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Kolumne: Oleg, John und Marschrutka

(Haben Sie Lust auf eine Stadtrundfahrt? Dann steigen Sie bitte ein.)

An einem Tag, der damit beginnt, dass mich mein Freund Oleg anruft und weckt, habe ich entweder Geburtstag oder brauche in den nächsten Stunden starke Nerven. Da ich in mehr als 33 Jahren noch nie im Juli Geburtstag gehabt habe, war mir gleich klar: Es kommt etwas auf mich zu.

Oleg sprach sehr schnell und bestellte mich in ein Café. Er sagte, es sei dringend. Als ich ankam, und zwar unserer Freundschaft zuliebe mit gespielter Atemlosigkeit, hatte er seinen Kaffee bereits bezahlt und wartete auf der Straße. “Wir müssen los”, sagte er. “Wir nehmen die Marschrutka.”

Marschrutkas heißen in der Ukraine jene Transportmittel, die in deutschen Großstädten Linienbusse heißen. Man sollte nur keine Linienbusse erwarten. Anders gesagt: Marschrutkas sind Linienbusse vor der Erfindung von überdachten Haltestellen und Fahrplänen und Monatskarten und Komfort jeder Art.

In der Theorie sieht das so aus: Sie stellen sich an die Straße und warten. Wenn die Marschrutka kommt, halten Sie den Arm raus und steigen ein. (Bitte zeigen Sie dem Fahrer nicht den Daumen, als wollten Sie trampen. Er könnte das Zeichen missverstehen und denken: Ich weiß selbst, dass ich ein geiler Marschrutkafahrer bin.) Wenn Sie aussteigen wollen, gehen Sie nach vorne zum Fahrer, nennen ihm die Straßenecke, an der er halten soll, und bezahlen. Eine Fahrt in Odessa, egal wie lang, kostet derzeit 2 Griwna und 50 Kopeken, ungefähr 20 Cent.

In der Praxis sieht das so aus: Als Odessa-Neuling brauchen Sie ein Fernglas, um von weitem zu erkennen, welche Marschrutka gerade kommt. Ist es die 242 nach Arkadia am anderen Ende der Stadt oder die 241 zum Hauptbahnhof im Zentrum? Dorthin fahren ungefähr noch fünf andere Linien, aber immer auf unterschiedlichen Wegen. Die ungefähre Route des Busses, also die Namen der wichtigsten Straßen, die angesteuert werden, kleben auf einem Pappschild an der Front- und der Seitenscheibe.

Wenn Sie gar nicht durchsehen, tun Sie, was auch Odessiten tun: Bringen Sie die Marschrutka mit ausgestrecktem Arm zum Stehen. Dann brüllen Sie ins Innere ihr Ziel und heben dabei die Stimme. Irgendjemand wird auf die Frage schon antworten. Im schlimmsten Fall hat der Fahrer umsonst gehalten und beschimpft Sie deshalb ein bisschen. Aber das verstehen Sie dann sowieso nicht.

Sollten Sie aussteigen wollen und feststellen, dass Sie nicht nach vorne durchkommen, weil es zu voll ist, geben Sie der Person vor Ihnen das Geld und nennen Sie ihr auch Ihre Haltestelle. Beides wird dann zum Fahrer durchgegeben. Keine Sorge, Sie bekommen auch das Wechselgeld zurückgebracht. Dort, wo Sie abgesetzt werden wollen, öffnet sich die hintere Tür. Sie sind da. Verabschieden Sie sich nicht von den anderen Leuten! Danken Sie nicht dem Fahrer!

Sie wollen wissen, wo Ihr Fahrschein ist?
Steigen Sie aus der Kolumne aus. Sofort!
So frech muss man erst mal sein. Gibt’s doch gar nicht.

Oleg lehnte mit dem Kopf an der Scheibe und hatte die Augen geschlossen. Immer wenn die Marschrutka hielt, erwachte er augenblicklich, schaute zu den Türen und beobachtete, wer zustieg. Dann nickte er wieder weg.

Meine Lieblingsmarschrutka ist die 203, die zwischen der Zementfabrik und dem Schewtschenko-Park verkehrt. Am Park spuckt der Bus vor allem Halbnackte aus, weil Lanjeron nicht weit entfernt ist. Lanjeron ist der Strand von Odessa, der am dichtesten am Stadtzentrum liegt. Meiden Sie diesen Ort, wenn Sie Osteebadähnliches erwarten und sich erholen wollen.

Zur Zementfabrik gelangen Sie am besten, indem Sie träumen und sich auf die falsche Straßenseite stellen. So werden Sie logischerweise in die andere Richtung transportiert, also weg vom Schewtschenko-Park und vom Strand. Irgendwann merken Sie das natürlich, weil sich der Bus unterwegs ziemlich leert und die Frauen sowohl älter als auch dicker werden. Überdies werden ein paar verlorene Seelen einsteigen, die ihnen im Zentrum eher selten begegnen. Odessa, die Smog atmende Metropole, verwandelt sich mehr und mehr in ein Dorf, und auf den letzten Kilometern werden Sie vermutlich der letzte Fahrgast sein. Halten Sie durch.

Und dort ist sie schon, die weniger bekannte Sehenswürdigkeit Zementfabrik Odessa. Die ist, wenn Sie den Verwandten später Ihre Urlaubsbilder zeigen, ein sicherer Brüller.

Kalle, schau mal: die berühmten Treppe mit den 192 Stufen aus dem Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin, und die Oper haben wir uns natürlich auch angeguckt. Ein Prachtbau der Wiener Architekten Fellner&Helmer, sag ich dir. Und das, Kalle, ja, das ist die Zementfabrik. War das ne Tortur dahin, mein Lieber.

Oleg und ich fuhren ein wenig kreuz und quer, ja ziellos durch die Stadt, wie mir schien. Ich hatte längst aufgegeben, mich zurecht zu finden, wir waren immer irgendwo, wo ich nie zuvor gewesen war. Alle zehn bis 15 Minuten ging Oleg nach vorne, reichte dem Fahrer fünf Griwna und bat ihn, an der nächste Ecke zu halten. Dann standen wir ein paar Augenblicke an der frischen Luft und kletterten in die nächste Marschrutka, die kam.

Die 203 vom Strand weg ist nichts für Einsteiger. Man hat gerade im Schwarzen Meer gebadet und will wieder ins Zentrum. Bis zur Haltestelle der Marschrutka sind es ungefähr sieben Minuten, es geht größtenteils bergauf, und mit Kindern ist der Weg noch ein wenig beschwerlicher, weil an den Buden links und rechts nicht nur Souvenirs, getrocknete Fische und Krabben verkauft werden. Es gibt auch allerlei buntes chinesisches Plastikspielzeug, das Kinderschritte sehr langsam macht.

Hat man die Haltestelle erreicht, findet man mit etwas Glück noch einen letzten freien Sitzplatz in der 203 und braucht bis zur Abfahrt nicht zu stehen. Meistens, vor allem mit bummelnden Kindern, hat man kein Glück und verflucht Chinas Spielzeugindustrie.

Sekunden später passiert es: Der Körper schwitzt, wie er noch nie geschwitzt hat. Es ist seine Art, den Verstand zu fragen: “Wozu hast du mich eigentlich zum Abkühlen ins Schwarze Meer geschickt? Und weißt du, was Körperverletzung ist? Ich verrat’s dir, Schwachkopf. Körperverletzung ist: in einer 60 Grad heißen Marschruka ohne Klimaanlage 20 Minuten auf die Abfahrt zu warten.”

Ich wurde nicht gerade ungeduldig, ich bin schließlich im Urlaub. Aber nach einer Stunde fragte ich Oleg doch mal, was wir vorhätten.
“Kolumnist, weißt du denn nicht, welcher Prominente gerade in Odessa ist?”
“Keine Ahnung. Außer mir fällt mir niemand ein.”
“Mal davon abgesehen, dass das gerade grammatisch ganz gewagt war – ich meine nicht eingebildete Prominente.”
“Sag schon, Oleg.”
“John”, sagte Oleg und dehnte den Nachnamen, “Mal-ko-vich.”
“Hmmh, der Schauspieler, ja?”
Hmmh, der Schauspieler, ja? Du bist ja ein noch größerer Depp, als ich bisher gedacht habe. John Malkovich ist Ehrengast des Zweiten Internationalen Filmfestivals von Odessa.”
“Schön für Odessa, schön für Mr. Malkovich.”
“Ich muss ihn treffen. Ich bewundere ihn.”
“Oh nein, Oleg, bitte nicht, das hatten wir doch schon mal.”
Oleg Fiction, ich erinnere mich. War großartig. Hammertext von Axel. Ewige Druschba.”
“Weißt du denn, wo er ist?”
“So ungefähr.”

Wir setzten die Fahrt fort.

Mich fasziniert nach Jahren immer noch, wie viele Leute in eine Marschruka mit 20 Sitzplätzen hineinpassen. Erst wenn 40 Leute drin sind, beginnt ein Gemurre, das der Fahrer aber nicht hört, weil er gerade telefoniert, oder sowieso nicht hören will. Er lässt weiter einsteigen, obwohl zur Paarung mittlerweile nicht mehr viel fehlt. Man wird von Fremden angeschwitzt und revanchiert sich, indem man bestmöglich zurückschwitzt. Als Mann suche ich naturgemäß die Zweisamkeit mit hübschen Odessitinnen. Auch kurz vor dem Kollaps riechen Marschrutkafrauen besser als Marschrutkamänner.

Nach einer Weile kennt man auch die Problemzonen der Schönheit, an der man sich reibt. Ihren Po hatte man sich, als man sich zu ihr vorgearbeitet hatte, doch ein wenig strammer vorgestellt. Ihre Brüste fühlen sich indes obszön schön an. Haucht sie mir da gerade einen Rest Knoblauch vom Essen gestern Abend ins Gesicht? Gut, dann neutralisieren wir uns ja.

Deutsche Datenschützer, die sich wegen Facebook und Google um die Privatsphäre sorgen, sollten in Odessa mal Marschrutka fahren.

“Wie lange dauert′s denn noch, Oleg?”
“Geduld.”
“Wir sind jetzt 90 Minuten unterwegs. Da könnte mal was kommen.”
“Wir sind gleich da.”

Odessa ist für mich voller Erinnerungen. Ich weiß noch, wie ich mir im Juni 2008 – kurz nach meinem Umzug aus Deutschland – die Füße wund gelaufen habe auf der Suche nach einer Nagelschere. Denn die hatte ich nicht mitgebracht. Damals gab es diese vielen Drogerieketten noch nicht. Als ich endlich ein Geschäft gefunden hatte, eines für Sanitärartikel, wusste ich nicht mehr, was “Nagelschere” auf Russisch heißt. Und gerade jetzt fällt mir das Wort natürlich auch wieder nicht ein.

Wenn ich vor der Oper stehe, denke ich immer an den Stunt, den mein Sohn auf seinem Laufrad vollführte. Er hatte das Bremsen damals noch nicht gelernt, und nun ging es bergab. Er stürzte, schlug sich die Lippen auf und sang eine Arie, die es in sich hatte. Hätte ich in dem Augenblick einen Pappbecher herausgeholt, wir wären reich geworden.

Und dort, die Schwiegermutterbrücke, an der frisch Verheiratete ein Vorhängeschloss anbringen, damit die Liebe ewig hält: Hier fiel meine Brille zu Boden. Sonst hätte ich die Sache mit dem deutschen Optiker M. nie erlebt. Und da, der Primorskij Boulevard, war das kalt in der Silvesternacht 2008. Der Staatspräsident, der sich aus Kiew mit Neujahrsgrüßen meldete und ausgepfiffen wurde, hieß, tja, wie hieß der denn? Das war doch der mit den Narben im Gesicht und den großen Versprechen im Maul. Mensch, ich komm nicht drauf. Lang, lang ist′s her.

Und jetzt sind wir an dem Lokal, in dem ich mit der Familie das beste Schaschlyk meines Lebens gegessen habe, ist erst ein paar Tage her. Die Kinder malten die ganze Zeit wild mit ihren Filzstiften und waren so genügsam. Als die Kellnerin die Rechnung brachte, war sie entsetzt, weil den Lipton-Eistee-Tisch fünf Filzstiftkringel zierten. Sie drückte mir einen Lappen in die Hand und sagte: “Das muss weg, sonst Schtraf.” Die Familie war natürlich längst heimlich untergetaucht, ich schrubbte ein bisschen und merkte gleich, dass die Farbe mit Spülmittel niemals verschwinden würde. Ich erhöhte dann das Trinkgeld und rannte davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Und schaut, liebe Leser, das Krankenhaus Nummer 11, wo ich nach meinem bösen Unfall wieder laufen lernte. War auch eine Marschrutka, übrigens. Euer Kolumnist musste sich das Antibiotikum selbst in den Hintern spritzen. Wisst ihr noch?

Und dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort und auch dort wurde ich mit dem Auto angehalten, weil Odessas Straßenpolizisten, die Gaischniki, gerade Geld brauchten. Irgendetwas, wofür ich eigentlich in den Knast gehört hätte, fanden sie jedes Mal. Manchmal konnte ich mich herausreden, manchmal musste ich mich freikaufen.

Oleg tippte mich an.
“Hab ich geschlafen?”, fragte ich.
“Den Geräuschen nach: tief und fest, Kolumnist.”
“Und wie lange?”
“Halbe Stunde.”
“Sind wir da?”
“Hast du Geld dabei, Kolumnist?”
“Ich hab nichts eingesteckt, du wolltest doch bezahlen.”
“Tja”, sagte Oleg, “dann sind wir jetzt da.”

Ich rieb mir die Augen und versuchte, etwas zu erkennen, das mir bekannt vorkam. Aber da war nichts.
“Wo sind wir, Oleg?”
“Ist doch egal.”
“Wo ist Malkovich?”, fragte ich.
“Ich dachte: hier.”
“Hier?”
“Hier. In der Marschrutka oder in der davor oder in der davor oder gleich in der ersten.”
“Oleg, nur damit ich das richtig verstehe: Wir fahren seit zweieinhalb Stunden Marschrutka, weil du glaubst, dass John Malkovich auch Marschrutka fährt?”
“So isses.”
“Ich halte das, vorsichtig gesagt, für nicht sehr wahrscheinlich. Der kriegt für jeden Film ein paar Millionen. Der fährt doch nicht Sauna.”

Oleg erzählte mir eine Geschichte. Er war zur Eröffnung des Filmfestivals gegangen. Vor der Oper lag ein langer roter Teppich. Plötzlich sah er, wie sich John Malkovich auf der Straße mit Odessiten unterhielt. Er hätte ihm fast die Hand geschüttelt, kam aber nicht weiter, es fehlten nur drei Meter. Oleg drängelte und stellte sich auf die Zehenspitzen, er rief den Schauspieler und drängelte weiter.

Drei Meter.

Odessadorf

Oleg verstand nicht, worüber sich John Malkovich unterhielt, aber er hörte ein Wort ganz, ganz deutlich.
“Er hat gesagt: Marschrutka.”
Ich schwieg.
“Kolumnist, du glaubst mir doch, oder?”
“Na klar, Oleg. Wenn du’s gehört hast, hat er’s gesagt.”
“Marschrutka,
hat er gesagt.”
“Aber Oleg“, sagte ich. „Du hast es doch gar nicht nötig, diese blöden Prominenten zu jagen. Du hast doch mich.”
“Ach, du bist ja praktisch schon wieder weg.”
“Aber ich komm wieder, vielleicht schon im Oktober. Ist das nichts?”
“Im Augenblick, Kolumnist, frage ich mich eher, wie wir von diesem verdammten Ort wegkommen. Ohne Geld.”
“Ist es weit, Oleg?”
“Verflucht weit.”
“Ich habe Zeit. Ich habe nichts vor. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.”
“Gehen wir?”
“Gehen wir.”

Und dann gingen wir.

(Und Sie müssten ja jetzt eine Weile ohne mich klarkommen können.)

Kein Hund namens Beethoven

(Ich muss ein bisschen Zeit gewinnen für die nächste Kolumne.)

Ferrari

Das ist Ferrari, wohnhaft in der Kowaljewskogo-Straße, weit weg vom Zentrum. Ferrari ist kein Name für einen Hund? In Odessa schon.

Und so sieht es aus in seinem Revier:

Kowal6

Kowal5

Kowal4

Kowal3

Kowal2

Kowal1

Kowal7

Sie dürfen gern Ferri zu ihm sagen.

Schuhversichtlich

Also meinetwegen kann die Fußball-EM 2012 kommen.

Euroletten

Ich gehe davon, dass Europas Fußball-Boss Michel Platini meine EM-Schlappen vom Priwos-Markt persönlich lizensiert hat. Ich möchte schließlich nicht, dass in der Ukraine mit diesem Großereignis irgendwelche krummen Geschäfte gemacht werden.

Die Ukraine-Analysen beschreiben übrigens, wie es ein Jahr vor dem Anpfiff aussieht im Land des Gastgebers. Die Leser dieses Blog wissen ja immer schon, wer warum und wie das Finale in Kiew gewinnt.

(Natürlich habe ich nach dem Priwos und vor dem Foto darauf verzichtet, meine Füße zu waschen. Solch ein Blog lebt ja auch von der Authentizität des Hausherrn.)

Kolumne: Mein Sohn und der Datschaismus

ODESSA/UKRAINE Ich brauche in Odessa nach wie vor keinen Stadtplan. Nun kann man einwenden, das sei nicht unbedingt eine herausragende Leistung für jemanden, der mehr als eineinhalb Jahre hier gelebt hat. Allerdings gibt es andere Dinge, die mich überfordern, obwohl ich sie beherrschen müsste, weil ich schon lange genug mit ihnen zu tun habe. Würde ich mich zum Beispiel in Odessa orientieren, wie ich in Odessa rede, hätte ich gestern nicht einmal die Potemkinsche Treppe wiedergefunden.

Datscha

Ich habe in der fünften Klasse angefangen, Russisch zu lernen. In der DDR war das die erste Fremdsprache – natürlich auch aus Dankbarkeit für die Rote Armee, die uns freundlicherweise Adolf Hitler weggenommen hatte, was uns allein wohl nie gelungen wäre. Wenn man die These vertritt, dass der Führer von dreiunddreißig bis fünfundvierzig nicht allein unterwegs gewesen sei, könnte man auch sagen: Wir wurden uns selbst weggenommen. Kurz und Knopp: Nicht alle Deutschen waren Nazis. Aber alle Nazis waren Deutsche.

Russisch war auch eine Siegersprache, die des Großen Bruders, der schon den Kommunismus erreicht hatte, während wir in der DDR noch im Sozialismus feststeckten. Ach, war das ein Schlamassel.

Dass wir nicht zuerst Englisch lernten, war nur konsequent und logisch. Wo, bitte schön, hätte ich denn meine Kenntnisse vertiefen oder überhaupt anwenden sollen? Für DDR-Bürger hatte Englisch ungefähr den Stellenwert, den heute Esperanto hat: nette Sprache, aber find erst mal jemanden, mit dem du sie teilen kannst.

Niemand außer Helmut Kohl hat doch 1987 gewusst, dass die Mauer bald fällt.

Panzer vor dem Kinderzimmerfenster

Dass wir mit Russisch auch nicht viel anfangen konnten, ist wiederum einer dieser Witze, wie sie nur ein Land wie die DDR hinbekam. Das Land war besetzt von der Roten Armee; durch meine Heimatstadt liefen sowjetische Offiziere, von denen wir auf der Straße immer etwas zu schnorren versuchten: Schokolade (klappte selten) und Abzeichen (klappte nie). Wenn wir ins Nachbardorf fuhren, kamen wir an ihrer Kaserne vorbei. Viel näher dran an ihnen waren wir eigentlich nicht.

Ich erinnere mich an Panzerkolonnen, die unter meinem Kinderzimmerfenster vorbeischepperten, von einer Übung in der Heide zurückkehrend, wo schon die Wehrmacht geübt hatte und heute die Bundeswehr übt. (Das ist bloß eine Feststellung, die zwischen den Zeilen exakt so viel ausdrücken soll: gar nichts.) Panzergucken, das war für uns Kinder in dieser Straße irgendwann nichts Besonderes mehr.

Die Erwachsenen kommentierten das Geschepper ziemlich lapidar: “Ach, Kolja ist wieder unterwegs.” Den Iwan kannten wir nicht, den gab′s wohl nur im Westen. Bei uns hieß der Rotarmist Kolja. Sehr viel freundlicher war dieser Spitzname aber auch nicht.

Alf und die Offizierskinder

Einmal besuchten sowjetische Schüler, Kinder von Offizieren, die in der Kaserne am Rande der Stadt lebten, unsere Klasse. Jeder von uns saß einem von ihnen gegenüber. Und jeder von uns fragte einen von ihnen auf Russisch gleich mit dem ersten Satz: “Kennst du Alf?” Die Antwort, die jeder von uns bekam, war: “Njet.” Damit war einem Gespräch jede Grundlage entzogen. Sie kamen als Fremde und gingen als Fremde.

In meinem Pionierausweis stand damals:

Thälmann-Pioniere sind Freunde der Sowjetunion. Wir hüten und pflegen die Freundschaft mit der Sowjetunion, so wie es uns Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck lehren. Die Jungpioniere der Sowjetunion sind unsere Freunde, von ihnen wollen wir immer lernen.

Was sollte ich von jemandem lernen, der nicht einmal Alf kennt?

Ich weiß nicht, was diese Offizierskinder damals über uns dachten; hoffentlich dachten sie: “Diese Idioten!”

Heute, 23 Jahre später, ist mir die slawische Welt immer noch ein bisschen fremd.

Mein Sohn ist anders aufgewachsen. Als er zwei Jahre alt war, sind wir nach Odessa gezogen und haben ihn in einen städtischen Kindergarten gesteckt. Die nächsten 18 Monate hießen seine Freunde nicht Tim, Leo, Paul und Kevin, sondern Gleb, Wanja, Maxim und Jegor. Am ersten Kindergartentag verstand er kein Wort, eine Woche später fing er an zu sprechen, nach drei Monaten bestellte er nachts im Halbschlaf sein Wasser bei mir auf Russisch. “Waaaaaaaaaadietschka!”

Jetzt ist er fünf und spricht ohne Akzent. Ich verstehe wenig und lausche gierig.

Es gibt in Odessa ein sehr schönes Gartenrestaurant. Praktischerweise heißt es Datscha. Es ist ein bisschen teurer. Teurer heißt: Man bezahlt auch für etwas, das man sieht, aber nicht schmeckt. Draußen gibt es einen Spielplatz, eine Schaukel, Käfige mit Vögelchen darin und reichlich Gartenidylle. Drinnen steht auf dem Weg zur Toilette eine Badewanne. Einfach so.

Gestern habe ich meinen Sohn gefragt, ob wir in unserem Urlaub mal wieder zur Datscha fahren wollten.
“Datscha, Papa”, sagte er.

Datscha klingt bei ihm ungefähr so: Daaaad-dja. Darin steckt so viel mehr, das Wort riecht nach selbstgepflanzten Tomaten und Schaschlyk auf dem Grill, ich höre ein Bächlein plätschern oder das Schwarze Meer Wellen heranspülen, ich sehe so ein Häuschen sogar vor mir, mit Leinen voller Wäsche, Wasserpumpe und quietschendem Gartentor. Wenn mein Sohn Daaaad-dja sagt, dann ist das: rein in den alten Lada, raus aus der Stadt. So wird’s hier gemacht, in Odessa und anderswo: Alltag und Kummer zurücklassen, abschalten und erholen auf dem Fleckchen Land, das einem niemand nimmt.

Bei mir klingt Datscha wie Bungalow.

DVD

Mein Sohn und ich haben noch ein bisschen geübt.
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Nee, Papa. D a a a a d – d j a.”

Seine Ohren müssen schmerzen, wenn er mein Russisch hört. Es klingt für ihn so wie für mich der Russe, den man im ZDF-Krimi dieses Klischeeslawendeutsch reden lässt: “Morgän iäch gähä inn Kinno.”

Mein Sohn kennt Alf auch nicht. Er lacht sich kaputt, wenn er Nu, pogodi! guckt, natürlich im Original.

Alle Sohn-Kolumnen:

Kolumne: Oleg und das Ende des Kolumnismus

ODESSA/UKRAINE Wenn ich das nächste Mal in die Ukraine komme, bringe ich 5000 Kinder-Laufräder mit, mindestens, und werde Millionär. Ich verstehe rein gar nichts von Existenzgründereien, traue mir aber durchaus eine einfache Marktanalyse zu: Nachfrage riesig, Angebot null, folglich auch keine Konkurrenz. Ich hätte das Monopol. Seit einem Jahr fährt mein Sohn mit seinem Laufrad aus Deutschland durch Odessa – und er wird bestaunt von allen. Die Jungen sind neidisch und betteln, bis sie mal Probe fahren dürfen. Väter erkundigen sich, wo es ein solches Gefährt ohne Pedalen zu kaufen gebe. Die Mädchen kriegen weiche Knie. Mein Sohn ist auch nicht gerade schüchtern oder uneitel. Wenn er fährt, imitiert er, brummend, schnaubend, röhrend, sabbernd, Motorradgeräusche, 1000 Kubik aufwärts. Das ist im Groben mein Businessplan, so etwas braucht man ja heutzutage, um Investoren zu finden.

Laufrad mit blinden Passagieren
Die Einzelheiten meines Unternehmens – Transport, Genehmigungen aller Art, Vertrieb – müssten noch geklärt werden. Aber um mir das Copyright zu sichern, dass nur ich mit Laufrädern in der Ukraine handeln darf, müsste das genügen. Meinem Freund Oleg würde ich gern einen Posten versprechen. Er hat sich auch schon beworben, initiativ sozusagen, mit vagen Arbeits-, aber umso genaueren Gehaltsvorstellungen, schnelle Griwna, natürlich gekoppelt an den Euro. Leider kann ich mir nur einen Unfähigen leisten.

Vorhin hat mich Oleg besucht. „Was ist so wichtig, dass es nicht bis morgen warten kann, Kolumnist?“, fragte er.
„Komm rein.“
„Oh, du ziehst um?“
„Setz dich.“
„Sehr witzig.“
„Denk dir ‘nen Stuhl.“
„Ist dir die Gegend nicht mehr fein genug?“, fragte Oleg und lehnte sich dort an die Wand, wo bis vor ein paar Stunden noch der große Spiegel gehangen hatte.
„Ick zieh nach Berlin, wa.“
Oleg schluckte zweimal. „Ab wann?“, fragte er.
Ich suchte meinen Zettel mit den Flugdaten, ließ das Papier rascheln und stammelte: „Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort, unverzüglich.“
„Der 9. November ist also das Ende des Kolumnismus?“, fragte Oleg.
„Es sieht so aus“, sagte ich.
„Na ja, es wird auch Zeit. Vierzig Kolumnen…“
„…vierundvierzig, Oleg, vierundvierzig…“
„…nur gelogen und betrogen.“
„Aber es waren doch nicht alle schlecht.“

Schaschlik im Regen

Wir schwiegen eine Weile miteinander. Ich trank mein letztes ukrainisches Bier, Oleg blieb bei Wodka. Er rauchte und klopfte die Asche auf den Boden.
„Wo wirst du eigentlich wohnen in Berlin?“, fragte er.
„Charlottenburg.“
„Charlottograd. Sehr schön.“
„Es gibt am S-Bahnhof Charlottenburg ein russisches Geschäft, es heißt Glücklicher Tag, und selbst bei Regen und Kälte wird draußen Schaschlik gegrillt.“
„Kenn ich“, sagte Oleg, „mein Freund Sascha, echter Odessit wie ich, wohnt auch in Charlottograd. Ich gebe ihm deine Telefonnummer!“

Russischer 24-Stunden-Markt am S-Bahnhof Charlottenburg

Mit Olegs Freunden ist das so eine Sache. Ich habe nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ich hätte zum Beispiel nicht gedacht, dass es auf dieser Welt einen Mann gibt, der anstrengender ist als mein Freund Oleg. Dann habe ich vor ein paar Wochen Juri kennen gelernt. Juri ist Olegs Freund in Kiew. Oleg hatte ihn beauftragt, mich vom Flughafen Borispol abzuholen und zum Hotel zu bringen. Juri sei ein guter Typ, hatte Oleg gesagt. Juri wartete an seinem Auto und telefonierte wie diese Kino-Kriminellen, indem er beim Sprechen eine Hand vor den Mund hielt. Dann schlug er mir mit seiner Riesenhand auf den Rücken, als würden wir uns schon Jahre kennen.
„Hab viel von dir gehört, Kolumnist“, sagte er.
„Hoffentlich nur Gutes.“
„Auch.“

Sozialismus oder Stau

Juri steckte in einem dieser glänzenden Anzüge, in denen man sich fast spiegelt, hatte ein Handtäschchen dabei und trug eine Riesenuhr. Sein Kreuz war sehr beachtlich. Juri fuhr mit quietschenden Reifen los und legte gleichzeitig eine CD von Rammstein ein. Dann grunzte er mit.
„Wenn du’s nicht magst, sag’s einfach“, sagte er. „Ich habe auch Modern Talking.“

Zehn Minuten später standen wir. Vorne und hinten, natürlich auch seitlich, wurde gehupt. Juri ließ die Hupe kurz los und fragte: „Hast du was gesagt?“
„Stau?“
„Das ist kein Stau.“
„In Odessa ist auch immer Stau.“
„Das ist kein Stau! Hörst du: kein Stau! Vielleicht wäre das in deinem Odessadorf ein Stau, aber Kiew ist eine Metropole, und deshalb ist das hier definitiv kein Stau. Wäre heute Stau, stünden wir an der Schranke vom Parkplatz des Flughafens.“
„Entschuldige.“
„Schon gut“, sagte Juri und hatte plötzlich wieder gute Laune. „Früher war in Kiew weniger Verkehr. Da hatte nicht jeder Depp ein Auto. Na ja, Sozialismus oder Stau, man kann nicht alles haben.“
Juri drehte Rammstein abermals lauter, trommelte mit beiden Daumen aufs Lenkrad und brüllte den Refrain mit, ohne dass ich etwas verstand.
„Nun guck dir mal diesen Penner an“, sagte er und zeigte auf die Mittelspur. Er ließ die Scheibe herunter und schrie: „Der Porsche Cayenne ist ein Frauenauto. Ein Frau-en-au-to! Der Kolumnist macht dich fertig.“

Bis zum Hotel beleidigte Juri noch zwei Cayennefahrer, er ließ den Japaner aufheulen, wenn junge Kiewerinnen die Straßen überquerten, und meinte entschuldigend, er flirte nun einmal gerne, zwischendurch telefonierte, aß und rülpste er. Manchmal tat er all dies auch gleichzeitig. Am Ende aber holte er mir meine Reisetasche aus dem Kofferraum, weil ich, wie er sagte, ein bisschen blass aussähe.

„Sind 10 Euro, okay?“, fragte ich aus Höflichkeit.
„Hey, du bist Olegs Freund“, sagte Juri.
„Bin ich.“
„20.“
„15.“
„25.“
Da wusste ich, dass Juri einer dieser Leute ist, für die man das Wort „gerissenhaft“ erfinden müsste. Vom Hotel zum Flughafen drei Tage später bin ich mit dem Taxi gefahren; das war billiger.

Mein Sohn, das neunmalkluge Dickerchen

„Was ist jetzt?“, fragte Oleg. „Soll ich Sascha deine Telefonnummer geben?“
„Gib mir seine, ich ruf ihn bestimmt an.“
„Wirst du Odessa gar nicht vermissen?“

Wahrscheinlich werde ich erst in Deutschland spüren, wie sehr ich mich an die Ukraine gewöhnt habe. Ich muss einiges neu lernen. Ich darf wieder Wasser aus dem Hahn trinken. Ich darf nicht irgendwo Busse anhalten, wenn ich mitgenommen werden will. Noch aber halte ich Bushaltestellen für eine vollkommen unsinnige Erfindung. Sollte ich von der Polizei kontrolliert werden, darf mir nicht einfallen, die Beamten bestechen zu wollen. Andererseits wird es sich toll anfühlen, wenn ich ins Auto steige, ohne vorher im Kopf durchzuspielen, auf welcher Straße heute Polizisten herumlungern, um Schmiergeld zu kassieren.

Um meinen Sohn mache ich mir kaum Sorgen. Er wird in Berlin einen russisch-deutschen Kindergarten besuchen, in dem zwei der drei Erzieherinnen aus der Ukraine stammen. Er bekommt weiterhin drei warme Mahlzeiten in acht Stunden – morgens Brei, mittags Suppe und Hackbällchen mit Püree, nachmittags irgendetwas Öliges, das nach Ei schmeckt – und hat einmal pro Woche Schachunterricht. Da ist der weitere Lebensweg schon einmal grob vorgegeben, es läuft hinaus auf: neunmalkluges Dickerchen. Mit sehr viel Glück reicht es zum Schachweltmeister. Aber sollte in 25 Jahren ein schlanker Deutscher einem dieser Genies aus Russland, Usbekistan oder sonst woher den Titel abjagen, können Sie sicher sein: Mein Sohn ist es nicht.

Eines fernen Tages werde ich – hoffentlich angemessen senil – auf Familienfeiern die alten Geschichten hervorkramen, bis die Kinder und Enkel flüstern: „Ach, Opa erzählt schon wieder von der Ukraine.“ Dann bringen sie mir ein großes Glas Nemiroff oder irgendeinen anderen Wodka, der mich an Odessa erinnert und ein bisschen wehmütig macht, streicheln mir über die Glatze und sagen: „Hattest es nicht leicht, damals. Trink mal einen! Und dann erzählst du, wie Oleg deine Klotür reparieren sollte oder wie ihr deinen 31. Geburtstag gefeiert habt.“
„Der hieß nicht Oleg!“, werde ich brüllen. „Der hieß, äh, der hieß…äh…was weiß ich, Justin oder so, ist auch egal. Aber ein toller Kerl war das. Solche Männer gibt es heutzutage gar nicht mehr.“

Ikonenfachhandel in der Kaiser-Friedrich-Straße (Charlottenburg)
Oleg schraubte die Wodkaflasche zu und packte sie in seinen Rucksack. Er band sich die Schuhe zu und sagte: „Gib wenigstens zu, dass du keine Ideen mehr hast für neue Kolumnen.“
„Ach Oleg, ich habe zum Beispiel noch nie erzählt, wie das war, als mich fünf afrikanische Journalisten in Schwerin besucht haben und plötzlich mein Tisch mit dem Rotwein, dem Bier und dem Abendessen auf dem Hof zusammengebrochen ist. Schade um die schöne Geschichte. Ein Kolumnist soll aufhören, wenn’s am witzigsten ist.“
„Dann hättest du aber nach der ersten Kolumne Schluss machen müssen.“

Wir versuchten uns zu umarmen, aber das misslang uns natürlich. Wie hätte es auch anders sein sollen? Oleg stand schon in der Tür und ging nicht. Ich hatte die Klinke schon in der Hand und machte nicht zu. Es war einer dieser Augenblicke, die einem so unendlich lange vorkommen, wenn man sie gerade erlebt, und deren Wucht trotzdem so schnell vergessen ist. Dann ging Oleg die Stufen hinunter, ganz leise, so dass seine Schritte kaum zu hören waren.
„Weißt du“, rief ich hinterher, „ich freue mich sosehr auf meine neue Aufgabe. Das ist eine tolle Herausforderung, ein spannendes Projekt. Do swidanija!“
„Für einen Kolumnisten ist das ein ziemlich armseliger Schluss.“
„Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Aber mir fällt kein besserer ein. Mach’s gut.“
Oleg drehte sich noch einmal um und fragte: „Darf ich das letzte Wort haben?“
„So weit kommt’s noch, Oleg.“

Alle Oleg-Kolumnen:

Kolumne: Oleg und die goldenen Elefanten

ODESSA, UKRAINE Wenn es um ein Geschenk für sie geht, bin ich wenig erfinderisch. Ich schenke fast immer Ohrringe. Manchmal habe ich den Verdacht, dass sie ihre Ohrringe nur so regelmäßig und überdies pünktlich vor irgendeinem Fest verliert, damit ich überhaupt ein Geschenk finde. Falls ich gerade eine kreative Phase habe, bekommt sie auch mal Konzertkarten oder ein Buch. Kreative Phasen sind – zumindest, was mich betrifft – rar, in diesem Jahr hatte ich jedenfalls keine. Weil mir bis zum Vorabend ihres Geburtstages außer Ohrringen nichts eingefallen war, das ich hätte schenken können, rief ich meinen Freund Oleg an und fragte, ob ihm vielleicht etwas einfalle.

„Puuuh, schwierig”, sagte er. „Ich kenne mich mit Frauen zwar sehr, sehr, sehr gut aus, ich könnte dir Sachen erzählen, da würdest du neidisch …”
„Oleg, wir müssen die Märchenstunde verschieben, die Geschäfte schließen gleich. Bitte.”
„Ich hab’s. Wie wäre es mit Ohrringen?”
„Hmm, du meinst also auch, dass das eine gute Idee ist?”
„Die Idee ist nicht gut, mein Lieber, die ist brillant. Diamonds are a Kolumnistengirl’s best friend.”
„Kommst du mit und hilfst mir?”
„Ich bin gerade auf dem Klo und mache einen Upload.”
„Das höre ich. Beeil dich bitte.”
„Ich studiere gerade das Internet-Manifest mit den 15 Thesen der 17 Journalisten oder umgekehrt, ist ja auch egal.”
„Auf dem Klo?”
„Ich hab’s mir ausgedruckt.”
„Und?”
„Upload läuft”, sagte Oleg und war wegen der Von-innen-nach-außen-Geräusche kaum zu verstehen.
„Ich meine das Internet-Manifest.”
„Ich verstehe diese Manifestischisten leider nicht, mein Deutsch ist zu schlecht.”
„An deinem Deutsch liegt das sicher nicht.”
„Das habe ich mir auch schon gedacht. Die russische Version ist nicht besser.”

Eine Stunde später betraten Oleg und ich das größte Schmuckgeschäft in Odessas Zentrum. Unterwegs hatten wir verabredet, dass er die Verhandlungen führe, er hatte darauf bestanden und mir jedes Geschick abgesprochen. Man müsse sich in eine Schmuckverkäuferin unbedingt hineinfühlen können.
„Guten Tag, zeigt uns mal die teuersten Klunker, die ihr für Lauscher habt!”, sagte Oleg und beobachtete, wie die Verkäuferin Schublade um Schublade aufzog und Tablett um Tablett auf die Vitrine legte. Mit Mühe konnte ich an den Ohrringen die Preisschnipsel lesen: Es waren fünf Zahlen vor dem Komma. Oleg flüsterte, ich solle mir keine Gedanken machen, dies seien die Preise in Griwna, und winkte mit der Hand. „Mehr, mehr, Geld spielt keine Rolle.”
„Oleg, lass das!”
„Ja, was denn? Liebst du sie?”
„Natürlich”, sagte ich.
„Na also!”
„Bin ich Martenstein?”

Ich hatte mich dem Schmuckladen mit eher vagen Vorstellungen genähert: Gold oder Silber sollte es sein, bezahlbar sowieso, aber ich wollte nicht diesen Glitzerkitsch, der an zu vielen Odessaohren hängt. Bei Reinheit und Gewicht war ich kompromissbereit, da ich von beiden Dingen ohnehin nichts verstehe. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Wünsche die Auswahl derart einschränken würden. Was ich sah, war Schmuck, dessen Preis sich gewissermaßen umgekehrt proportional zum Aussehen verhielt: Je teurer, desto unschöner.
Oleg war als Berater auch keine Hilfe. Die Verkäuferin hatte mittlerweile so viele Ohrringe verteilt, dass der Ladentisch aussah, als wäre eine Horde ukrainischer Oligarchen eingefallen, um für die Geliebten einzukaufen. Der Uniformierte mit der Maschinenpistole, der auf einem Hocker in der Ecke saß, wurde allmählich unruhig. Gerade hatte er noch gedöst, jetzt streichelte er seine Waffe und schaute uns übellaunig an. Wir hatten ihn geweckt.

„Ich kann mich nicht entscheiden, Oleg, ich müsste sie am Ohr sehen.”
„Nun mach schon.”
Ach, wenn doch Axel noch in Odessa wäre. Axel würde einfach seinen Ohrring rausnehmen und einen von diesen schnell reinhängen.”
„Axel, Axel, Axel, ich kann diesen Kerl langsam nicht mehr ausstehen”, schrie Oleg. „Hör zu Kolumnist, dann nehmen wir jetzt die zwei goldenen Elefanten mit den Steinchen am Rüsselende.”
„Oleg, ich hänge ihr keine Elefanten an die Ohren.”

Der Aufpasser mit der Maschinenpistole erhob sich von seinem Hocker und kam auf uns zu, stellte sich hinter mich und zischte.
„Ich kann die Elefanten runterhandeln”, sagte Oleg. Seine Stimme wurde immer tiefer.
„Ich glaube, wir sollten schnell gehen.”
„Bleib doch ruhig.”
„Ich weiß natürlich nicht so genau, was du so treibst, wenn du ohne mich bist, aber ich kann dir verraten, dass mich eine so große Waffe in meinem Rücken erheblich irritiert. Ich kann mich nicht konzentrieren.”
„So schnell wird in der Ukraine niemand mehr erschossen. Wir leben ja nicht mehr in den Neunzigern. Außerdem krieg ich die Elefanten locker auf 14000 Griwna runter, mein klammer Kolumnist.”

Seit einer Weile schon überschätzt Oleg meinen Kontostand und meinen Einfluss gewaltig. Wenn wir irgendwo etwas essen oder trinken, versucht er gar nicht erst, die Rechnung zu bezahlen. Er blickt auch nicht verschämt zu Boden oder bedankt sich wenigstens für die Einladung. Ich glaube, er hält mich für eine Mischung aus  Oleg Popow und Rinat Achmetow, für einen Clownigarch sozusagen. In Wahrheit bin ich so vermögend und fröhlich wie ein ukrainischer Straßenpolizist, der schon lange kein Schmiergeld kassiert hat. Und es wird ja auch um mich herum alles teurer. Zum Beispiel besucht mein Sohn – zusätzlich zum Kindergarten – zweimal in der Woche eine Art Musikschule. Ich weiß nicht genau, was er dort macht, aber er macht es gern. Die Musikschule ist in den vergangenen sechs Monaten dreimal umgezogen. Nach jedem Umzug haben mir die zwei Lehrerinnen erzählt, sie würden jetzt noch weniger Miete zahlen, um Sekunden später zu verkünden, die Teilnahme koste jetzt ein bisschen mehr. Ich bin kein Wirtschaftsexperte, aber ich erkenne durchaus, dass da irgendetwas nicht stimmt. Der Musikschule scheint es gut zu gehen. Die beiden Erzieherinnen haben sogar eine weiße Ratte mit roten Augen und einem langen Schwanz gekauft, und weil mein Sohn gerade dabei ist, sich mit ihr anzufreunden, kann ich ihn schlecht abmelden.

Wahrscheinlich hätte ich die Ohrringe in Deutschland kaufen sollen. Fast alles, was es in der Ukraine gibt, ist in Deutschland günstiger und qualitativ hochwertiger. Die Ausnahmen, die mir auf Anhieb einfallen, sind Kartoffeln und anderes Zeug, das dicke Frauen auf dem Priwos-Markt verkaufen. Mit Schmuck habe ich es ohnehin nicht so, ich trage bloß meinen Ehering. Mein Sohn ist da ganz ähnlich. Neulich wollten wir einer Alten vor der Kirche ein paar Griwna zustecken, gerieten dabei aber in ein ausgiebiges Gespräch. Irgendwann befahl sie mir, meinem Sohn eine dieser Ketten mit Kreuz zu kaufen, die es in der Kirche für jene paar Griwnas gab, die ich ihr zugesteckt hatte. Danach befahl sie meinem Sohn, sich die Kette umzuhängen, doch er weigerte sich mit dem Hinweis, nur Mädchen würden Ketten tragen. Sogleich befahl die Alte allen Männern, die an uns vorbei in die Kirche gingen, ihre Brust frei zu legen.
„Siehst du, auch Männer tragen Ketten”, sagte die Alte schließlich.
„Aber nur komische Männer”, sagte mein Sohn.
„Wer sagt das?”, fragte sie.
„Papa.”

Nachdem sich der Aufpasser mit der Maschinenpistole, die näher zu kommen schien, zum dritten Mal geräuspert hatte, drehte sich Oleg um und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen, widmete sich dann wieder der Verkäuferin, deutete auf mich und sagte: „Er nimmt die Elefanten. Machen Sie die beiden bitte zum Abtransport fertig, aber schön bitte, die haben morgen einen großen Auftritt. Törö!”
„Oleg, ich kann mir diese Elefanten nicht leisten, denk an die Ratte im Musikgarten.”
„Erwarte bitte kein Mitleid von einem Ukrainer. Ich wäre froh, wenn ich nur eine Ratte durchfüttern müsste.”

Ich griff irgendein Paar Ohrringe, das nicht nach einem Tier aussah, und bezahlte. Ich hoffe, sie freut sich trotzdem.

Mein Opa sagt manchmal, die größten Arschlöcher bekämen immer die besten Frauen. Da ich mich selbst nicht für ein Arschloch halte, muss ich sehr viel Glück gehabt haben.

Jeepshow

Falls Sie sich jetzt fragen, wie sich Ukrainer solche Fahrzeuge leisten können, denken Sie schon falsch. Sie können sie sich nämlich gar nicht leisten. Diese Autos gehören nicht den Leuten, die sie fahren. Sie gehören der Bank. Die Kredite, in Dollar aufgenommen, brechen den Leuten allmählich das Genick. Der Dollar hat sich seit August 2008 fast verdoppelt, die Griwna-Löhne sind indes nicht gestiegen. Odessas Autohöfe stehen voll mit Gebrauchtwagen, die nicht mehr abbezahlt werden konnten.

Im Deutschlandfunk: Wortspende aus Odessa

ODESSA, UKRAINE Ich will Sie auf einen interessanten Radiobeitrag hinweisen, den Moritz Küpper für den Deutschlandfunk gemacht hat. Das Feature “Ein gefährdeter Traum” erzählt, wie sich die Ukraine als Gastgeber auf die Fußball-EM 2012 vorbereitet – oder besser: eher nicht vorbereitet. Und ganz nebenbei haben Sie die Chance, mal wieder meine Stimme zu hören, ich komme nämlich hie und da zu Wort.

Falls ich Ihnen zu sehr stottere – soll ja bei mir vorkommen -, können Sie Küppers Bericht natürlich auch lesen. Sie müssten dann allerdings die Baggergeräusche vom Kiewer Olympiastadion selber machen.

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Barrierenrepublik Ukraine

KIEW, UKRAINE Ich verlange hiermit, der Ukraine sofort die Fußball-EM 2012 zu entziehen – und ihr überdies nie wieder die Austragung eines sportlichen Großereignisses anzubieten. Vielleicht bin ich zu streng, aber ich habe vier Tage lang Kinder und Kinderwagen durch Kiew geschleppt – hinunter zur U-Bahn-Rolltreppe und aus dem Metroschacht heraus, in alle möglichen Einkaufszentren, in Restaurants, auf Brücken und über Bordsteine, die mir bis zum Knie gingen. Ukrainer lieben Treppen und Stufen. Nichts ist barrierefrei. Und seit meinem längeren Besuch im Juli 2008 hat sich überhaupt nichts getan.

Und es macht mich wütend, dass die Herrscher dieses Landes einfach darauf setzen, irgendjemand würde ihnen die Infrastruktur EM-tauglich machen und auch noch dafür bezahlen, es machen zu dürfen.

(Ein Teil meiner Wut hat sicher auch damit zu tun, dass seit gestern mein Internet so langsam ist, als würden die Daten in einem Kinderwagen zu mir geschoben. Zwischendurch passiert natürlich stundenlang überhaupt nichts.)