Rostocks roter Blitz

Ich habe so etwas noch nie getan, weil es unverschämt ist, egoistisch und dumm. Zu Recht hat der Leser kein Verständnis dafür. Ich tue es trotzdem. Ich möchte mit diesem Text einen Mann grüßen, den die meisten Leser nicht kennen werden. Falls das ein Trost ist: Auch ich kenne ihn nur sehr, sehr flüchtig. Alles, was ich von ihm weiß, ist, dass er aus Rostock kommt, einen roten Kleinbus fährt und die Angst nicht seine ständige Begleiterin ist.

Auf der Autobahn von Kiew nach Odessa hat er mich kürzlich überholt. Es war nicht schwer, denn ich fuhr jede erlaubte Geschwindigkeit, um der Polizei zu entgehen. Ich hatte Angst. Dieser Teufelskerl aus Rostock aber sauste heran, sah mein Schweriner Kennzeichen, fuhr vorbei, hupte und sauste davon. Ein paar Sekunden später war er verschwunden. Es schien mir, als wäre er beleidigt. Ich hatte sein Hupen unangemessen erwidert und bloß gewinkt, das tut mir leid.

Wahrscheinlich hält er mich jetzt für arrogant oder für einen Kerl, der seine Heimat verrät, dem sie sogar peinlich wird, sobald er das Land verlassen hat. Ich will nicht, dass er ein schlechtes Bild von mir hat, ich kann alles erklären. Es ist nicht so, wie du denkst, mein Freund im roten Kleinbus!

Ich brauche zum einen mehr Zeit als andere, um Gefühle auszudrücken, zum anderen war ich abgelenkt. Ich musste mit meinem Sohn, der auf der Rückbank saß, Vokabeln lernen. Er tut sich schwer mit der Fremdsprache, ich verstehe das auch, aber allmählich könnte er zumindest einfachste Vier-Wort-Sätze auf Russisch bilden. Er sollte nur sagen: „Samaljot lehtajet otschen bystra. Das Flugzeug fliegt sehr schnell.” Ich verlange nichts Unmögliches, der Junge ist fast zweieinhalb! Er hört nicht auf mich, er macht, was er will, er plappert auf Russisch nur Unsinn.

Es kann kein Zufall gewesen sein, dass der Mann aus Rostock und ich uns auf dieser Autobahn im tiefsten Osten Europas begegnet sind, wo sonst nur Ukrainer, Weißrussen, Russen und Moldawier unterwegs sind. Da wollte das Schicksal zwei Mecklenburger vereinen und zu Kameraden machen. Ich bin Romantiker, weiß Gott. Lieber Rostocker, das Kind ist schuld, dass wir keine Freundschaft fürs Leben geschlossen haben. Mein Sohn lässt ausrichten, es tue ihm auch leid.

(c) Schweriner Volkszeitung, 20. September 2008