Kategorie: Reportage

Schlag den Staat

Nachgestellte Szene (fehlerhaft)

Die Handlung und die handelnden Personen dieser Geschichte sind fast frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Und die Überschrift ist auch fast geklaut – von dem hier nämlich.

ODESSA/KUTSCHURGAN, UKRAINE Zum Glück habe ich den Türöffner auf zwei Beinen, ich wäre ohne ihn verloren. Der Mann, ein ziemlich hoher ukrainischer Staatsdiener, hat in den vergangenen zwei Wochen viel telefoniert, um herauszufinden, wie ich mein Auto wieder legalisiere. Es ist illegal in Odessa. Ausländer, die ihr Auto nicht registrieren lassen, müssen es alle zwei Monate aus dem Land schaffen. In der Region Odessa genügt dafür eine Fahrt zur moldawischen Grenze und zurück. Ich habe es leider nie getan. Das Auto ist seit Mai 2008 am Schwarzen Meer. Recherchen, soweit sie in einem Land wie der Ukraine zumal für einen Ausländer überhaupt möglich sind, ergeben, dass ich mit einer Strafe zwischen 800 und 2000 Euro rechnen muss. Theoretisch könnte der Wagen auch beschlagnahmt werden. Genaues weiß auch mein Türöffner nicht. Es hänge möglicherweise vom Zöllner ab, der kontrolliere, sagt er.

Da ich nichts riskieren will, organisiert mein Beamtenfreund eines Nachmittags eine Konsultation in einer Behörde. Als wir dort ankommen, telefoniert er und sagt: „Mach mal bitte die Tür auf.” Eine Minute später öffnet ein Uniformierter. Wir laufen durch einen langen Flur. Links und rechts in den Büros wird sich offenkundig auch nicht unbedingt überarbeitet. Die Schreibtische sind leer. Nach hundert Metern schließt der Uniformierte eine Tür auf, und schon sind wir wieder an der frischen Luft – bloß auf der anderen Seite des Gebäudes. Irgendwann stehen wir vor einem anderen Beamten. Mein zweibeiniger Türöffner erklärt die Lage. Der Beamte schaut, ob mein Auto im Computer eingetragen ist, und findet nichts. Warum das so ist, weiß er nicht. Vielleicht bin ich vor 13 Monaten gerade noch eingereist, bevor an den ukrainischen Grenzen ein System eingeführt worden ist, in dem alle Autos gespeichert sind. Es wird eine Weile diskutiert, das Risiko kalkuliert und schließlich entschieden, es könne ohne Angst vor einer Beschlagnahme zur Grenze gefahren werden.
„Wann?”, frage ich.
„Jetzt”, sagen beide Männer gleichzeitig.

Fast hätte ich gar nicht fahren können. Am Mittag ist das Auto in der Garage nicht angesprungen. Die Batterie war tot. Ein anderer Bekannter, diesmal kein hoher Staatsdiener, kam vorbei, baute seine Batterie aus und wiederbelebte meinen Koma-Skoda. Als ich erzählte, ich hätte den Motor das letzte Mal im November oder Dezember gestartet, genau wisse ich das nicht mehr, schüttelte er nur den Kopf.

Mein Türöffner reicht mir seine Visitenkarte, die ihn als hohen Beamten ausweist, und sagt, ich solle sie in meinen Pass legen und anrufen, falls die Zöllner Probleme machten. Dann verabschiede ich mich und fahre mit meiner Begleiterin in Richtung Chişinău (Kischinau) zur moldawischen Grenze nach Kutschurgan.

Gaischnik bei der Arbeit (Archivbild aus Odessa)

Wir haben Odessa kaum verlassen, da werden wir an einem Kreisel von zwei Gaischniki angehalten, wie die Verkehrspolizisten der Staatlichen Autoinspektion (GAI, ukrainisch offiziell: DAI) vom Volk genannt werden.  Ich habe sie bereits vor mehr als einem Jahr kennen gelernt, als ich von Deutschland nach Odessa fuhr. Gaischniki sind berüchtigte Vergehenerfinder und Handaufhalter. Wenn sie eine Strafe aussprechen wollen, entdecken sie auch einen Grund – oder suchen sich einfach einen Raser wie damals bei mir. Die Berliner Zeitung schrieb einmal:

Ebenso zutreffend wäre es indes, die GAI als landesweites System staatlicher Willkür zu bezeichnen. In ihrer sowjetischen Blütezeit betrieb die GAI an jeder Kreuzung einen mit mindestens zwei Beamten besetzten Posten, an dem „slatkije bulotschki” verdient wurden, als „süße Brötchen” bezeichnete Bestechungsgelder. Wie alle sowjetischen Beamten arbeiteten die GAIschniki für einen Hungerlohn. Dass der Beruf des Verkehrspolizisten dennoch begehrt war und für einen Platz an einem GAI-Posten viel Geld floss, ist damit zu erklären, dass die Chancen der Beamten, sich ein Zubrot zu verdienen, fast unbegrenzt waren.

So nahm sich ein Verkehrspolizist das Recht, jeden Pkw-Fahrer anzuhalten und wegen tatsächlicher oder angeblicher Verstöße gegen die Verkehrsordnung zur Aufbesserung seines Gehalts zu zwingen. Die GAI hieß deshalb im Volksmund DAI! – „Gib!”. Und mancher GAIschnik kam auf diese Weise zu einem Eigenheim, wenigstens aber zu einer Datsche.

Nachdem sie Pässe und Führerschein studiert haben, entdecken die Gaischniki im Fahrzeugschein ein Problem: Mein TÜV ist schon im Oktober 2008 abgelaufen. Die Polizisten verwechseln den TÜV mit der Abgasuntersuchung, was aber nicht weiter nicht schlimm ist. Denn die ist auch abgelaufen. Sie schreien und drohen, sie würden das Auto beschlagnahmen. Meine Begleiterin zeigt ihnen das Dokument der deutschen Botschaft in Kiew, das ihr Schikanekontrollen ersparen soll, wie sie für Ausländer in der Ukraine üblich sind. Man solle ihr „Unterstützung, besonders in Fragen des Reisens, des Straßenverkehrs und der Grenzübertritte, gewähren”, heißt es. Die beiden Gaischniki schauen es an, lesen den ukrainischen Text, halten das Blatt gegen die Sonne, um die Echtheit des Stempels zu prüfen, und schauen danach auf mich. Es schmeichelt mir durchaus, dass sie sich vorstellen können, ich hätte das Botschaftsschreiben gefälscht.

Wir rufen ein paar Bekannte an, die in Odessa in hohen Positionen arbeiten und reichen das Telefon an einen der Polizisten weiter, vielleicht beeindruckt das ja. Es beeindruckt überhaupt nicht.
„Wären Sie eine echte Odessitin, wüssten Sie, was zu tun ist”, sagt der Gaischnik zu meiner Begleiterin und Verhandlungsführerin.
„Ich bin zwar keine echte Odessitin, aber ich verstehe trotzdem, was Sie meinen. Endlich sagen Sie’s.”
„Dann komm mal mit.”

Meine Begleiterin holt 100 Griwna, umgerechnet fast zehn Euro, aus dem Auto und geht zum Dienstwagen der Beamten. Der Gaischnik lehnt das Honorar allerdings ab und sagt, solch geringe Beträge nehme er nicht an, davon fühle er sich persönlich beleidigt. Genau so sagt er es: „Sie beleidigen mich persönlich.” Dann wünscht er eine „glückliche Reise”.

Ein Anruf bei der Werkstatt, in der ich mein Auto schon einmal reparieren lassen habe, ergibt, dass wir uns nicht fürchten müssen vor weiteren Kontrollen. Die Abgasuntersuchung sei eine deutsche Vorschrift, folglich gelte sie auch nur in Deutschland, sagt der Chef. „Aber wenn es dich beruhigt, kannst du eine ukrainische Untersuchung bekommen. Die brauchst du zwar nicht, aber vielleicht fühlst du dich dann besser.”

Erst vor einer Woche war ich bei ihm gewesen, weil der Türöffner meinte, ich solle mir zur Sicherheit für die Fahrt zu Grenze einen Schein ausstellen lassen, dass mein Auto ein Jahr kaputt gewesen sei. Der Werkstatt-Chef hatte daraufhin einen Fotografen angerufen, der bei ihm Kunde ist und einen Verkehrspolizisten kennt. Der Fotograf telefonierte, rief zehn Minuten später zurück und bestätigte, dass es Probleme geben könne und der Polizistenfreund von einer Fahrt nach Kutschurgan dringend abrate, so lange man dort keinen zuverlässigen Zöllner kenne.

Den Rest der Strecke bis zur Grenze, knapp 75 Kilometer insgesamt, schaffen wir ohne Probleme. Die Straße ist durchaus passabel, kaum Schlaglöcher, nur ein paar Wellen, links und rechts Weizenfelder, hier und dort ein paar Kühe und Ziegen. Viele Leute in dieser Region, einst Heimat deutscher Auswanderer, arbeiten in Odessa. Manchmal ist eine Viertelstunde lang kein Mensch zu sehen. Nicht anders sieht Vorpommern aus.

Vor der Grenze tauschen wir die Plätze, ich setze mich nach hinten und überlasse meiner Begleiterin das Steuer. Wir hoffen, dass die Zöllner bei einer Frau ein bisschen weniger auf das Auto schauen – und ein bisschen mehr auf – auf irgendetwas anderes. Zwei Kinder haben wir zur Sicherheit auch dabei. Im Journalismus gibt es den schönen Satz: „Tiere und Kinder gehen immer.” Gemeint ist: Geschichten über Tiere und Kinder lesen die Leute gern. Für uns sollen die Kinder die Zöllner nur etwas milde stimmen, falls es eng wird. Die Kleine wird angewiesen, auf Kommando ganz theatralisch zu weinen. Ich lese auf ihrem sechs Wochen alten Gesicht, dass sie verstanden hat und mitspielen wird.

Während die Pässe kontrolliert werden, streicht ein Zöllner ums Auto, entdeckt die abgelaufene Plakette am Kennzeichen und beginnt mit meiner Begleiterin ein Gespräch, lässt sich dann aber doch beschwichtigen. Links, in der anderen Kontrollspur, ist gerade ein moldawischer Rollerfahrer angekommen. Er trägt weder Helm noch Hemd. Eine Minute später ist er schon wieder weg. Auch wir dürfen ausreisen. Die Kleine braucht nicht zu weinen, tut es aber trotzdem.

Der moldawische Zöllner fragt, wohin wir fahren würden. Meine Begleiterin erzählt, wir wollten Freunde in Chişinău besuchen. Der Blick des Mannes sagt: Ja ja, deine Mudder.

Text zum Mitsingen

Er schickt uns zum Registrieren. Während abermals die Pässe durchgeschaut werden, schreit die Kleine plötzlich, obwohl ich nichts angewiesen habe. Als alles erledigt ist, fragt meine Begleiterin den Zöllner, ob er ein Café zum Verschnaufen empfehlen könne. Er glaubt natürlich nicht, dass wir Moldawien bereisen wollen, wir sind schließlich nicht die ersten Ausländer, die bei ihm ihr Auto wieder legal machen. Er sagt nur: „Kehren Sie besser gleich um. Hier gibt’s sowieso nichts.” Wir wenden noch vor dem letzten Kontrollpunkt und treffen gleich wieder auf den Moldawier, dem wir gerade noch etwas von Freunden in Chişinău erzählt haben. Er lächelt nicht, er grinst. Der zweibeinige Türöffner ruft an und fragt, wo wir steckten. Ich kann ihn beruhigen. Wir haben seine Visitenkarte niemandem zeigen müssen. Er ist darüber nicht unglücklich.

Die Ukrainer nehmen uns wieder auf. Die letzte Passkontrolle geschieht ohne Probleme. Während die Begleiterin die Emigrationskarten ausfüllt, wechsele ich der Kleinen die Windel. Wohl deshalb hat sie bei den Moldawiern so wild geschrien.

Erleichtert, geradezu glücklich, die Strafe gespart zu haben, darf das Auto in die Waschstraße. Dort ist es zuletzt vor 14, 15 oder 16 Monaten in Deutschland gewesen – so genau weiß ich auch das nicht mehr.

Beinhart wie ‘n Blogger

Auf dem Busbahnhof in Uman
Uman, Busbahnhof

KIEW/ODESSA, UKRAINE Es wird jetzt hoffnungslos selbstreferenziell, was mir aber egal ist. Warum? Eine Woche lang muss ich mir wegen dieses Unfalls täglich eine Spritze mit Antibiotikum in den Allerwertesten stechen. Die erste Ladung ist soeben eingefüllt worden. Ein Arzt in Deutschland, mit dem ich verwandt bin, versteht nicht, warum ich Antibiotikum nehme. Ich werde also die nächsten acht Stunden am Computer verbringen. Der eigene Tod wird im eigenen Blog vermeldet.

Odessa, Donnerstag, 5.30 Uhr: Die blaue Marschrutka, ein sitzmöblierter Gemüsetransporter, startet vom Busbahnhof. Ich sitze direkt hinter dem Fahrer, der sofort anfängt zu rauchen. Er tut er dies bei offenem Fenster, obwohl draußen minus fünf Grad sind. Nach zwei Kilometern steigt ein Polizist zu und fährt zehn Minuten mit. Im Gang steht mein Koffer mit dem Laptop und Klamotten, der Sitz neben mir ist frei. Acht oder zehn Passagiere, ich zähle nicht nach, sind wir. Ich will nach Kiew, um eine Konferenz zu besuchen.

8 Uhr: Wir halten am Busbahnhof in Ljubasivka. “Zehn Minuten, okay?”, sagt der Busfahrer. Dicke, nicht nur dick eingepackte Frauen schreien durch den Nebel, was sie an den Ständen verkaufen: Hähnchen, belegte Brote, Tee, Kaffee und Wasser.

8.30 Uhr: Wenn wir gut durchkommen, erreichen wir in zweieinhalb Stunden Uman. Danach sind es nur noch 250 Kilometer bis Kiew. Vorn am Bus steht, dass wir um eins ankommen werden. Bisher habe ich nicht schlafen können. Ständig wechselt der Busfahrer die CDs. Und immer wenn ich doch kurz davor bin wegzunicken, lässt er die Scheibe hinunter und raucht. Ich hasse ihn. Das Geld – 110 Griwna, elf Euro – hat er auch schon kassiert. Ich habe nicht nach einer Quittung oder gar einem Fahrschein gefragt.

“Guckt mal!”, ruft plötzlich die Frau, die hinter mir sitzt. Zweihundert Meter vor uns kommt ein Jeep ins Rutschen, eindrucksvolles Leitplankenbillard, dann rammt er ein anderes Auto. Vielleicht sehen wir auch, wie sich die Airbags öffnen, ich erinnere mich nicht mehr genau. Der Fahrer der Marschrutka bremst, hält auf der linken Spur und steckt sich erst einmal eine Zigarette an.

Autobahn Odessa - Kiew, erster Unfall

Eine Minute später knallt es plötzlich, unser Minibus rutscht oder schwimmt oder überschlägt sich, alles geschieht so schnell. Die Frauen schreien, Scheiben zersplittern, irgendetwas, vielleicht mein Koffer mit dem Laptop, rutscht durch den Gang. Stille. Die Frau, die die ganze Zeit neben mir gesessen hat, steht auf einmal neben meinem Sitz und wankt. Ich greife ihre Hand. Ein Mann liegt im Gang und stöhnt. Ich erscheine mir unverletzt. Nur meine Brille fehlt.

8.30 bis 9.30 Uhr: Wir wurden von einem Mercedes gerammt. Einige Passagiere haben Platzwunden am Kopf. Der Mann, der im Gang gelegen hat, humpelt und hält sich das Bein. Er erzählt mir etwas, ich verstehe kein Wort. Aber ich sehe meine Brille, er hat draufgelegen. Der Fahrer befiehlt uns, schnell auszusteigen und auf den Hang hinter der Leitplanke zu klettern, ehe wir abermals gerammt würden. Die Straße ist glatt.

Die ersten Passagiere spielen schon Leserreporter und fotografieren mit dem Handy den Unfallort. Der Fahrer telefoniert mit einer Dana und sagt nach dem Gespräch, ein sitzmöblierter Ersatzgemüsewagen werde kommen. Zweihundert Meter hinter uns steht schon eine ganze Weile ein Laster quer. Die linke Spur ist aber noch frei – nein, jetzt nicht mehr. Eine Limousine kracht gerade hinein. Wir laufen neben der Leitplanke dorthin; ein Mann im Adidas-Trainingsanzug holt das Gepäck aus dem Kofferraum. Vorne raucht der Motor Kette. Die blonde Frau hat eine blutige Nase und wimmert. Ich weiß inzwischen nicht mehr, wer zu welchem Unfall gehört, weil sich alle vermischen: Verletzte und Gesunde, Gaffer und Helfer.

Autobahn Odessa - Kiew, dritter Unfall

Wenigstens können wir jetzt auf der Autobahn spazieren und müssen nicht mehr am steilen und verschneiten Hang entlangstolpern. Es kommt ja niemand mehr durch. Polizei ist nicht in Sicht. Unser Busfahrer telefoniert schon wieder und streichelt seinen Kopf. Wenn wir uns zufällig begegnen irgendwo, an einem der drei Unfallstellen, fragt er jedesmal, wie es mir gehe. “Alles in Ordnung”, sage ich dann. Inzwischen mag ich ihn. Er behält die Nerven, er schreit nicht herum vor Wut, obwohl es um seine Existenz gehen könnte, wenn die Versicherung nicht zahlt. Er bemüht sich, aber wir sind in der Ukraine. Die ersten Passagiere aus der Marschrutka sind verschwunden, ich wüsste gern, wohin.

Irgendwann kommen zwei Polizisten vorbei, sprechen mit unserem Busfahrer und laufen weiter zum ersten Unfall. Die Marschrutka ist kaputt. Hinten und an den Seiten fehlen die Scheiben; drei Ukrainer versuchen, die Tür am Heck zu öffnen. Einer tritt von innen, zwei andere ziehen von außen. Wichtige Dokumente sind eingeklemmt. Ich stehe unbeteiligt daneben und frage, ob ich helfen könnte. “Lass mal.”

Sitzmöblierter Gemüsetransporter

10 Uhr: Ein Mann sagt zu mir: “Gehen wir.” Wir gehen. Wir gehen zwei Kilometer zurück Richtung Odessa, vorbei am Stau und hindurch. Ich ziehe meinen Koffer und trage die Umhängetasche. Der Mann heißt Ruslan und will mich wieder zum Busbahnhof nach Ljubasivka bringen, wo wir vor eineinhalb Stunden gewesen sind.

Ruslan fährt Lada Niva ohne Gurte, sie fehlen einfach. Der Wagen muss auch erst vorgeglüht werden. Zwei weitere Polizisten treffen ein und leiten den Verkehr auf die Gegenspur um. Dort fahren zwar schon seit einer Stunde Autos, Laster und Mopeds, aber nun geschieht das wenigstens offiziell.

Kurz bevor Ruslan losfährt, kommt der Mann angehumpelt, der im Gang gelegen hat. Er will auch mitfahren. Die Männer reden miteinander, ohne dass ich ein Wort verstehe.

Ljubasivka, Busbahnhof

10.30 Uhr: Ich sitze jetzt in einem Bus mit drei Sternen, der einst in Deutschland unterwegs gewesen sein muss. An der Tür steht auf Deutsch “Nichtraucherbus”. Der Fahrer raucht. Der Fernseher dröhnt. Gezeigt wird eine Polizeiserie. Dauernd werden irgendwelche Kriminellenköpfe ins Klo gestopft. Neben mir sitzt der Mann, den ich nicht verstehe. Er spricht russisch, aber ein anderes Russisch als ich. Wenn er mir etwas erzählt, nicke ich oder sage: “Das stimmt.” Dann verabschiedet er sich und steigt an irgendeinem Bushäuschen auf der Autobahn aus.

13 Uhr: Ich habe Kopfschmerzen. Meine linke Wade ist angeschwollen, die rechte hat einen tennisballgroßen blauen Fleck. In Uman humpele ich zur Apotheke und feilsche mit der Verkäuferin um Tabletten. Ich will Paracetamol, die in Uman aber offenbar nur gegen Fieber verschrieben werden. Wir einigen uns auf orange Tabletten, die gleich ohne Verpackung verkauft werden.

Draußen vor dem Bus treffe ich Genadij. Genadij, vielleicht Ende dreißig, wohnt in Uman und hat ein “malenkij business”, wie er sagt, ein kleines Gewerbe also. Im Frühjahr, Sommer und Herbst angelt er am Asowschen Meer und verkauft dann seine Fische an Urlauber. Im Winter macht er in Kindersöckchen und Nüsse, die angeblich besser schmecken als in Kiew. Genadij klettert mit der Ware in die Busse, die am Bahnhof  Vollblasige und Leerlungige, also Gleichpinkler und Sofortraucher ausspucken. Wir tauschen Telefonnummern aus. Im Juli werden wir am Asowschen Meer gemeinsam angeln.

Uman, Busbahnhof
Uman, Busbahnhof

14 Uhr: Ich wüsste gern, warum der Bus jetzt abbiegt und diese Dorfstraße entlangfährt. Eigentlich sollte nur einmal – in Uman – gehalten werden, aber das war offensichtlich eine Lüge. Wir bringen sämtliche Passagiere bis vor die Haustür. Hin und wieder steht neben der Leitplanke der Autobahn auch jemand und hält den Arm heraus. Die Fernsehpolizisten waschen noch immer den Ganoven die Haare mit der Toilettenspülung. Scheint eine Staffel zu sein. Auf meinem Kopf finde ich Glassplitter vom Unfall.

Kiew, 15.30 Uhr: Wir sind am Busbahnhof. Ich weigere mich, mit dem Taxi zu fahren, ich muss also noch unter Schock stehen, aber die Männer verlangen viel zu viel Geld. Ich gehe wie mit einem Holzbein, ich humpele zur Marschrutka, ich versuche einzusteigen, da ist sie schon wieder weg. Sogar die krummste Kiewer Oma überholt mich. Ich fahre schwarz Trolleybus, jetzt ist sowieso alles egal, ich quäle mich zur Metro, steige zweimal um, humpele noch einmal zehn Minuten zum Hotel und breche im Zimmer zusammen.

18 Uhr: Treffen mit Blogleserin N., die in Kiew lebt. Sie muss mich durch die Stadt schleppen, sonst würde ich verhungern. Es ist ein bisschen entwürdigend. N. sieht das anders und verliert nicht die Geduld mit mir. Sie wählt ein französisches Restaurant in der Nähe der Andreaskirche. Das Essen schmeckt. Ich lache sogar.

23.15: Ich ertrage Helmut Schmidt nicht mehr. Der Altbundeskanzler geht mir auf die Nerven. Seit drei Monaten lese ich, dass er seinen 90. Geburtstag in Ruhe feiern wolle, dass ihm die Lobhudeleien unangenehm seien. Genauso lange schon lässt er sich feiern und lobhudeln. Nach all den Sonderseiten und Sonderbeilagen zeigt das ZDF, das ich im Hotel empfangen kann, auch noch eine Sondersendung. Jetzt gratuliert die “Zeit”, Schmidts Arbeitgeber. Es ist – Harald Schmidt ausgenommen – unfassbar peinlich. Unterwürfiger geht es nicht, ich frage mich, was man noch machen will, wenn Schmidt stirbt. Ich habe den Polizisten im Reisebus Unrecht getan. Das hier ist schlimmer.

Ich dachte, die Rede von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker wäre nicht zu unterbieten, am Ende aber tritt Schmidts Tochter auf und bringt die Leute im Saal dazu, das Lied “Happy Birthday” zu singen.

Freitag: keine besonderen Vorkommnisse

Odessa, Sonnabend, 10 Uhr: Ich gehe zum Arzt. Ich habe, wenn es um Medizin, schon einiges erlebt in der Ukraine: Katzen in Kinderkrankenhäusern und vollgequalmte Aschenbecher im Behandlungszimmer. Ich hieß schon Wiesemann, Wasamann und Weisemann. Bei einem Schönheitschirurgen bin ich aber noch nicht gewesen. Heute habe ich keine Wahl, denn in der Poliklinik arbeitet zwar ein Chirurg, geröngt aber wird erst wieder am Montag. Bisher dachte ich immer, Chirurgie und Röntgen seien ziemlich eng miteinander verbunden.

10.30 Uhr: Valentinowitsch zeigt zunächst wenig Interesse an meinem Bein; vielleicht entdeckt er, Mitglied der Vereinigung der Schönheitschirurgen, ganz andere Härtefälle an mir. Er diagnostiziert Hämatome, die aufgestochen werden müssten, und will mich unbedingt in die Privatklinik Into-Sana schicken, die seit 1995 “the great American Dream” in der Ukraine medizinisch wahrmacht. Ich weigere mich. “Gehen Sie erst mal zum Röntgen, dann sehen wir weiter”, sagt Valentinowitsch.

11.50: Endlich werde ich geröntg. Der Radiologe und die Schwester sind schwer beeindruckt von meinen Blessuren an beiden Beinen. Sie haben es gar nicht eilig, obwohl Valentinowitsch nur bis zwölf Uhr arbeitet. Er ist offenbar viel beschäftigt. Er hat mir ein grünes Faltblatt mitgegeben, aus dem hervorgeht, was er so tut: Valentinowitsch korrigiert unter anderem Nasen, Ohren und Lippen, verkleinert Bäuche, enfernt Narben und bügelt das Gesicht.

12.30: Ich warte schon eine halbe Stunde auf das Röntgenbild. Da kommt der Schönheitschirurg Valentinowitsch und fragt, wo ich bliebe. Sekunden später öffnet sich die Tür, und der Radiologe reicht das Bild. “Ich gratuliere, kein Bruch”, sagt er.

Drogen, rezeptpflichtig

Valentinowitsch verschreibt mir Schmerztabletten, eine Salbe und Spritzen mit Antibiotikum. Am Montagnachmittag will er sich meine Verletzung noch mal anschauen. Ich lege ihm aus Dankbarkeit 40 Griwna Schmiergeld hin – doppelt so viel, wie ich sonst ukrainischen Ärzten zahle. Zum Abschied meint er, das mit der Spritze hinten hinein sei kinderleicht.

Bloggerbein, links
Bloggerbein, links

“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Zweiter Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

[Der erste Teil steht hier]

Zweiter Teil: Reisen wie auf dem Fließband

Ukrainische Polizisten müssen beweisen, dass sie das Gesetz verteidigen, sie kontrollieren für die Bilanz. Ob das Bußgeld eintrifft, ist ihnen egal. Deshalb wird vor Weihnachten besonders gerast. Das Protokoll gelangt zwar noch in die Statistik, der Fall aber wird nicht mehr bearbeitet. Später erfahren wir, warum wir zweimal so schnell gewesen sind, wie es die Polizei gewollt hat. Uns wurden alte Geschwindigkeiten gezeigt. Die Uhrzeit auf der Pistole hätte die Beamten überführt. Ukrainern ist dieses Misstrauen in Autoritäten bestimmt angeboren.

Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei 200 Meter entfernt vom Polizeirevier
Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei im Stadtzentrum - 200 Meter entfernt vom Polizeirevier

Seit 24 Stunden sind wir im Land. Die ersten zehn Minuten am Freitag habe ich aufrichtig versucht, mich an die Vorschriften zu halten. Ich fuhr im Ort sechzig. Es war lebensgefährlich, was vielleicht damit zu tun hat, dass die Dörfer auch zehn Kilometer lang sind, wenn dort zwei Häuser stehen. Der Rückspiegel hatte ständig gelbe Treffer, so oft wurde mit der Lichthupe auf uns geschossen. Ukrainer rasen, als wären sie auf der Flucht, drängeln, dass man fast ihre Augenfarbe erkennt, und scheren noch am Berg aus. Im Gras erinnern viele Kreuze daran, dass mancher sein Leben gleich mit überholt hat. Kein Polizist hat uns an diesem Abend zwischen Lemberg und Ternopil aufgehalten. Heute jedoch wartete auf den 400 Kilometern bis Uman in jedem fünften Dorf ein Paar. Angeblich trinkt der Ukrainer am Wochenende mehr und spürt plötzlich Sehnsucht nach seiner Datscha.

Auf der Autobahn: Kein Ziel in Sicht
Fast am Ziel, aber noch immer auf der Autobahn

Die Angst vor Kontrollen ist uns so peinlich geworden wie das Selbstmitleid wegen der Schlaglöcher. Um derlei als unangemessen zu empfinden, genügt im klimatisierten Auto ein Blick nach links und rechts, auf Pflüge, die ein Gaul zieht, auf Kinder, die noch in der Finsternis mit Oma und Opa auf dem Feld wühlen. Alte mit mehr Zehen als Zähne verkaufen vor Häusern, die in Deutschland gesperrt würden, ihre Ernte: Äpfel, Kartoffeln, Salatköpfe. Weil das Auto auf kaputten Straßen nur langsam vorwärts kommt, fliegt das Elend nicht vorbei. Es nimmt kein Ende. Wir haben nicht angehalten. Wir hätten uns mit den Frauen doch nichts zu sagen gehabt, selbst wenn wir uns hätten verständigen können. So alt, wie sie mit ihren Kopftüchern aussehen, können wir niemals werden. Wir dürfen gar nicht so altern. Das deutsche Gesundheitssystem lässt es nicht zu. Weil es uns so gut pflegt, hat der Tod einen so schlechten Ruf: Er holt die meisten zu früh, glauben wir. Wir haben angehalten, wo die Ukraine ungefähr aussieht wie Deutschland: an Tankstellen. Nur die Preise sorgten für ein Gefühl von Ferne. Der Liter kostet 90 Cent.

Um auf der Autobahn nicht von weitem entdeckt zu werden, verstecken wir uns hinter einem Laster mit Darmwind, der nach Fuselbenzin riecht. Das einzige, das noch beschleunigt, ist der Puls, wenn wir Polizisten sehen, wo Pappeln stehen. Seit Stunden sind wir die einzigen Westeuropäer, da macht sich jeder Baum verdächtig. Wie auf einem Fließband rollen wir dahin: siebzig bergauf, siebzig bergab, siebzig in Kurven, siebzig auf Geraden. Doch der Regen muss die Streckenposten vertrieben haben. Odessa erreichen wir nach 52 Stunden und 2100 Kilometern. Wir wollen zugleich schlafen und uns betrinken.

Durch sieben teilen

Um das Problem mit dem Umzugsgut kümmert sich mittlerweile ein Krisenstab. Freunde in Mecklenburg berichten von einer Tour nach Weißrussland. Bekannte in Odessa verhören Deutsche, deren Hausstand es irgendwie durch den Zoll geschafft hat. Auch der Pfarrer der deutschen Gemeinde in der Stadt ist eingeweiht. Die Verwandten haben alles schon vorher gewusst und verschweigen dies auch nicht. Meine Frau kennt inzwischen fast jeden Grenzer. Fortwährend klingelt ihr Telefon. Doch alle Schriftstücke, die beweisen, dass sie im Land arbeiten soll und umziehen muss, sind am Zoll wertlos. „Ihr müsst euch daran gewöhnen, dass bei uns erst einmal nichts klappt”, sagt spät abends in einer Bar unsere ukrainische Freundin, die mehr als zehn Jahre in Niedersachsen gelebt hat. Ich brauche zwei Einschlafbiere.

Vor der berühmten Oper, dem angeblich zweitschönsten Haus der Welt

Am Sonntagmorgen wandere ich durch Odessa und belausche eine Stille, die mir Stunden später, sobald sich der Verkehr staut und die Menschen aus 133 Nationen erwacht sind, wie eine Sinnestäuschung erscheinen wird. Noch aber wird in der Puschkinskaja, einer der schönsten Straßen der Stadt, der Bürgersteig mit dem Schlauch abgespült. Drei Stunden bevor der Zug abfährt, der mich noch einmal nach Schwerin bringt, besuchen wir eine Werkstatt. Wir wollen auf das Auto in Odessa nicht verzichten. Doch wenn wir es zurücklassen, könnten die Zöllner vermuten, wir hätten es verkauft, und sehr unangenehm werden, um das Geld zu finden. Also machen wir es zum Patienten, lassen es krankschreiben und täuschen eine Panne vor. Der Reparaturschein wirkt echt.

Der Wagen muss samt Schlüssel im Autohaus bleiben. Der Chef ist mal in Magdeburg gewesen, ich bin dort geboren. Er wird mich nicht betrügen. Wir sind fast verwandt. Das Abschiedsfoto – Autohändler, Autobesitzer und Auto -, kommt entweder ins Familienalbum oder in die Fahndung. „Griesdoff, haben Sie keine Angst”, sagt der Mann. Ein Amerikaner hat sogar seinen Lexus bei mir abgestellt.” Unser Vermieter will trotzdem noch mal vorbeischauen.

Die ukrainische Freundin versucht mich zu trösten. Sie fühlt sich mitschuldig, dass uns der Zoll besiegt hat und der Umzugslaster voll beladen zurückfährt. Sie sagt: „Wenn jetzt noch dein Wagen verschwindet, glaube ich an nichts mehr. Dann verlasse ich das Land für immer und gehe dorthin, wo kein Ukrainer lebt.”

“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Erster Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

Diese Reisereportage ist meine Weihnachtsgeschichte. Ich weise aber darauf hin, dass sie im Mai spielt. Mitte Mai bin ich nämlich mit dem Auto von Schwerin nach Odessa gefahren, um den Umzug der Familie vorzubereiten. Lesen Sie heute den ersten Teil. Am Heiligen Abend ersten Weihnachtsfeiertag folgt die Fortsetzung.

Erster Teil: Langsamer als die Polizei es will

Auf der Autobahn zwischen Kiew und Odessa: Erlaubt sind 110 Kilometer pro Stunde.

So viel Glück ist nicht ukrainisch. Die Autobahn von Kiew hinunter ans Schwarze Meer hat vier Spuren und keine Schlaglöcher. Auf einmal ist nichts mehr zu spüren von jener Krankheit, mit der sich das Auto auf der ersten Holperpiste hinter der Grenze angesteckt hatte. Das Symptom war, unüberhörbar, ein Klappergeschwür unter der Haube, das sich später bis zum Heck auswuchs. Im Deutschland der schönen Straßen hätte der ADAC einen Engel schicken müssen, der am Motor nachsieht und Muttern nachzieht. In der Ukraine aber, wo Täler und Hügel schon im Asphalt beginnen, wird jedes Auto zum Hypochonder. Der Patient, ein vierjähriger Skoda Octavia, ist nach dem Abbiegen auf die Autobahn bei Uman augenblicklich gesund. Bis Odessa sind es nur noch 270 Kilometer.

Von Schwerin nach Odessa: 2100 Kilometer Screenshot: ViaMichelin.de

In zweieinhalb Stunden werden mein Beifahrer und ich aussteigen, einen Teller Borschtsch bestellen und – wie es sich gehört – Wodka trinken: sto gramm, 100 Gramm. Müssten wir nicht vor dem Umzugswagen in Odessa ankommen und die Wohnung einrichten, wir könnten weiterfahren bis Usbekistan, Turkmenistan oder Sibirien; niemand könnte das verhindern. Dann springt ein Polizist vors Auto und dirigiert mit seinem schwarz-weißen Stock. Das Glücksgefühl ist wieder verschwunden. Seit wir im Land unterwegs sind, haben wir nie mehr als 65 Kilometer in der Stunde geschafft. Die Angst ist immer mitgefahren.

Ternopil: Blick aus dem Hotelzimmer

Früh am Morgen in Ternopil, dreihundert Meter entfernt vom Hotel, bin ich falsch in eine Einbahnstraße gebogen. Die vier Ukrainer vor mir übersah der Polizist. Für uns machte er keine Ausnahme. „Man darf dort nicht lang”, sagte er auf Russisch. „Komm mit.” In seinem Lada blätterte er im Pass, fragte nach dem Ziel der Reise und nuschelte etwas. Am Anfang bat ich ihn, den Satz zu wiederholen, irgendwann ließ ich es sein. Ein Ukrainer, der von einem Ausländer nicht verstanden wird, spricht gewöhnlich nicht langsamer, sondern lauter. Nachdem er mich drei Minuten über die Schwere meines Vergehens belehrt hatte, was ich allerdings eher seinem Blick als seiner Stimme entnahm, redete er solange an mir vorbei, bis ich wieder ein Wort verstand: „Straf”. Wenigstens war ich noch nicht verurteilt. Als ich mich nach dem Preis erkundigte, wurde aus der Faust unter dem Lenkrad eine Hand mit fünf Fingern. Die Geldübergabe scheiterte jedoch. Ich reichte ihm fünf Euro, er rührte sie nicht an. Erst als der Schein auf der Handbremse lag, winkte er mich weg vom Beifahrersitz, als würde er eine Fliege vom Oberschenkel verscheuchen.

Der Ternopiler See

Im vergangenen Jahr hat der neue Präsident Viktor Juschtschenko, der sich vom Westen lieben lässt und wegen dieser Nähe Russland ständig das Herz bricht, viele korrupte Beamte ausgewechselt. Seitdem fürchten die Überlebenden, so bestochen zu werden, dass es auffällt. „Wo geht es nach Odessa?”, fragte ich zum Abschied den Ternopiler Polizisten. „Priamo, priamo”, sagte er. Ich fuhr davon wie empfohlen oder besser: befohlen – immer geradeaus. Ich hätte viel mehr bezahlt, um freizukommen.

Nach fünf Minuten auf der Autobahn, kurz hinter Uman, stehen wir. Mein Beifahrer sieht, wie der Mann in Uniform den Kopf hereinsteckt und den Mund für einen Vortrag öffnet, erbleicht sogleich und flüstert, während ich noch an meiner Verteidigung bastele, die die Schuld widerlegt: „Gib zu, dass du 124 gefahren bist, und vergiss deine 105. Er weiß selbst, dass 110 erlaubt sind. Ihr habt beide Recht, aber er eben ein bisschen mehr.” Für 280 Griwen, umgerechnet 40 Euro, verkauft uns der Polizist die Freiheit, lächelt und wünscht eine gute Fahrt.

Kurz nach Mitternacht hatte in Ternopil das Telefon geklingelt. Der Möbeltransporteur ließ die schlechte Nachricht von einem ukrainischen Zöllner überbringen. Ich wollte weiterschlafen. Die erste Nacht hatten wir in Polen zwischen Breslau und Krakau an einer Tankstelle verbracht, was kaum zu empfehlen ist. Nach fünf Stunden im Auto fühlt man sich morgens wie die eigene Oma – und sieht auch noch so aus. In der Mittagshitze hatten wir dann erst am Grenzübergang Przemysl drei Stunden auf Einlass gewartet und hernach den Ukrainern nur die Frage beantworten müssen, ob Drogen im Gepäck seien. Kopfschütteln genügte.

Auf der Autobahn: Marktfrauen verkaufen Obst und Gemüse.

Der Zöllner am Telefon stellte sich eine halbe Minute vor und erzählte von einem neuen Gesetz, das mich verpflichte, für alles Quittungen vorzulegen: das Spielzeug des Kindes, für Bücher, Kleider und die Hausapotheke. Ich hätte gern erwidert, dieses Gesetz sei seit höchstens fünf Minuten in Kraft, weil er allein es beschlossen habe. Stattdessen stotterte ich auf Russisch: „Bitte Sie verstehen, äh, dass nicht in Deutschland, äh, äh, Entschuldigung, jeder seine Zettel von das Einkaufen aufbewahren. Verstehen Sie?” Mehr konnte ich zu unserer Rettung im Halbschlaf nicht ausdrücken. Es war zu wenig. Der Transporteur fuhr zurück nach Polen – allerdings ohne die bereits gezahlten 500 Euro Bestechungsgeld. Er war zum zweiten Mal gescheitert, versprach aber, es später wieder zu versuchen.

Die Tachonadel klebt an der 90. Das ist unser Tempolimit auf der Autobahn. Werden wir überholt, wirkt es, als würden wir parken, so schnell sind die anderen weg. Hunde eilen von links nach rechts. Wo die Leitplanke fehlt, ziehen Busse auf die Gegenspur. Es gibt Zebrastreifen, Bushäuschen und Basare. Mein Beifahrer könnte Ziegen und Kühe und Pferde streicheln, wenn er die Hand aus dem Fenster hielte. Wir werden von einem Motorrad überholt, auf dem drei Männer sitzen; keiner trägt einen Helm. Auf dem Standstreifen wird getrunken und gegessen, geredet, geradelt und getorkelt. Wären wir Ukrainer, könnten wir dort ein Zelt aufbauen und den Grill anmachen, ohne dass es irgendwen stören würde. Als Deutsche aber müssten wir sicher noch dafür bezahlen, dass wir zu laut Verkehrsfunk hören. Mit unserem Kennzeichen ist es unmöglich, den Wilden Osten unbemerkt zu durchqueren. Es ist ein Makel, der jede Tarnung auffliegen lässt.

Marktfrauen irgendwo in der Ukraine

„Sie sind 128 gefahren”, sagt der Polizist an der nächsten Ausfahrt. Er hat uns herausgewinkt, aber danach erst einmal zwei Minuten warten lassen, schließlich hatte auch er warten müssen. Sicher hatte sein Kollege per Funk gemeldet, dass gleich zwei etwas einfältige Mecklenburger vorbeikämen – mit vollen Portmonees und noch volleren Hosen. Nur waren wir wegen der Bummelei spät dran. Trotzdem spendiert er uns diese schöne Zahl 128.

„Das muss ein Irrtum sein”, sage ich. Ich wehre mich. Ich klopfe auf das Tachometer. Ich überhöre die Ratschläge des Beifahrers. Ich errege mich, so stark es der Mut zulässt. Ich muss aussteigen. Der Polizist führt seine Laserpistole vor und schießt zweimal auf Autos. „Charrascho?”, fragt er und präsentiert das Ergebnis. Nichts ist gut! Ich, mäßig überzeugt, erzähle, was mein russischer Wortschatz hergibt, um ihn gnädig zu stimmen: dass ich Journalist sei und eine Dienstreise machte, dass mein Sohn keine Windeln mehr brauche und überhaupt ein Wunderkind sei. Es fehlt nicht viel, dass ich aus Verehrung für die Klitschko-Brüder, seine Landsleute, ein bisschen boxe.
Der Polizist, mäßig begeistert, schreibt auf der Motorhaube das Protokoll. „Straf kommt mit der Post nach Odessa”, sagt er und verlangt drei Unterschriften. Meine Adresse habe ich mir ausgedacht, ich denke, er weiß es. „Spasiba”, sage ich. Unterwegs muss mein Stolz ausgestiegen sein, sonst hätte ich mich nicht bedankt.