-list, Papa.”

Kolumne: Meine Brille gehört mir

ODESSA, UKRAINE Seit ich in Odessa lebe, bin ich ein Freund der Generation „50 plus” in Deutschland, ich verstehe die Sorgen der Frauen und Männer, die der Arbeitsmarkt nicht mehr braucht. Mir ergeht es ähnlich, obschon ich viel jünger bin, ich werde auch nicht gebraucht. Es gibt in der Stadt viele offene Stellen, wie das so schön heißt, vor allem in Restaurants, Cafés, Supermärkten, Geschäften und Salons jeder Art herrscht Mangel an Personal. Überall lese ich die Aushänge. Für mich ist nie ein Angebot dabei.

Das ist keine Ausrede, ich versuche nicht, mich zu drücken, ich will ja arbeiten, ich bin mir nicht zu fein, ich würde mich auch waschen und rasieren vor dem Vorstellungsgespräch, ich wäre bereit, vorher ein unbezahltes Praktikum zu machen. Ich könnte mich dumm stellen, um nicht überqualifiziert zu erscheinen, es fiele mir gar nicht schwer. Sollte ich zu dumm sein und unterqualifiziert erscheinen, könnte ich mich weiterbilden.

Ich glaube, ich wäre ein guter Kellner oder Verkäufer, ich bin auf den ersten Blick ganz umgänglich und auf den zweiten ausreichend verschlagen, ich arbeite schließlich lange genug als Journalist. Ich würde zwar nicht so weit gehen, zu behaupten, dass ich Eskimos Kühlschränke verkaufen könnte, aber ein Vegetarier verließe das Lokal, in dem ich bediene, wahrscheinlich nicht ohne ein Rinderfilet im Magen.
In Odessa aber bin ich nicht vermittelbar. „Wir stellen ein: Mädchen bis 25 und Frauen bis 30″, steht auf den Aushängen. Und überall arbeiten jetzt schon Mädchen bis 25 und Frauen bis 30. Ich weiß nicht, ob dieser Weiberwahn richtig ist.

Ich bin beim Fotografen gewesen, weil ich Passbilder brauchte. Eine Frau bis 30, vielleicht war es auch noch ein Mädchen bis 25, mit aufrechtem Busen, brauner Haut, blondem Haar und Fitnessstudiofigur, unbestreitbar ausgesprochen attraktiv, platzierte mich und holte dann die Kamera: neueste Technik, leicht und kompakt, kein schwarzes Monster, das einen gleich erschreckt. Meine Oma hat so eine Knipse dabei, wenn sie mit ihren Freundinnen vom Seniorenklub in den Harz fährt.

Nach zwanzig Sekunden war ich fertig, es ist ja der Wahnsinn, was sich in der digitalen Fotografie gerade abspielt, zehn Minuten später hatte ich die Passbilder, das geht ja so rasend schnell heutzutage, 15 Sekunden später fragte ich die Fotografin, wie dieses Ungeheuer auf den Aufnahmen heiße. Durch beide Pupillen ging ein senkrechter, silberfarbener Strich. Irgendetwas, vermutlich der Blitz, war dort eingeschlagen. Meine Augen sahen ein bisschen aus, als würden zwei Dreistachlige Stichlinge an den Lidern Klimmzüge machen. Ein Fotograf, der nicht ganz unterbelichtet ist, müsste so etwas erkennen und verhindern, meine ich.
„Sie müssen die Brille absetzen”, sagte die Frau bis 30 oder das Mädchen bis 25.

Seit meinem vierten Lebensjahr trage ich eine Brille, ich bin also fast mit ihr auf die Welt gekommen. Bis weit in die Pubertät hinein war ich überall, in der Klasse, im Ferienlager, im Sportverein, der einzige Junge mit einer Sehhilfe. Man musste auf Gruppenbildern nur die Brille suchen, schon hatte man mich gefunden.

Ich habe auch alle gemeinen Spitznamen getragen, die sich Kinder ausdenken. Ich war: Brillenschlange, Vierauge, Professor, Blindschleiche, Maulwurf. Ich versuchte gegenzusteuern und die Tiervergleiche loszuwerden, indem ich die Schimpfwörter Fielmann und Kassenclown für mich erfand. Sie setzten sich aber nicht durch. In all den Jahren habe ich überdies kein Gestell ausgelassen, vor meinen Augen war nie ein Trend sicher. Ich sah aus wie Woody Allen, wie Stefan Aust, wie John Lennon und wie Ilona Christen.

„Nehmen Sie sie doch einfach ab”, sagte Fotografin.
„Auf Wiedersehen”, sagte ich und ging. An der Tür entdeckte ich einen dieser Aushänge.

Meine Brille gehört mir; ohne fühle ich mich nackt, ohne habe ich kein Gesicht. Ich habe nicht die Jahre als Brillenschlange, Vierauge, Professor, Blindschleiche, Maulwurf, Fielmann, Kassenclown, Woody Allen, Stefan Aust, John Lennon und Ilona Christen überlebt, um mich in Odessa von einer Frau bis 30 oder einem Mädchen bis 25 verunstalten zu lassen. Ich werde mit Aschenbechern vor den Augen im Sarg liegen, das verfüge ich übrigens sogar testamentarisch.

Ich habe einen anderen Fotografen gefunden: uraltes Modell, Mitte fünfzig, schwer und kompakt, ein zotteliges Monster, das einen gleich erschreckt, hinter einem schwarzen Monster, das nicht weniger Angst verbreitet. Der Mann hat sein halbes Leben, statt am Strand oder im Fitnessstudio, in der Dunkelkammer verbracht und sieht auch so aus. Seine Passbilder sind perfekt.

Nachtrag: Mein lieber und geschätzter Kolumnistenkollege Axel Scherm hat sich auch mit dem Thema beschäftigt und ist zu der Erkenntnis gelangt, dass Nachrichtensprecher Heinz Wolf dringend ein Nasenfahrrad braucht. Ich empfehle, mal Axel Scherms Brillenkolumne aufzusetzen zu lesen.