Kategorie: Kolumnen

Kolumne: Oleg, John und Marschrutka

(Haben Sie Lust auf eine Stadtrundfahrt? Dann steigen Sie bitte ein.)

An einem Tag, der damit beginnt, dass mich mein Freund Oleg anruft und weckt, habe ich entweder Geburtstag oder brauche in den nächsten Stunden starke Nerven. Da ich in mehr als 33 Jahren noch nie im Juli Geburtstag gehabt habe, war mir gleich klar: Es kommt etwas auf mich zu.

Oleg sprach sehr schnell und bestellte mich in ein Café. Er sagte, es sei dringend. Als ich ankam, und zwar unserer Freundschaft zuliebe mit gespielter Atemlosigkeit, hatte er seinen Kaffee bereits bezahlt und wartete auf der Straße. “Wir müssen los”, sagte er. “Wir nehmen die Marschrutka.”

Marschrutkas heißen in der Ukraine jene Transportmittel, die in deutschen Großstädten Linienbusse heißen. Man sollte nur keine Linienbusse erwarten. Anders gesagt: Marschrutkas sind Linienbusse vor der Erfindung von überdachten Haltestellen und Fahrplänen und Monatskarten und Komfort jeder Art.

In der Theorie sieht das so aus: Sie stellen sich an die Straße und warten. Wenn die Marschrutka kommt, halten Sie den Arm raus und steigen ein. (Bitte zeigen Sie dem Fahrer nicht den Daumen, als wollten Sie trampen. Er könnte das Zeichen missverstehen und denken: Ich weiß selbst, dass ich ein geiler Marschrutkafahrer bin.) Wenn Sie aussteigen wollen, gehen Sie nach vorne zum Fahrer, nennen ihm die Straßenecke, an der er halten soll, und bezahlen. Eine Fahrt in Odessa, egal wie lang, kostet derzeit 2 Griwna und 50 Kopeken, ungefähr 20 Cent.

In der Praxis sieht das so aus: Als Odessa-Neuling brauchen Sie ein Fernglas, um von weitem zu erkennen, welche Marschrutka gerade kommt. Ist es die 242 nach Arkadia am anderen Ende der Stadt oder die 241 zum Hauptbahnhof im Zentrum? Dorthin fahren ungefähr noch fünf andere Linien, aber immer auf unterschiedlichen Wegen. Die ungefähre Route des Busses, also die Namen der wichtigsten Straßen, die angesteuert werden, kleben auf einem Pappschild an der Front- und der Seitenscheibe.

Wenn Sie gar nicht durchsehen, tun Sie, was auch Odessiten tun: Bringen Sie die Marschrutka mit ausgestrecktem Arm zum Stehen. Dann brüllen Sie ins Innere ihr Ziel und heben dabei die Stimme. Irgendjemand wird auf die Frage schon antworten. Im schlimmsten Fall hat der Fahrer umsonst gehalten und beschimpft Sie deshalb ein bisschen. Aber das verstehen Sie dann sowieso nicht.

Sollten Sie aussteigen wollen und feststellen, dass Sie nicht nach vorne durchkommen, weil es zu voll ist, geben Sie der Person vor Ihnen das Geld und nennen Sie ihr auch Ihre Haltestelle. Beides wird dann zum Fahrer durchgegeben. Keine Sorge, Sie bekommen auch das Wechselgeld zurückgebracht. Dort, wo Sie abgesetzt werden wollen, öffnet sich die hintere Tür. Sie sind da. Verabschieden Sie sich nicht von den anderen Leuten! Danken Sie nicht dem Fahrer!

Sie wollen wissen, wo Ihr Fahrschein ist?
Steigen Sie aus der Kolumne aus. Sofort!
So frech muss man erst mal sein. Gibt’s doch gar nicht.

Oleg lehnte mit dem Kopf an der Scheibe und hatte die Augen geschlossen. Immer wenn die Marschrutka hielt, erwachte er augenblicklich, schaute zu den Türen und beobachtete, wer zustieg. Dann nickte er wieder weg.

Meine Lieblingsmarschrutka ist die 203, die zwischen der Zementfabrik und dem Schewtschenko-Park verkehrt. Am Park spuckt der Bus vor allem Halbnackte aus, weil Lanjeron nicht weit entfernt ist. Lanjeron ist der Strand von Odessa, der am dichtesten am Stadtzentrum liegt. Meiden Sie diesen Ort, wenn Sie Osteebadähnliches erwarten und sich erholen wollen.

Zur Zementfabrik gelangen Sie am besten, indem Sie träumen und sich auf die falsche Straßenseite stellen. So werden Sie logischerweise in die andere Richtung transportiert, also weg vom Schewtschenko-Park und vom Strand. Irgendwann merken Sie das natürlich, weil sich der Bus unterwegs ziemlich leert und die Frauen sowohl älter als auch dicker werden. Überdies werden ein paar verlorene Seelen einsteigen, die ihnen im Zentrum eher selten begegnen. Odessa, die Smog atmende Metropole, verwandelt sich mehr und mehr in ein Dorf, und auf den letzten Kilometern werden Sie vermutlich der letzte Fahrgast sein. Halten Sie durch.

Und dort ist sie schon, die weniger bekannte Sehenswürdigkeit Zementfabrik Odessa. Die ist, wenn Sie den Verwandten später Ihre Urlaubsbilder zeigen, ein sicherer Brüller.

Kalle, schau mal: die berühmten Treppe mit den 192 Stufen aus dem Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin, und die Oper haben wir uns natürlich auch angeguckt. Ein Prachtbau der Wiener Architekten Fellner&Helmer, sag ich dir. Und das, Kalle, ja, das ist die Zementfabrik. War das ne Tortur dahin, mein Lieber.

Oleg und ich fuhren ein wenig kreuz und quer, ja ziellos durch die Stadt, wie mir schien. Ich hatte längst aufgegeben, mich zurecht zu finden, wir waren immer irgendwo, wo ich nie zuvor gewesen war. Alle zehn bis 15 Minuten ging Oleg nach vorne, reichte dem Fahrer fünf Griwna und bat ihn, an der nächste Ecke zu halten. Dann standen wir ein paar Augenblicke an der frischen Luft und kletterten in die nächste Marschrutka, die kam.

Die 203 vom Strand weg ist nichts für Einsteiger. Man hat gerade im Schwarzen Meer gebadet und will wieder ins Zentrum. Bis zur Haltestelle der Marschrutka sind es ungefähr sieben Minuten, es geht größtenteils bergauf, und mit Kindern ist der Weg noch ein wenig beschwerlicher, weil an den Buden links und rechts nicht nur Souvenirs, getrocknete Fische und Krabben verkauft werden. Es gibt auch allerlei buntes chinesisches Plastikspielzeug, das Kinderschritte sehr langsam macht.

Hat man die Haltestelle erreicht, findet man mit etwas Glück noch einen letzten freien Sitzplatz in der 203 und braucht bis zur Abfahrt nicht zu stehen. Meistens, vor allem mit bummelnden Kindern, hat man kein Glück und verflucht Chinas Spielzeugindustrie.

Sekunden später passiert es: Der Körper schwitzt, wie er noch nie geschwitzt hat. Es ist seine Art, den Verstand zu fragen: “Wozu hast du mich eigentlich zum Abkühlen ins Schwarze Meer geschickt? Und weißt du, was Körperverletzung ist? Ich verrat’s dir, Schwachkopf. Körperverletzung ist: in einer 60 Grad heißen Marschruka ohne Klimaanlage 20 Minuten auf die Abfahrt zu warten.”

Ich wurde nicht gerade ungeduldig, ich bin schließlich im Urlaub. Aber nach einer Stunde fragte ich Oleg doch mal, was wir vorhätten.
“Kolumnist, weißt du denn nicht, welcher Prominente gerade in Odessa ist?”
“Keine Ahnung. Außer mir fällt mir niemand ein.”
“Mal davon abgesehen, dass das gerade grammatisch ganz gewagt war – ich meine nicht eingebildete Prominente.”
“Sag schon, Oleg.”
“John”, sagte Oleg und dehnte den Nachnamen, “Mal-ko-vich.”
“Hmmh, der Schauspieler, ja?”
Hmmh, der Schauspieler, ja? Du bist ja ein noch größerer Depp, als ich bisher gedacht habe. John Malkovich ist Ehrengast des Zweiten Internationalen Filmfestivals von Odessa.”
“Schön für Odessa, schön für Mr. Malkovich.”
“Ich muss ihn treffen. Ich bewundere ihn.”
“Oh nein, Oleg, bitte nicht, das hatten wir doch schon mal.”
Oleg Fiction, ich erinnere mich. War großartig. Hammertext von Axel. Ewige Druschba.”
“Weißt du denn, wo er ist?”
“So ungefähr.”

Wir setzten die Fahrt fort.

Mich fasziniert nach Jahren immer noch, wie viele Leute in eine Marschruka mit 20 Sitzplätzen hineinpassen. Erst wenn 40 Leute drin sind, beginnt ein Gemurre, das der Fahrer aber nicht hört, weil er gerade telefoniert, oder sowieso nicht hören will. Er lässt weiter einsteigen, obwohl zur Paarung mittlerweile nicht mehr viel fehlt. Man wird von Fremden angeschwitzt und revanchiert sich, indem man bestmöglich zurückschwitzt. Als Mann suche ich naturgemäß die Zweisamkeit mit hübschen Odessitinnen. Auch kurz vor dem Kollaps riechen Marschrutkafrauen besser als Marschrutkamänner.

Nach einer Weile kennt man auch die Problemzonen der Schönheit, an der man sich reibt. Ihren Po hatte man sich, als man sich zu ihr vorgearbeitet hatte, doch ein wenig strammer vorgestellt. Ihre Brüste fühlen sich indes obszön schön an. Haucht sie mir da gerade einen Rest Knoblauch vom Essen gestern Abend ins Gesicht? Gut, dann neutralisieren wir uns ja.

Deutsche Datenschützer, die sich wegen Facebook und Google um die Privatsphäre sorgen, sollten in Odessa mal Marschrutka fahren.

“Wie lange dauert′s denn noch, Oleg?”
“Geduld.”
“Wir sind jetzt 90 Minuten unterwegs. Da könnte mal was kommen.”
“Wir sind gleich da.”

Odessa ist für mich voller Erinnerungen. Ich weiß noch, wie ich mir im Juni 2008 – kurz nach meinem Umzug aus Deutschland – die Füße wund gelaufen habe auf der Suche nach einer Nagelschere. Denn die hatte ich nicht mitgebracht. Damals gab es diese vielen Drogerieketten noch nicht. Als ich endlich ein Geschäft gefunden hatte, eines für Sanitärartikel, wusste ich nicht mehr, was “Nagelschere” auf Russisch heißt. Und gerade jetzt fällt mir das Wort natürlich auch wieder nicht ein.

Wenn ich vor der Oper stehe, denke ich immer an den Stunt, den mein Sohn auf seinem Laufrad vollführte. Er hatte das Bremsen damals noch nicht gelernt, und nun ging es bergab. Er stürzte, schlug sich die Lippen auf und sang eine Arie, die es in sich hatte. Hätte ich in dem Augenblick einen Pappbecher herausgeholt, wir wären reich geworden.

Und dort, die Schwiegermutterbrücke, an der frisch Verheiratete ein Vorhängeschloss anbringen, damit die Liebe ewig hält: Hier fiel meine Brille zu Boden. Sonst hätte ich die Sache mit dem deutschen Optiker M. nie erlebt. Und da, der Primorskij Boulevard, war das kalt in der Silvesternacht 2008. Der Staatspräsident, der sich aus Kiew mit Neujahrsgrüßen meldete und ausgepfiffen wurde, hieß, tja, wie hieß der denn? Das war doch der mit den Narben im Gesicht und den großen Versprechen im Maul. Mensch, ich komm nicht drauf. Lang, lang ist′s her.

Und jetzt sind wir an dem Lokal, in dem ich mit der Familie das beste Schaschlyk meines Lebens gegessen habe, ist erst ein paar Tage her. Die Kinder malten die ganze Zeit wild mit ihren Filzstiften und waren so genügsam. Als die Kellnerin die Rechnung brachte, war sie entsetzt, weil den Lipton-Eistee-Tisch fünf Filzstiftkringel zierten. Sie drückte mir einen Lappen in die Hand und sagte: “Das muss weg, sonst Schtraf.” Die Familie war natürlich längst heimlich untergetaucht, ich schrubbte ein bisschen und merkte gleich, dass die Farbe mit Spülmittel niemals verschwinden würde. Ich erhöhte dann das Trinkgeld und rannte davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Und schaut, liebe Leser, das Krankenhaus Nummer 11, wo ich nach meinem bösen Unfall wieder laufen lernte. War auch eine Marschrutka, übrigens. Euer Kolumnist musste sich das Antibiotikum selbst in den Hintern spritzen. Wisst ihr noch?

Und dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort und auch dort wurde ich mit dem Auto angehalten, weil Odessas Straßenpolizisten, die Gaischniki, gerade Geld brauchten. Irgendetwas, wofür ich eigentlich in den Knast gehört hätte, fanden sie jedes Mal. Manchmal konnte ich mich herausreden, manchmal musste ich mich freikaufen.

Oleg tippte mich an.
“Hab ich geschlafen?”, fragte ich.
“Den Geräuschen nach: tief und fest, Kolumnist.”
“Und wie lange?”
“Halbe Stunde.”
“Sind wir da?”
“Hast du Geld dabei, Kolumnist?”
“Ich hab nichts eingesteckt, du wolltest doch bezahlen.”
“Tja”, sagte Oleg, “dann sind wir jetzt da.”

Ich rieb mir die Augen und versuchte, etwas zu erkennen, das mir bekannt vorkam. Aber da war nichts.
“Wo sind wir, Oleg?”
“Ist doch egal.”
“Wo ist Malkovich?”, fragte ich.
“Ich dachte: hier.”
“Hier?”
“Hier. In der Marschrutka oder in der davor oder in der davor oder gleich in der ersten.”
“Oleg, nur damit ich das richtig verstehe: Wir fahren seit zweieinhalb Stunden Marschrutka, weil du glaubst, dass John Malkovich auch Marschrutka fährt?”
“So isses.”
“Ich halte das, vorsichtig gesagt, für nicht sehr wahrscheinlich. Der kriegt für jeden Film ein paar Millionen. Der fährt doch nicht Sauna.”

Oleg erzählte mir eine Geschichte. Er war zur Eröffnung des Filmfestivals gegangen. Vor der Oper lag ein langer roter Teppich. Plötzlich sah er, wie sich John Malkovich auf der Straße mit Odessiten unterhielt. Er hätte ihm fast die Hand geschüttelt, kam aber nicht weiter, es fehlten nur drei Meter. Oleg drängelte und stellte sich auf die Zehenspitzen, er rief den Schauspieler und drängelte weiter.

Drei Meter.

Odessadorf

Oleg verstand nicht, worüber sich John Malkovich unterhielt, aber er hörte ein Wort ganz, ganz deutlich.
“Er hat gesagt: Marschrutka.”
Ich schwieg.
“Kolumnist, du glaubst mir doch, oder?”
“Na klar, Oleg. Wenn du’s gehört hast, hat er’s gesagt.”
“Marschrutka,
hat er gesagt.”
“Aber Oleg“, sagte ich. „Du hast es doch gar nicht nötig, diese blöden Prominenten zu jagen. Du hast doch mich.”
“Ach, du bist ja praktisch schon wieder weg.”
“Aber ich komm wieder, vielleicht schon im Oktober. Ist das nichts?”
“Im Augenblick, Kolumnist, frage ich mich eher, wie wir von diesem verdammten Ort wegkommen. Ohne Geld.”
“Ist es weit, Oleg?”
“Verflucht weit.”
“Ich habe Zeit. Ich habe nichts vor. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.”
“Gehen wir?”
“Gehen wir.”

Und dann gingen wir.

(Und Sie müssten ja jetzt eine Weile ohne mich klarkommen können.)

Kolumne: Mein Sohn und der Datschaismus

ODESSA/UKRAINE Ich brauche in Odessa nach wie vor keinen Stadtplan. Nun kann man einwenden, das sei nicht unbedingt eine herausragende Leistung für jemanden, der mehr als eineinhalb Jahre hier gelebt hat. Allerdings gibt es andere Dinge, die mich überfordern, obwohl ich sie beherrschen müsste, weil ich schon lange genug mit ihnen zu tun habe. Würde ich mich zum Beispiel in Odessa orientieren, wie ich in Odessa rede, hätte ich gestern nicht einmal die Potemkinsche Treppe wiedergefunden.

Datscha

Ich habe in der fünften Klasse angefangen, Russisch zu lernen. In der DDR war das die erste Fremdsprache – natürlich auch aus Dankbarkeit für die Rote Armee, die uns freundlicherweise Adolf Hitler weggenommen hatte, was uns allein wohl nie gelungen wäre. Wenn man die These vertritt, dass der Führer von dreiunddreißig bis fünfundvierzig nicht allein unterwegs gewesen sei, könnte man auch sagen: Wir wurden uns selbst weggenommen. Kurz und Knopp: Nicht alle Deutschen waren Nazis. Aber alle Nazis waren Deutsche.

Russisch war auch eine Siegersprache, die des Großen Bruders, der schon den Kommunismus erreicht hatte, während wir in der DDR noch im Sozialismus feststeckten. Ach, war das ein Schlamassel.

Dass wir nicht zuerst Englisch lernten, war nur konsequent und logisch. Wo, bitte schön, hätte ich denn meine Kenntnisse vertiefen oder überhaupt anwenden sollen? Für DDR-Bürger hatte Englisch ungefähr den Stellenwert, den heute Esperanto hat: nette Sprache, aber find erst mal jemanden, mit dem du sie teilen kannst.

Niemand außer Helmut Kohl hat doch 1987 gewusst, dass die Mauer bald fällt.

Panzer vor dem Kinderzimmerfenster

Dass wir mit Russisch auch nicht viel anfangen konnten, ist wiederum einer dieser Witze, wie sie nur ein Land wie die DDR hinbekam. Das Land war besetzt von der Roten Armee; durch meine Heimatstadt liefen sowjetische Offiziere, von denen wir auf der Straße immer etwas zu schnorren versuchten: Schokolade (klappte selten) und Abzeichen (klappte nie). Wenn wir ins Nachbardorf fuhren, kamen wir an ihrer Kaserne vorbei. Viel näher dran an ihnen waren wir eigentlich nicht.

Ich erinnere mich an Panzerkolonnen, die unter meinem Kinderzimmerfenster vorbeischepperten, von einer Übung in der Heide zurückkehrend, wo schon die Wehrmacht geübt hatte und heute die Bundeswehr übt. (Das ist bloß eine Feststellung, die zwischen den Zeilen exakt so viel ausdrücken soll: gar nichts.) Panzergucken, das war für uns Kinder in dieser Straße irgendwann nichts Besonderes mehr.

Die Erwachsenen kommentierten das Geschepper ziemlich lapidar: “Ach, Kolja ist wieder unterwegs.” Den Iwan kannten wir nicht, den gab′s wohl nur im Westen. Bei uns hieß der Rotarmist Kolja. Sehr viel freundlicher war dieser Spitzname aber auch nicht.

Alf und die Offizierskinder

Einmal besuchten sowjetische Schüler, Kinder von Offizieren, die in der Kaserne am Rande der Stadt lebten, unsere Klasse. Jeder von uns saß einem von ihnen gegenüber. Und jeder von uns fragte einen von ihnen auf Russisch gleich mit dem ersten Satz: “Kennst du Alf?” Die Antwort, die jeder von uns bekam, war: “Njet.” Damit war einem Gespräch jede Grundlage entzogen. Sie kamen als Fremde und gingen als Fremde.

In meinem Pionierausweis stand damals:

Thälmann-Pioniere sind Freunde der Sowjetunion. Wir hüten und pflegen die Freundschaft mit der Sowjetunion, so wie es uns Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck lehren. Die Jungpioniere der Sowjetunion sind unsere Freunde, von ihnen wollen wir immer lernen.

Was sollte ich von jemandem lernen, der nicht einmal Alf kennt?

Ich weiß nicht, was diese Offizierskinder damals über uns dachten; hoffentlich dachten sie: “Diese Idioten!”

Heute, 23 Jahre später, ist mir die slawische Welt immer noch ein bisschen fremd.

Mein Sohn ist anders aufgewachsen. Als er zwei Jahre alt war, sind wir nach Odessa gezogen und haben ihn in einen städtischen Kindergarten gesteckt. Die nächsten 18 Monate hießen seine Freunde nicht Tim, Leo, Paul und Kevin, sondern Gleb, Wanja, Maxim und Jegor. Am ersten Kindergartentag verstand er kein Wort, eine Woche später fing er an zu sprechen, nach drei Monaten bestellte er nachts im Halbschlaf sein Wasser bei mir auf Russisch. “Waaaaaaaaaadietschka!”

Jetzt ist er fünf und spricht ohne Akzent. Ich verstehe wenig und lausche gierig.

Es gibt in Odessa ein sehr schönes Gartenrestaurant. Praktischerweise heißt es Datscha. Es ist ein bisschen teurer. Teurer heißt: Man bezahlt auch für etwas, das man sieht, aber nicht schmeckt. Draußen gibt es einen Spielplatz, eine Schaukel, Käfige mit Vögelchen darin und reichlich Gartenidylle. Drinnen steht auf dem Weg zur Toilette eine Badewanne. Einfach so.

Gestern habe ich meinen Sohn gefragt, ob wir in unserem Urlaub mal wieder zur Datscha fahren wollten.
“Datscha, Papa”, sagte er.

Datscha klingt bei ihm ungefähr so: Daaaad-dja. Darin steckt so viel mehr, das Wort riecht nach selbstgepflanzten Tomaten und Schaschlyk auf dem Grill, ich höre ein Bächlein plätschern oder das Schwarze Meer Wellen heranspülen, ich sehe so ein Häuschen sogar vor mir, mit Leinen voller Wäsche, Wasserpumpe und quietschendem Gartentor. Wenn mein Sohn Daaaad-dja sagt, dann ist das: rein in den alten Lada, raus aus der Stadt. So wird’s hier gemacht, in Odessa und anderswo: Alltag und Kummer zurücklassen, abschalten und erholen auf dem Fleckchen Land, das einem niemand nimmt.

Bei mir klingt Datscha wie Bungalow.

DVD

Mein Sohn und ich haben noch ein bisschen geübt.
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Daaaad-dja.”
Ich: “Datt-schah.”
Er: “Nee, Papa. D a a a a d – d j a.”

Seine Ohren müssen schmerzen, wenn er mein Russisch hört. Es klingt für ihn so wie für mich der Russe, den man im ZDF-Krimi dieses Klischeeslawendeutsch reden lässt: “Morgän iäch gähä inn Kinno.”

Mein Sohn kennt Alf auch nicht. Er lacht sich kaputt, wenn er Nu, pogodi! guckt, natürlich im Original.

Alle Sohn-Kolumnen:

Comeback-Kolumne: Oleg und die Leokonservativen

DSC_0015ODESSA/UKRAINE “Kann man euch denn nicht mal eineinhalb Jahre allein lassen?”, habe ich heute meinen Freund Oleg gefragt. Ja, vielleicht hat die Geschichte der Männerfreundschaften schon romantischere Wiedersehenssätze gehört. Andererseits: Mit Romantik hatten Oleg und ich es ja noch nie.

Oleg fragte zurück: “Was meinst du? Und vor allem: Was willst du in Odessa?”
“Es sind doch nur zwei Wochen.”

Was soll ich sagen? Ich war ja nie richtig weg. Ich habe mich seit meinem Abschied im November 2009 immer wie ein halber Odessit gefühlt. Mir fehlt die Stadt, ich weiß nicht genau, warum, es ist bloß so ein Gefühl. Denke ich an Odessa, passiert was in meinem Körper, ich spüre dann eine Art Stich oder ein Ziehen, irgendwo zwischen Kehle und Bauchnabel. Wahrscheinlich werde ich nur alt und sentimental.

Wenn ich an Berlin denke, wo ich jetzt lebe, sehe ich mich zur Arbeit radeln und die Hasen im Tiergarten herumhoppeln. Neulich habe ich dort einen Fuchs gesehen und es gleich allen Leuten erzählt. In Odessa hätte ein Fuchs in meinem Auto angeschnallt auf dem Beifahrersitz hocken und die CD wechseln können – Frau und Kind hätten das irgendwann mal von mir erfahren.

Kleines Kolumnistenkreuzverhör

“Es ist doch alles wie immer bei uns”, sagte Oleg und bestellte sich einen Kaffee.
“Oleg, mach doch mal die Augen auf.”
Oleg riss die Augen weit auf und nickte. “Na gut, fangen wir mal an”, sagte er.
“Womit?”, fragte ich.
“Kleines Kolumnistenkreuzverhör. Erstens: Beschreibe den Bus, der dich und die anderen Passagiere vom Flugzeug abgeholt und zur Passkontrolle gefahren hat.”
“Ich würde sagen: gelber Schwitzkasten, gezogen vom Führerhaus eines sehr alten Trucks.”Flughafenbus
“Zweitens: Wie lange hat die Passkontrolle gedauert?”
“Eine Ewigkeit.”
“Drittens: Wie lange hast du danach noch auf deinen Koffer gewartet?”
“Eineinhalb Ewigkeiten.”
“Viertens: Mit welchem Wort würdest du den Taxifahrer charakterisieren, der dich vom Flughafen weggebracht hat?”
“Nur ein Wort, Oleg?”
“Nur ein Wort, Kolumnist.”
“Gauner.”
“Fünftens: Beschreibe Odessas Straßen mit einem Wort.”
“Oleg, was soll das?”
“Ich stelle hier die Fragen. Also?”
“Löchrig.”
“Sechstens: Was mit Odessas schönen Frauen?”
“Kein Kommentar, Frau liest mit.”
“Siebtens: Was ist mit den Preisen?”
“Alles wird immer teurer, Oleg. Der Kaviar ist inzwischen in Berlin billiger als hier.”
“Na, du hast Sorgen, egal. Achtens: Wie ist übrigens das Wetter? Regnet’s? Ungewöhnlich kühl für Mitte Juli, findest du nicht?”
“Die Hitze bringt mich um. Ich flüchte vor der Sonne.”
“Neuntens, Schattenmann, vorletzte Frage: Was haben früher die Kassiererinnen in den Geschäften gemacht, wenn sie gerade etwas anderes zu tun hatten als arbeiten?”
“Sie haben das Schild Technische Pause vor die Kasse gestellt.”
“Und zehntens: Was machen die Verkäuferinnen heute, wenn sie gerade etwas anderes zu tun haben als arbeiten?”
“Schon gut, Oleg.”
“Du willst mir einreden, es habe sich bei uns was verändert, Comeback-Kolumnist. Ja?”

Ich hatte mit Oleg eigentlich ernsthaft über die politische Situation im Land nach dem Machtwechsel reden wollen. Seit dem 25. Februar 2010 ist Viktor Janukowitsch Staatspräsident. Ich habe die Ukraine seit meiner Rückkehr nach Deutschland, zugegeben, ein bisschen aus dem Blick verloren. Was in der Zeitung stand, habe ich natürlich gelesen. Es waren meist nur wenige Meldungen. So viel ist offenbar nicht mehr los in der Ukraine, seit ich weg bin.

Oma Julia

Wenn doch mal berichtet wird, geht es um drei Personen: um Klitschko, den Jüngeren, um Klitschko, den Älteren, und um Julia Timoschenko, die einstige Regierungschefin. Die schöne Julia trägt nicht mehr nur ihren berühmten Haarkranz, sondern jetzt manchmal auch eine Brille, die an ihr eher unvorteilhaft aussieht. Es ist mit Julia wie mit Oma: Ich sehe sie selten, und ich sehe sie deshalb altern.

Jedenfalls wird Timoschenko in Kiew gerade der Prozess gemacht, es geht um Amtsmissbrauch beim Abschluss eines Gaslieferabkommens mit Russland im Jahr 2009. Ich kann nicht beurteilen, ob die neuen Machthaber Timoschenko tatsächlich ins Gefängnis bringen wollen, um sie so für immer auszuschalten. Ich weiß auch nicht, ob der neue Präsident alle oppositionellen Kräfte im Land einschüchtern und die Meinungsfreiheit brechen will. Ich weiß nur: Um ein Land, in dem ausgerechnet jemand wie Janukowitsch den Anti-Korruptionskämpfer gibt, müsste man sich schon Sorgen machen.

Ein bisschen verstehe ich sogar, warum es Oleg kaum juckt, dass eine Politikerin, die in den neunziger Jahren auf dubiose Art schwerreich geworden ist, gerade ungerecht behandelt wird und eine “Justizfarce” erlebt, wie die Neue Zürcher Zeitung klagt. Noch der größte Verbrecher sollte das Recht auf einen fairen Prozess, schon klar, sehe ich genauso. Doch wenn alle drei bis vier Jahre ein anderer Politiker oben ist und den, der gerade unten ist, zur größten Gefahr des Landes erklärt, kann man als Bürger vielleicht auch abstumpfen und denken: Das klären die schon untereinander.

BrunnenUnd ich habe ja auch gerade genug andere Probleme: Mein Körper assimiliert sich nur zögerlich, ja er benimmt sich, als hätte ich ihn vom Berliner Winter direkt in die Sahara geschickt. Ich kann gar nicht so viel saufen, wie ich schwitzen muss. Einerseits hat es vielleicht damit zu tun, dass das kleine Mädchen vor zwei Jahren, wenn wir durch Odessa spaziert sind, immer im Kinderwagen saß – und jetzt auf meinen Schultern. Andererseits empfinde ich Odessa tatsächlich als anstrengend. Es ist so wahnsinnig laut, überall. Wenn die Fußgängerampel auf grün umspringt, gehe ich nicht los, sondern warte, bis die Autos wirklich gehalten haben. Und weil plötzlich alles wieder so furchtbar langsam geht, ob ich nun einkaufe oder mit dem Bus fahre, werde ich schnell ungeduldig.

Oleg hatte seinen Kaffee ausgetrunken, morgen Abend würden wir uns – der alten Zeiten wegen – vielleicht mal wieder mit Wodka duellieren. Aber das eine musste jetzt noch raus, ein letzter Versuch.

“Oleg, euer Ex-Verteidigungsminister ist in Untersuchungshaft und hat einen mehrtägigen Hungerstreik hinter sich.”
“Euer Ex-Verteidigungsminister ist auch verschwunden, scheint mir. Oder irre ich? Gab es bei dem nicht auch irgendwas zu untersuchen?”

“Ach Oleg, du hast mir gefehlt.”
“Ich kann nicht erkennen, dass ihr besser regiert werdet als wir”, sagte er. “Ihr kriegt es ja nicht mal hin, eure Leo-Panzer vernünftig an die Saudis zu vertickern.”

Ich schwieg. Die Kanzlerin will’s doch so.

Kolumne: Oleg und das Ende des Kolumnismus

ODESSA/UKRAINE Wenn ich das nächste Mal in die Ukraine komme, bringe ich 5000 Kinder-Laufräder mit, mindestens, und werde Millionär. Ich verstehe rein gar nichts von Existenzgründereien, traue mir aber durchaus eine einfache Marktanalyse zu: Nachfrage riesig, Angebot null, folglich auch keine Konkurrenz. Ich hätte das Monopol. Seit einem Jahr fährt mein Sohn mit seinem Laufrad aus Deutschland durch Odessa – und er wird bestaunt von allen. Die Jungen sind neidisch und betteln, bis sie mal Probe fahren dürfen. Väter erkundigen sich, wo es ein solches Gefährt ohne Pedalen zu kaufen gebe. Die Mädchen kriegen weiche Knie. Mein Sohn ist auch nicht gerade schüchtern oder uneitel. Wenn er fährt, imitiert er, brummend, schnaubend, röhrend, sabbernd, Motorradgeräusche, 1000 Kubik aufwärts. Das ist im Groben mein Businessplan, so etwas braucht man ja heutzutage, um Investoren zu finden.

Laufrad mit blinden Passagieren
Die Einzelheiten meines Unternehmens – Transport, Genehmigungen aller Art, Vertrieb – müssten noch geklärt werden. Aber um mir das Copyright zu sichern, dass nur ich mit Laufrädern in der Ukraine handeln darf, müsste das genügen. Meinem Freund Oleg würde ich gern einen Posten versprechen. Er hat sich auch schon beworben, initiativ sozusagen, mit vagen Arbeits-, aber umso genaueren Gehaltsvorstellungen, schnelle Griwna, natürlich gekoppelt an den Euro. Leider kann ich mir nur einen Unfähigen leisten.

Vorhin hat mich Oleg besucht. „Was ist so wichtig, dass es nicht bis morgen warten kann, Kolumnist?“, fragte er.
„Komm rein.“
„Oh, du ziehst um?“
„Setz dich.“
„Sehr witzig.“
„Denk dir ‘nen Stuhl.“
„Ist dir die Gegend nicht mehr fein genug?“, fragte Oleg und lehnte sich dort an die Wand, wo bis vor ein paar Stunden noch der große Spiegel gehangen hatte.
„Ick zieh nach Berlin, wa.“
Oleg schluckte zweimal. „Ab wann?“, fragte er.
Ich suchte meinen Zettel mit den Flugdaten, ließ das Papier rascheln und stammelte: „Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort, unverzüglich.“
„Der 9. November ist also das Ende des Kolumnismus?“, fragte Oleg.
„Es sieht so aus“, sagte ich.
„Na ja, es wird auch Zeit. Vierzig Kolumnen…“
„…vierundvierzig, Oleg, vierundvierzig…“
„…nur gelogen und betrogen.“
„Aber es waren doch nicht alle schlecht.“

Schaschlik im Regen

Wir schwiegen eine Weile miteinander. Ich trank mein letztes ukrainisches Bier, Oleg blieb bei Wodka. Er rauchte und klopfte die Asche auf den Boden.
„Wo wirst du eigentlich wohnen in Berlin?“, fragte er.
„Charlottenburg.“
„Charlottograd. Sehr schön.“
„Es gibt am S-Bahnhof Charlottenburg ein russisches Geschäft, es heißt Glücklicher Tag, und selbst bei Regen und Kälte wird draußen Schaschlik gegrillt.“
„Kenn ich“, sagte Oleg, „mein Freund Sascha, echter Odessit wie ich, wohnt auch in Charlottograd. Ich gebe ihm deine Telefonnummer!“

Russischer 24-Stunden-Markt am S-Bahnhof Charlottenburg

Mit Olegs Freunden ist das so eine Sache. Ich habe nicht die besten Erfahrungen gemacht. Ich hätte zum Beispiel nicht gedacht, dass es auf dieser Welt einen Mann gibt, der anstrengender ist als mein Freund Oleg. Dann habe ich vor ein paar Wochen Juri kennen gelernt. Juri ist Olegs Freund in Kiew. Oleg hatte ihn beauftragt, mich vom Flughafen Borispol abzuholen und zum Hotel zu bringen. Juri sei ein guter Typ, hatte Oleg gesagt. Juri wartete an seinem Auto und telefonierte wie diese Kino-Kriminellen, indem er beim Sprechen eine Hand vor den Mund hielt. Dann schlug er mir mit seiner Riesenhand auf den Rücken, als würden wir uns schon Jahre kennen.
„Hab viel von dir gehört, Kolumnist“, sagte er.
„Hoffentlich nur Gutes.“
„Auch.“

Sozialismus oder Stau

Juri steckte in einem dieser glänzenden Anzüge, in denen man sich fast spiegelt, hatte ein Handtäschchen dabei und trug eine Riesenuhr. Sein Kreuz war sehr beachtlich. Juri fuhr mit quietschenden Reifen los und legte gleichzeitig eine CD von Rammstein ein. Dann grunzte er mit.
„Wenn du’s nicht magst, sag’s einfach“, sagte er. „Ich habe auch Modern Talking.“

Zehn Minuten später standen wir. Vorne und hinten, natürlich auch seitlich, wurde gehupt. Juri ließ die Hupe kurz los und fragte: „Hast du was gesagt?“
„Stau?“
„Das ist kein Stau.“
„In Odessa ist auch immer Stau.“
„Das ist kein Stau! Hörst du: kein Stau! Vielleicht wäre das in deinem Odessadorf ein Stau, aber Kiew ist eine Metropole, und deshalb ist das hier definitiv kein Stau. Wäre heute Stau, stünden wir an der Schranke vom Parkplatz des Flughafens.“
„Entschuldige.“
„Schon gut“, sagte Juri und hatte plötzlich wieder gute Laune. „Früher war in Kiew weniger Verkehr. Da hatte nicht jeder Depp ein Auto. Na ja, Sozialismus oder Stau, man kann nicht alles haben.“
Juri drehte Rammstein abermals lauter, trommelte mit beiden Daumen aufs Lenkrad und brüllte den Refrain mit, ohne dass ich etwas verstand.
„Nun guck dir mal diesen Penner an“, sagte er und zeigte auf die Mittelspur. Er ließ die Scheibe herunter und schrie: „Der Porsche Cayenne ist ein Frauenauto. Ein Frau-en-au-to! Der Kolumnist macht dich fertig.“

Bis zum Hotel beleidigte Juri noch zwei Cayennefahrer, er ließ den Japaner aufheulen, wenn junge Kiewerinnen die Straßen überquerten, und meinte entschuldigend, er flirte nun einmal gerne, zwischendurch telefonierte, aß und rülpste er. Manchmal tat er all dies auch gleichzeitig. Am Ende aber holte er mir meine Reisetasche aus dem Kofferraum, weil ich, wie er sagte, ein bisschen blass aussähe.

„Sind 10 Euro, okay?“, fragte ich aus Höflichkeit.
„Hey, du bist Olegs Freund“, sagte Juri.
„Bin ich.“
„20.“
„15.“
„25.“
Da wusste ich, dass Juri einer dieser Leute ist, für die man das Wort „gerissenhaft“ erfinden müsste. Vom Hotel zum Flughafen drei Tage später bin ich mit dem Taxi gefahren; das war billiger.

Mein Sohn, das neunmalkluge Dickerchen

„Was ist jetzt?“, fragte Oleg. „Soll ich Sascha deine Telefonnummer geben?“
„Gib mir seine, ich ruf ihn bestimmt an.“
„Wirst du Odessa gar nicht vermissen?“

Wahrscheinlich werde ich erst in Deutschland spüren, wie sehr ich mich an die Ukraine gewöhnt habe. Ich muss einiges neu lernen. Ich darf wieder Wasser aus dem Hahn trinken. Ich darf nicht irgendwo Busse anhalten, wenn ich mitgenommen werden will. Noch aber halte ich Bushaltestellen für eine vollkommen unsinnige Erfindung. Sollte ich von der Polizei kontrolliert werden, darf mir nicht einfallen, die Beamten bestechen zu wollen. Andererseits wird es sich toll anfühlen, wenn ich ins Auto steige, ohne vorher im Kopf durchzuspielen, auf welcher Straße heute Polizisten herumlungern, um Schmiergeld zu kassieren.

Um meinen Sohn mache ich mir kaum Sorgen. Er wird in Berlin einen russisch-deutschen Kindergarten besuchen, in dem zwei der drei Erzieherinnen aus der Ukraine stammen. Er bekommt weiterhin drei warme Mahlzeiten in acht Stunden – morgens Brei, mittags Suppe und Hackbällchen mit Püree, nachmittags irgendetwas Öliges, das nach Ei schmeckt – und hat einmal pro Woche Schachunterricht. Da ist der weitere Lebensweg schon einmal grob vorgegeben, es läuft hinaus auf: neunmalkluges Dickerchen. Mit sehr viel Glück reicht es zum Schachweltmeister. Aber sollte in 25 Jahren ein schlanker Deutscher einem dieser Genies aus Russland, Usbekistan oder sonst woher den Titel abjagen, können Sie sicher sein: Mein Sohn ist es nicht.

Eines fernen Tages werde ich – hoffentlich angemessen senil – auf Familienfeiern die alten Geschichten hervorkramen, bis die Kinder und Enkel flüstern: „Ach, Opa erzählt schon wieder von der Ukraine.“ Dann bringen sie mir ein großes Glas Nemiroff oder irgendeinen anderen Wodka, der mich an Odessa erinnert und ein bisschen wehmütig macht, streicheln mir über die Glatze und sagen: „Hattest es nicht leicht, damals. Trink mal einen! Und dann erzählst du, wie Oleg deine Klotür reparieren sollte oder wie ihr deinen 31. Geburtstag gefeiert habt.“
„Der hieß nicht Oleg!“, werde ich brüllen. „Der hieß, äh, der hieß…äh…was weiß ich, Justin oder so, ist auch egal. Aber ein toller Kerl war das. Solche Männer gibt es heutzutage gar nicht mehr.“

Ikonenfachhandel in der Kaiser-Friedrich-Straße (Charlottenburg)
Oleg schraubte die Wodkaflasche zu und packte sie in seinen Rucksack. Er band sich die Schuhe zu und sagte: „Gib wenigstens zu, dass du keine Ideen mehr hast für neue Kolumnen.“
„Ach Oleg, ich habe zum Beispiel noch nie erzählt, wie das war, als mich fünf afrikanische Journalisten in Schwerin besucht haben und plötzlich mein Tisch mit dem Rotwein, dem Bier und dem Abendessen auf dem Hof zusammengebrochen ist. Schade um die schöne Geschichte. Ein Kolumnist soll aufhören, wenn’s am witzigsten ist.“
„Dann hättest du aber nach der ersten Kolumne Schluss machen müssen.“

Wir versuchten uns zu umarmen, aber das misslang uns natürlich. Wie hätte es auch anders sein sollen? Oleg stand schon in der Tür und ging nicht. Ich hatte die Klinke schon in der Hand und machte nicht zu. Es war einer dieser Augenblicke, die einem so unendlich lange vorkommen, wenn man sie gerade erlebt, und deren Wucht trotzdem so schnell vergessen ist. Dann ging Oleg die Stufen hinunter, ganz leise, so dass seine Schritte kaum zu hören waren.
„Weißt du“, rief ich hinterher, „ich freue mich sosehr auf meine neue Aufgabe. Das ist eine tolle Herausforderung, ein spannendes Projekt. Do swidanija!“
„Für einen Kolumnisten ist das ein ziemlich armseliger Schluss.“
„Ich weiß, mein Freund, ich weiß. Aber mir fällt kein besserer ein. Mach’s gut.“
Oleg drehte sich noch einmal um und fragte: „Darf ich das letzte Wort haben?“
„So weit kommt’s noch, Oleg.“

Alle Oleg-Kolumnen:

Kolumne: Oleg und die goldenen Elefanten

ODESSA, UKRAINE Wenn es um ein Geschenk für sie geht, bin ich wenig erfinderisch. Ich schenke fast immer Ohrringe. Manchmal habe ich den Verdacht, dass sie ihre Ohrringe nur so regelmäßig und überdies pünktlich vor irgendeinem Fest verliert, damit ich überhaupt ein Geschenk finde. Falls ich gerade eine kreative Phase habe, bekommt sie auch mal Konzertkarten oder ein Buch. Kreative Phasen sind – zumindest, was mich betrifft – rar, in diesem Jahr hatte ich jedenfalls keine. Weil mir bis zum Vorabend ihres Geburtstages außer Ohrringen nichts eingefallen war, das ich hätte schenken können, rief ich meinen Freund Oleg an und fragte, ob ihm vielleicht etwas einfalle.

„Puuuh, schwierig”, sagte er. „Ich kenne mich mit Frauen zwar sehr, sehr, sehr gut aus, ich könnte dir Sachen erzählen, da würdest du neidisch …”
„Oleg, wir müssen die Märchenstunde verschieben, die Geschäfte schließen gleich. Bitte.”
„Ich hab’s. Wie wäre es mit Ohrringen?”
„Hmm, du meinst also auch, dass das eine gute Idee ist?”
„Die Idee ist nicht gut, mein Lieber, die ist brillant. Diamonds are a Kolumnistengirl’s best friend.”
„Kommst du mit und hilfst mir?”
„Ich bin gerade auf dem Klo und mache einen Upload.”
„Das höre ich. Beeil dich bitte.”
„Ich studiere gerade das Internet-Manifest mit den 15 Thesen der 17 Journalisten oder umgekehrt, ist ja auch egal.”
„Auf dem Klo?”
„Ich hab’s mir ausgedruckt.”
„Und?”
„Upload läuft”, sagte Oleg und war wegen der Von-innen-nach-außen-Geräusche kaum zu verstehen.
„Ich meine das Internet-Manifest.”
„Ich verstehe diese Manifestischisten leider nicht, mein Deutsch ist zu schlecht.”
„An deinem Deutsch liegt das sicher nicht.”
„Das habe ich mir auch schon gedacht. Die russische Version ist nicht besser.”

Eine Stunde später betraten Oleg und ich das größte Schmuckgeschäft in Odessas Zentrum. Unterwegs hatten wir verabredet, dass er die Verhandlungen führe, er hatte darauf bestanden und mir jedes Geschick abgesprochen. Man müsse sich in eine Schmuckverkäuferin unbedingt hineinfühlen können.
„Guten Tag, zeigt uns mal die teuersten Klunker, die ihr für Lauscher habt!”, sagte Oleg und beobachtete, wie die Verkäuferin Schublade um Schublade aufzog und Tablett um Tablett auf die Vitrine legte. Mit Mühe konnte ich an den Ohrringen die Preisschnipsel lesen: Es waren fünf Zahlen vor dem Komma. Oleg flüsterte, ich solle mir keine Gedanken machen, dies seien die Preise in Griwna, und winkte mit der Hand. „Mehr, mehr, Geld spielt keine Rolle.”
„Oleg, lass das!”
„Ja, was denn? Liebst du sie?”
„Natürlich”, sagte ich.
„Na also!”
„Bin ich Martenstein?”

Ich hatte mich dem Schmuckladen mit eher vagen Vorstellungen genähert: Gold oder Silber sollte es sein, bezahlbar sowieso, aber ich wollte nicht diesen Glitzerkitsch, der an zu vielen Odessaohren hängt. Bei Reinheit und Gewicht war ich kompromissbereit, da ich von beiden Dingen ohnehin nichts verstehe. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Wünsche die Auswahl derart einschränken würden. Was ich sah, war Schmuck, dessen Preis sich gewissermaßen umgekehrt proportional zum Aussehen verhielt: Je teurer, desto unschöner.
Oleg war als Berater auch keine Hilfe. Die Verkäuferin hatte mittlerweile so viele Ohrringe verteilt, dass der Ladentisch aussah, als wäre eine Horde ukrainischer Oligarchen eingefallen, um für die Geliebten einzukaufen. Der Uniformierte mit der Maschinenpistole, der auf einem Hocker in der Ecke saß, wurde allmählich unruhig. Gerade hatte er noch gedöst, jetzt streichelte er seine Waffe und schaute uns übellaunig an. Wir hatten ihn geweckt.

„Ich kann mich nicht entscheiden, Oleg, ich müsste sie am Ohr sehen.”
„Nun mach schon.”
Ach, wenn doch Axel noch in Odessa wäre. Axel würde einfach seinen Ohrring rausnehmen und einen von diesen schnell reinhängen.”
„Axel, Axel, Axel, ich kann diesen Kerl langsam nicht mehr ausstehen”, schrie Oleg. „Hör zu Kolumnist, dann nehmen wir jetzt die zwei goldenen Elefanten mit den Steinchen am Rüsselende.”
„Oleg, ich hänge ihr keine Elefanten an die Ohren.”

Der Aufpasser mit der Maschinenpistole erhob sich von seinem Hocker und kam auf uns zu, stellte sich hinter mich und zischte.
„Ich kann die Elefanten runterhandeln”, sagte Oleg. Seine Stimme wurde immer tiefer.
„Ich glaube, wir sollten schnell gehen.”
„Bleib doch ruhig.”
„Ich weiß natürlich nicht so genau, was du so treibst, wenn du ohne mich bist, aber ich kann dir verraten, dass mich eine so große Waffe in meinem Rücken erheblich irritiert. Ich kann mich nicht konzentrieren.”
„So schnell wird in der Ukraine niemand mehr erschossen. Wir leben ja nicht mehr in den Neunzigern. Außerdem krieg ich die Elefanten locker auf 14000 Griwna runter, mein klammer Kolumnist.”

Seit einer Weile schon überschätzt Oleg meinen Kontostand und meinen Einfluss gewaltig. Wenn wir irgendwo etwas essen oder trinken, versucht er gar nicht erst, die Rechnung zu bezahlen. Er blickt auch nicht verschämt zu Boden oder bedankt sich wenigstens für die Einladung. Ich glaube, er hält mich für eine Mischung aus  Oleg Popow und Rinat Achmetow, für einen Clownigarch sozusagen. In Wahrheit bin ich so vermögend und fröhlich wie ein ukrainischer Straßenpolizist, der schon lange kein Schmiergeld kassiert hat. Und es wird ja auch um mich herum alles teurer. Zum Beispiel besucht mein Sohn – zusätzlich zum Kindergarten – zweimal in der Woche eine Art Musikschule. Ich weiß nicht genau, was er dort macht, aber er macht es gern. Die Musikschule ist in den vergangenen sechs Monaten dreimal umgezogen. Nach jedem Umzug haben mir die zwei Lehrerinnen erzählt, sie würden jetzt noch weniger Miete zahlen, um Sekunden später zu verkünden, die Teilnahme koste jetzt ein bisschen mehr. Ich bin kein Wirtschaftsexperte, aber ich erkenne durchaus, dass da irgendetwas nicht stimmt. Der Musikschule scheint es gut zu gehen. Die beiden Erzieherinnen haben sogar eine weiße Ratte mit roten Augen und einem langen Schwanz gekauft, und weil mein Sohn gerade dabei ist, sich mit ihr anzufreunden, kann ich ihn schlecht abmelden.

Wahrscheinlich hätte ich die Ohrringe in Deutschland kaufen sollen. Fast alles, was es in der Ukraine gibt, ist in Deutschland günstiger und qualitativ hochwertiger. Die Ausnahmen, die mir auf Anhieb einfallen, sind Kartoffeln und anderes Zeug, das dicke Frauen auf dem Priwos-Markt verkaufen. Mit Schmuck habe ich es ohnehin nicht so, ich trage bloß meinen Ehering. Mein Sohn ist da ganz ähnlich. Neulich wollten wir einer Alten vor der Kirche ein paar Griwna zustecken, gerieten dabei aber in ein ausgiebiges Gespräch. Irgendwann befahl sie mir, meinem Sohn eine dieser Ketten mit Kreuz zu kaufen, die es in der Kirche für jene paar Griwnas gab, die ich ihr zugesteckt hatte. Danach befahl sie meinem Sohn, sich die Kette umzuhängen, doch er weigerte sich mit dem Hinweis, nur Mädchen würden Ketten tragen. Sogleich befahl die Alte allen Männern, die an uns vorbei in die Kirche gingen, ihre Brust frei zu legen.
„Siehst du, auch Männer tragen Ketten”, sagte die Alte schließlich.
„Aber nur komische Männer”, sagte mein Sohn.
„Wer sagt das?”, fragte sie.
„Papa.”

Nachdem sich der Aufpasser mit der Maschinenpistole, die näher zu kommen schien, zum dritten Mal geräuspert hatte, drehte sich Oleg um und legte seinen Zeigefinger auf die Lippen, widmete sich dann wieder der Verkäuferin, deutete auf mich und sagte: „Er nimmt die Elefanten. Machen Sie die beiden bitte zum Abtransport fertig, aber schön bitte, die haben morgen einen großen Auftritt. Törö!”
„Oleg, ich kann mir diese Elefanten nicht leisten, denk an die Ratte im Musikgarten.”
„Erwarte bitte kein Mitleid von einem Ukrainer. Ich wäre froh, wenn ich nur eine Ratte durchfüttern müsste.”

Ich griff irgendein Paar Ohrringe, das nicht nach einem Tier aussah, und bezahlte. Ich hoffe, sie freut sich trotzdem.

Mein Opa sagt manchmal, die größten Arschlöcher bekämen immer die besten Frauen. Da ich mich selbst nicht für ein Arschloch halte, muss ich sehr viel Glück gehabt haben.

Kein Erdbeben in Odessa

ODESSA, UKRAINE Sonntagmorgen, halb sechs: Die Wohnung ist ohne Strom. In den vergangenen fünf Tagen, meist am Nachmittag, ist er immer mal wieder verschwunden gewesen. In einigen Cafés in Odessas Zentrum sind Gäste gar nicht bedient worden.

So ein Aufbruch in den freien Tag mit Kerze im Bad, kalter Dusche, Kaffee vom Gasherd, harten Brötchen und einer Tüte Vanilleeis, das im Gefrierschrank langsam schmilzt, ist natürlich nicht zu verachten. (Die Krabben hinter dem Eis sollen mir erst später einfallen.) Nachdem Bob der Baumeister zur Freude meines Sohnes einen Unterstand für Heppo und ein Lager für die Strohballen von Bauer Gurke gebaut, dabei aber den Akku des Laptops vollständig geleert hat, ziehe ich in die Stadt, um in einem Café Strom zu schnorren, die Elektropost zu lesen und vielleicht etwas zu speisen.

Der größte Generator steht in der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße, vor der Restaurantkette “Top Sandwich”:

Angeber! Deshalb schmeckt das Essen dort nicht besser.

Im Café “Kompott” ist Schnitzel im Baguette wegen des Stromausfalls aus, Blinschiki mit Hackfleisch gibt es seltsamerweise, Steckdosenstrom wiederum nicht, Licht allerdings schon, die Kellnerin weiß nichts Genaues, bringt heiße Milch zum heißen Kaffee und am Ende eine am Computer erstellte Rechnung, verstehen muss man das aber nicht.

Der Schnellimbiss, schräg gegenüber, ist ganz dicht.

Im Kaufhaus “Europa”, wo ich ein paar Kerzen kaufen will, es scheint ja was Ernstes zu sein, fährt der Aufzug nicht. Odessas Aufzüge fahren sonst immer, selbst wenn gerade kein Strom da ist. Die Rolltreppen stehen auch still. Einer der Wachmänner, befragt, warum die gesamte Innenstadt ohne Strom sei, sagt: “Das ist eine Vorsichtsmaßnahme. Es gibt eine Erdbebenwarnung.”
“Und wann ist der Strom wieder da?”
“Zwischen fünf und sechs.”

Mittagessen zu Hause: Krabben an kalter Vanillesoße sind nicht unköstlich.

Ich glaube das mit der Erdbebenwarnung tatsächlich, kann mich aber trotzdem nicht vom Mittagschlaf abhalten. Ich albträume, ich verpasste am Abend das Kanzler-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, weil es ja ohne Strom keinen Live-Stream gibt.

Nach dem Aufwachen gibt es nach wie vor kein Licht in der Wohnung. Aber sie ist noch da. Auch die Nachbarhäuser stehen. Das Akku meines Mobiltelefons ist leer. Ich überrede mich zu einem Spaziergang. Die Stadt ist ruhig, nur hie und da brummen Generatoren. Die Türen vieler Geschäfte stehen offen, drinnen ist aber nichts als Finsternis.

Generatoren bei der Sonntagsarbeit
Generatoren bei der Sonntagsarbeit

Ist das wertvolle Leben längst evakuiert? Sitzen die Oligarchen in einer unterirdischen Höhle und warten mit Leuten aus der Stadtverwaltung, mit Wissenschaftlern und Kulturschaffenden das Erdbeben ab, um aus den Trümmern ein neues Odessa aufzubauen – schöner und gerechter als das alte? Warum bin ich nicht ausgewählt worden? Waren meine Kolumnen nicht witzig genug? Jede Stadt braucht doch einen Hofnarr. Oder habe ich vielleicht einmal zu oft den Film “Deep Impact” gesehen?

Auf einmal leuchten die Ampeln wieder, und ich denke sogleich: Wie gut, dass wir heute Sonntag haben und das Erdbeben nicht am Montag nicht ausgebrochen ist – ohne Ampeln wäre das Verkehrschaos sonst gewaltig gewesen.

Das Kanzler-Duell im Live-Stream: Nach einer halben Stunde wünsche ich mir, der Strom würde ausfallen.

Ich entdecke die Meldung auf der Homepage der Stadt vom Freitagnachmittag, dass heute nur von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr abends am Heizkraftwerk herumrepariert werde:

Размещено: 11.09.2009 15:04:10
Оповещение Центрального РЭС

13 сентября с 06:00 до 17:00 в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны будет отключена электроэнергия
Центральный РЭС доводит до сведения населения, что 13 сентября 2009г. в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов будет отключена электроэнергия

с 06:00 до 17:00
от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны.

Телефон для справок: 705-26-00, 7-144-144.

Kolumne: Mein Sohn und der Willismus

ODESSA, UKRAINE Heute bin ich zum ersten Mal im Leben zur Maniküre gegangen. Mittlerweile sollte es ja bekannt sein, aber ich schreibe es sicherheitshalber noch einmal: Ich bin ein Mensch mit sehr, sehr, sehr vielen Vorurteilen – freilich ohne Geilheit aufs Vaterland oder gar Hass auf Fremde, denn beides führt erwiesenermaßen oft zu früher Hohl- und Kahlköpfigkeit. Eines meiner Vorurteile besagt: Männer machen Maniküre nur, wenn sie mit anderen Männern gern Händchen halten. Da ich aber in der Ukraine vieles versuche oder zum ersten Mal tue – Auto demolieren lassen, aus der Mietwohnung geschmissen werden, Marschrutka-Unfall überleben, selber Antibiotikum in die Pobacke spritzen, auf Stalingradkrücken laufen -, hatte ich mich zur Maniküre begeben. Das Wagnis war auch finanziell überschaubar: Die einstündige Behandlung kostete weniger als sechs Euro. Trotzem würde ich nicht sagen, dass ich mich besonders toll gefühlt hätte – nicht davor, nicht dabei, nicht danach.

Mein Sohn ist mit seinen drei Jahren unbefangener, er macht sich überhaupt weniger Gedanken und ist ein Assimilationstalent. Wüsste ich es nicht besser, würde ich ihn für einen Odessiten halten. Er ist ein Autonarr und erkennt auf der Straße alle Marken: Chevrolet, Lexus, Porsche, Hyundai, Lada, Volkswagen, Mercedes, Opel, Mitsubishi, Toyota. Und sein Russisch ist inzwischen fast besser als meines – anders gesagt: Er redet zwar weniger, dafür aber spricht er schnell, richtig und akzentfrei. Gestern waren wir im „Antoschka”, einem vierstöckigen Tempel für Kinderbedarf und vor allem -unbedarf in Odessas Zentrum. Ich wollte ihm ein Hemd oder wenigstens ein T-Shirt kaufen. Leider hat mein Sohn, was Mode betrifft, nicht meinen Geschmack. Dass er überhaupt Geschmack hat, behaupte ich, weil es mir sonst wehtäte.

Er griff sich drei Achselshirts, also ganz besonders bunte Unterhemden, und ließ sich auf keine Diskussion ein. Ich erinnerte mich, wie seine Kindergärtnerin bereits am ersten heißen Tag in Odessa von mir verlangt hatte, Achselshirts zu kaufen – genau solche wie alle anderen Mädchen und Jungen seiner Gruppe trügen. Prinzipiell bin ich zwar der Meinung, Männer sollten nur Unterhemden tragen, wenn sie aussehen wie der Schauspieler Bruce Willis in einem der ersten drei Teile von „Stirb langsam”. Die meisten Achselshirtträger riechen ja nur gleichwertig. Ich weiß allerdings auch, dass ich mich nicht beklagen sollte, alles könnte weitaus schlimmer sein. Meine Tochter ist noch zu klein, um Kleiderwünsche zu formulieren, sie lässt sich anziehen, was mir gefällt, und jedes Mal, wenn ich sehe, was Odessas Frauen tragen – oder besser: nicht tragen -, schätze ich mich glücklich und gelobe, mir Gejammer für später aufzuheben.

Als Gegenleistung für die Unterhemden schlug ich einen Friseurbesuch heraus. Praktischerweise gibt es im „Antoschka” einen Salon. Als ich klein war, saß ich in einer parfümierten Dunkelkammer auf einem Holzbrett, das der Friseurmeister K. über die Armlehnen des Ledersessels gelegt hatte, um mich im Spiegel sehen zu können oder sich nicht allzu sehr bücken zu müssen. Auf den Stühlen ringsum saßen schrecklich alte Männer, deren Haare von einer Überdosis Birkenwasser klebrig glänzten. Immer bekam ich einen so genannten Rundschnitt, der auch so aussah. „Rundschnitt” nannte es der Friseurmeister K., „Rundschnitt” sagten meine Eltern, „einmal Rundschnitt, bitte!”, verlangte ich. Erst später habe ich erfahren, dass es in meiner Kleinstadt auch andere Jungsfrisuren gab – also eine andere, um genau zu sein. Man nannte sie “Igel” und bezahlte erstaunlicherweise dafür.

Mein Sohn aber saß in einem Formel-1-Auto und schaute „Tom&Jerry”, während eine sehr attraktive Frau, etwas jünger als ich, seine Haare schnitt. Ich war der Älteste weit und breit und konnte gerade noch verhindern, dass ihm ein Zeichen in den Hinterkopf rasiert wird. Mein Sohn hatte zunächst das Ferrari-Pferd gefordert, sich dann aber auf einen Mercedes-Stern herunterhandeln lassen. Danach jedoch war ich machtlos. Mit dem Hinweis, dies sei modern, ließ die Friseurin die Haare im Nacken lang und föhnte nur ein bisschen darin herum. Mein Sohn trägt jetzt Vokuhila.

“Du siehst aus wie MacGyvers Sohn”, sagte ich.
“Ist das schlimm, Papa?”
“Du kennst MacGyver nicht, oder?”
“Nein.”
“Ja gut, er baut manchmal mit seinem Schweizer Messer und dem Klebeband ganz tolle Sachen”, sagte ich.
“Mehr als Bob?”, fragte mein Sohn.
“Bob? Welcher Bob?”
Bob der Baumeister.”
“Gegen den ist MacGyver ein Pfuscher.”
“Papa, ich will nicht aussehen wie ein Geiwer, ich will lieber aussehen wie Bob.”
“Du bist zu jung, um dir die Haare zu färben.”
“Aber dann kaufst du mir Schnabelschuhe, ja? Wladik und Gleb und Sascha und Kolja haben auch welche.”
“Schnabelschuhe sind schlecht für die Zehen.”

Schnabelschuh

“Wladiks Papa hat auch Schnabelschuhe”, sagte mein Sohn.
“Glebs Papa auch?”
“Ja, und Saschas Papa und …”
“Nein.”
“Bitte, Papa!”

Vor zwei Wochen brachte mein Sohn mal wieder frische Fotos aus dem Kindergarten mit. Auf dem einen Bild sitzt er auf der Motorhaube eines Polizeiautos mit kalifornischem Kennzeichen, auf dem anderen auf einer Blumenwiese mit künstlichen Kennzeichen. Identisch sind auf beiden Bildern Sitzhaltung, Gesichtsausdruck und Frisur meines Sohnes. Zwar hat er – anders als bei der ersten Lieferung Kindergartenfotos vor einem Jahr – diesmal einen Hals, aber seine Locken fehlen. Offenbar passten sie nicht in die Vorlage, in die er per Fotobearbeitungsprogramm kopiert werden musste. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig es ist, Kinder zu fotografieren. Ich frage mich trotzdem, warum es so aussehen muss, als hätte mein Sohn ein verleimtes Gebiss im Mund. Ich glaube nicht, dass es seine Zähne sind, die ich da sehe, aber herrlich weiß sind sie in jedem Fall. Wahrscheinlich tragen Wladik, Gleb, Sascha, und Kolja dieselben auf ihren Fotos – statt der schwarzen Stummel, die in Wirklichkeit zu ihnen gehören. Viele ukrainische Eltern sehen es nämlich so: Es lohnt sich nicht, Milchzähne zu putzen, sie fallen ja sowieso wieder aus.

Ich bekomme noch immer einen Rundschnitt, ich bin nie zum Igel gewechselt, ich gehe bis heute ungern zum Friseur, ich verstehe auch nicht, warum Leute, speziell Frauen, es gerne tun. Ich bitte immer erst um einen Termin, wenn die Rundschnitterneuerung nicht mehr aufzuschieben ist, weil die Haare vom Kopf bereits mit den Haaren aus den Ohren koalieren. Ich werde meinem Sohn keine Schnabelschuhe kaufen – eher gehe ich zur Pediküre.

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Kolumne: Ferien mit Oleg

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg ist ein Muttersöhnchen. Ich habe gar nichts dagegen, dass Männer ein vernünftiges Verhältnis zu der Frau haben, die sie auf die Welt gebracht hat. Aber vier Telefonanrufe pro Tag halte ich für einigermaßen unvernünftig. Riefe ich meine Mutter auch nur zweimal pro Woche an, würde sie einen der schlimmeren Psychologen Odessas auf mich ansetzen. Und meine Mutter lebt 2000 Kilometer entfernt, in einem anderen Land, sogar in einer anderen Zeitzone.

Den ersten Anruf machte Oleg am Freitagnachmittag, während ich den Motor startete, um uns zur Basa Otdycha in der Nähe der Hafenstadt Juschnij zu bringen. „Mama, wir fahren jetzt los, bisschen ausspannen, ich meld mich später…klar weiß der Kolumnist, wohin wir müssen”, sagte Oleg, verabschiedete sich und fragte dann mich: „Kennst du den Weg?”
„Gute Frage”, sagte ich.
„Schlechte Antwort”, sagte Oleg.
„Wird schon.”
„Glaub auch.”

Natürlich sind wir umhergeirrt. Oleg will im Auto keine Straßenkarten lesen, weil ihm davon schlecht würde, und ich kann so etwas ohnehin nicht, nicht mal in meiner Wohnung. Mein Orientierungssinn würde es gerade noch schaffen, mich auf einem Bauernhof zum Kuhstall zu navigieren. Dummerweise lebe ich mit dieser Schwäche im denkbar ungünstigsten Land Europas. Wenn ich von Odessas Zentrum zum Flughafen fahre, bin ich 20 Minuten unterwegs. Auf der gesamten Strecke ist der Flughafen einmal ausgeschildert – ziemlich am Anfang, und zwar dort, wo es geradeaus geht. Dass man nachher noch fünfmal abbiegen muss, um ans Ziel zu gelangen, wird als Wissen vorausgesetzt. Da Oleg und ich auch nicht die Typen sind, die rechts halten, die Scheibe herunterlassen und einen Ortskundigen befragen, wurden aus geplanten und geschätzten fünfzig Kilometern am Ende neunzig. In den kurzen Pausen war ich zu erschöpft gewesen, um ihn zu erwürgen, und Oleg hatte keine Hand freigehabt, weil er mit seiner Mutter telefonierte.

Die Basa Otdycha war eine Bungalowsiedlung dicht am Strand. Eine der Köchinnen stellte uns noch ein Abendessen hin und sagte schließlich, ehe sie den Speisesaal verließ, in dem um kurz nach neun nur noch Oleg und ich saßen: „Erholt euch gut.”
„Hoffentlich haben die hier keine Plumpsklos”, flüsterte Oleg.
„Fürs Blog wär’s gut.”

Unser Quartier hatte ich über den Schwager meiner Vermieterin gebucht, der in einer Firma arbeitet, dessen Geschäftsführer mit einer Frau befreundet ist, in deren Restaurant hin und wieder einer speist, der über den Taufpaten seines zweiten oder dritten Kindes den Direktor der Basa Otdycha kennt – für ukrainische Verhältnisse hatte ich also recht direkt und unumständlich gebucht. Den Abend ließen wir mit ein paar Bieren vor unserem Bungalow ausklingen. Wir spielten Karten, irgendein Autoquartettspiel, das Oleg an der Tankstelle gekauft hatte, und erzählten uns Ferienlagerwitze. In der Nacht träumte Oleg von Ostfriesen und ich von Moldawiern und seiner Mutter.

Am nächsten Morgen sahen wir im Speisesaal nicht nur, dass es keine Teller gab, weshalb die Mütter die Brotscheiben direkt auf den Tisch legten, um sie mit Butter oder Quark zu bestreichen. Wir bemerkten auch, dass sich die anderen Urlauber – ich hatte noch nie größere Familien gesehen als diese mit fünf bis acht Kindern – vor dem Frühstück an den Händen hielten und ein Gebet sprachen.
„Wohin hast du mich bloß verschleppt?”, fragte Oleg.
„Es ist ein Erholungsheim der Kirche, was hast du erwartet?”
Oleg trank einen Schluck Tee und sagte: „Wir wollen ja nicht unangenehm auffallen. Oder wollen wir das?”
„Nein.”
„Na dann, du oder ich?”
„Du!”
Oleg erhob sich von seinem Stuhl und griff meine Hand, zog mich hoch, räusperte sich, schloss die Augen und sprach sehr leise: „Lieber Gott, wenn es Sie wirklich geben sollte, machen Sie bitte, dass der Kolumnist heute Nacht nicht wieder so laut schnarcht. Und dürfte ich Sie vielleicht noch um einen zweiten Gefallen bitte? Bitte sorgen Sie auch dafür, dass die Leute nicht denken, der Kolumnist und ich seien ein Paar. Der zweite Wunsch ist mir übrigens noch ein bisschen wichtiger. Danke und Amen.” Oleg öffnete die Augen und stierte mich an. Er nickte mir streng zu, schnitt eine Grimasse und sagte schließlich, weil ich immer noch nicht kapiert hatte: „Nun mach schon, ich muss noch telefonieren!”
„Amen?”
„Geht doch.”
„Warum siezt du eigentlich Gott?”, frage ich.
„Er hat mir noch nicht das Du angeboten.”

Am Mittag stiegen wir auf den Berg, um von oben die Bungalowsiedlung und das spiegelglatte Meer anzuschauen. Alte Ladas, klein wie Matchbox-Autos, torkelten über die schlammige und holprige Straße. In der Ferne schaukelten Möwen. Wir entdeckten schon lange halbfertige Häuser, ein Scheißhaus, das sich diesen Titel redlich verdient hatte, und schließlich ein Feuer im Gestrüpp.
„Soll das brennen?”, fragte ich.
„Das brennt freiwillig”, sagte Oleg.
Er wischte mit seiner Hand einmal den Horizont entlang, atmete aufdringlich, legte sich ins vertrocknete Gras und schaute zum Himmel hinauf. Wir schwiegen fünf Minuten.
„Ist die Ukraine nicht eigentlich wunderschön?”, fragte er dann.
„A-ha.”
„Was?”
„Ich weiß nicht”, sagte ich.
„Was stört dich denn jetzt wieder?”
„Ich weiß nicht, ob ich auf Dauer in einem Land leben könnte, in dessen Plattenläden es drei CDs von Modern Talking gibt und sogar zwei von Thomas Anders, aber nicht die neue CD von a-ha. Plattes Land.”
„Das war jetzt ganz knapp unter deinem Niveau und sehr deutlich unter meinem”, sagte Oleg.
„Mein Niveau ist im Kurzurlaub.”

Am Abend, bevor wir zur Stranddiskothek aufbrachen, rief Oleg abermals seine Mutter an. „Ich bin jetzt ein paar Stunden nicht erreichbar”, sagte er und lauschte. „Nein, ich mache nicht so lange…ja, kannst dich auf mich verlassen…ich trinke höchstens vier…okay, drei…bis später, Mama…mach dir keine Sorgen. Der Kolumnist passt auf mich auf…nein, Mama, das ist kein Grund, sich erst recht Sorgen zu machen.”

Am Vormittag hatten wir eine halbe Stunde lang einen Spiegel gesucht. Es gab in der ganzen Bungalowsiedlung nicht einen, weder in der Gemeinschaftsdusche noch über irgendeinem der vielen Waschbecken im Gemeinschaftsklo. Oleg hatte mich sogar genötigt, die Damentoilette auszukundschaften, und derweil Schmiere gestanden. Da er nicht wollte, dass wir ausgingen, wie wir aussahen, stellte er sich vor mich hin und richtete auf meine Hinweise seine Haare. Er wichste sich Tuben-Gel in die Handfläche und fragte mich, wie er es verteilen müsse, holte einen Kamm aus der Gesäßtasche und ließ mich dirigieren.
„Ich denke, das sieht gut aus”, sagte er. „Und jetzt du, Spiegel-Kolumnist!”
„Oleg, wir gehen in eine ranzige Stranddiskothek. Es gibt dort nicht mal ein Klo, und das Meer zählt nicht.”
„Und das, was du da auf dem Kopf hast, zählt nicht als Frisur.”
„Seit ich denken kann, hatte ich noch nie eine Frisur. Ich habe nur Haare”, sagte ich und zupfte irgendwo herum, um Oleg einen Gefallen zu tun.
„Dein Scheitel ist auch nicht mehr das, was er heute Morgen noch war.”
„Besser?”, fragte ich.
„Nö.”
„Besser?”
„Nö.”

In der Diskothek versuchte Oleg, eines der Mädchen zu erobern, die er nachmittags am Strand begutachtet und für begehrenswert befunden hatte. Nach dem sechsten oder siebten Wodka war allerdings sein Orientierungssinn dahin, und Oleg hatte Mühe, das Mädchen aus Lugansk nicht mit dem Mädchen aus Lviv zu verwechseln. Ich ließ ihn irgendwann zurück und torkelte davon. Vor dem Schlafengehen inspizierte ich noch Olegs Telefon – zwei Anrufe in Abwesenheit.

Ich weiß, dass Oleg ein enges Verhältnis zu seiner Mutter hat, ich weiß auch, dass Ukrainern die Familie heilig ist, jeder kümmert sich um jeden, sicher auch, weil sich der Staat um nichts kümmert. In Deutschland war das auch mal so. Drei oder vier Generationen, von der Zweieinhalb- bis zur Zweiundneunzigjährigen, lebten unter einem Dach. Uropa spielte mit seinem Urenkel, sie verstanden sich prima – nicht nur, weil sie genauso viele Zähne hatten und ähnlich mobil waren. Von heute aus betrachtet, wirkt diese Welt ungemein romantisch; in Wahrheit war – und wäre – sie die Hölle.
Ich habe einmal einen Familientherapeuten gefragt, wie es die Leute – Tochter, Mutter und Großmutter, Sohn, Vater und Großvater – früher ertragen hätten, sich so nahe zu sein. „Sie hatten ja meist gar keine Wahl”, sagte der Mann und kratzte sich am Kopf. „Und jeder siebte ist halt mit einem sehr dicken Strick auf den Dachboden gestiegen und nicht mehr runtergekommen.”

Natürlich war die Luft in dieser Provinz sauberer als in Odessa, das Wasser klarer und geruchloser, die Stille ein bisschen durchdringender. Es hüpften sogar ein paar Vögel herum, die ich in der Stadt noch nie gesehen hatte und die wahrscheinlich jeden Ornithologen ziemlich geil machen würden. Aber ein stabiles Ökosystem bedeutet eben auch: Mücken, Ameisen und Käfer vorm und im Bungalow, im Klo und in der Dusche. Am Morgen, nachdem er in der Diskothek beinahe verendet wäre, reichte es Oleg. Er griff zum Telefon und drückte die Wahlwiederholung.
„Mama, hast du einen Tipp, was wir gegen diese fiesen Insekten tun können?”, fragte er, hörte ein paar Minuten aufmerksam zu, nickte hin und wieder, mehr zu sich allerdings als zu mir, schließlich bedankte er sich, massierte sein Kinn und überlegte.
„Sag schon, was hat sie empfohlen?”, fragte ich.
Kopfnüsse.”
„Kopfnüsse?”
„Kopfnüsse.”

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Kolumne: Arztgeheimnis

ODESSA, UKRAINE Ich schwöre, ich werde nie wieder über das deutsche Gesundheitssystem klagen, über keine Praxisgebühr und keine Vorzugsbehandlung von Privatpatienten. In Odessa, wo ich seit einem Jahr lebe, gibt es keine offizielle Praxisgebühr – aber ein Vorteil ist das auch nicht. Neulich habe ich mit meiner Tochter die Kinderpoliklinik in der Jüdischen Straße besuchen müssen. Ich war dort schon öfters gewesen, ich glaubte, mich auszukennen, und wartete vor dem Zimmer, vor dem ich früher mit meinem erkälteten oder fiebernden Sohn gewartet hatte. In der Ukraine ist es üblich, dass Ärzte in Polikliniken für bestimmte Straßen zuständig sind. Das wird spätestens dann unpraktisch, wenn die Familie umzieht und den Hausarzt verliert, der die Kinder immer behandelt hat. Leider steht nirgends, welcher Mediziner für welche Straße zuständig ist, man muss sich erkundigen und sollte dies in jedem Fall tun. Dass man eineinhalb Stunden vor der falschen Tür gesessen hat, erfährt man sonst im schlimmsten Fall erst, wenn der Arzt fragt: „Wo wohnen Sie?”

Stellt sich heraus, dass er für die Straße, in der man wohnt, nicht zuständig ist, bieten sich drei Strategien an. Erstens kann man den Paragrafenreiter spielen und erklären, Ausländer hätten in der Ukraine freie Arztwahl. Die zweite Möglichkeit ist, irgendwie, aber bitte ohne Prahlerei durchblicken zu lassen, dass man dem Arzt, der nicht zuständig ist, trotz der abgeschlossenen Krankenversicherung ein überdurchschnittliches Schmiergeld zahlen wird, was ganz nebenbei auch dessen Erinnerungsvermögen für spätere Besuche steigert. Anderenfalls neigen die schlecht verdienenden Doktoren zu Vergesslichkeit. Und dann kann man sich, drittens, noch dumm stellen. Ich würde eine Kombination aus zweitens und drittens empfehlen. Als Paragrafenreiter liefe man Gefahr, dass man von einem neuen Gesetz überrascht wird, das die freie Arztwahl für Ausländer aufhebt. Es werden in der Ukraine ständig neue Gesetze erlassen, die niemand kennt – außer demjenigen, der sie gerade verkündet.

Ich wähnte mich mit meiner Tochter beim richtigen Arzt und landete beim falschen. Der Mann erinnerte sich zwar an mich und fragte auch, wie es meinem Sohn gehe, es stellte sich aber heraus, dass ihm die Poliklinik die Zuständigkeit für Krankheitsfälle in meiner Straße entzogen hatte. Ich holte unauffällig mein Portmonee hervor und spielte den dummen Deutschen.

© Schweriner Volkszeitung

Kolumne: Das große Fressen

ODESSA/UKRAINE Ich brauche eine ukrainische Frau. Sie kann gut aussehen, ich bestehe aber nicht darauf. Wenn sie deftig kocht, darf sie ruhig deftig aussehen.

Seit meinem Umzug nach Odessa habe ich ungefähr jeden dritten Tag Schaurma gegessen – manchmal auch zwei auf einmal. Mein Magen dürfte also, und zwar, ohne jemals zu murren, in den vergangenen 13 Monaten mehr als 130 dieser dönerähnlichen Monster verdaut haben. Ich hatte sogar einen Stammimbiss, dessen Besitzer, ein junger Mann namens Sascha, immer wusste, wie er das Schaurma für mich zubereiten muss: Pommes, ein bisschen Öko-Deko aus Gurken, geraspelten Möhren, Tomaten und Grünzeug, dazu geriebenen Käse, Mayonnaise, Ketchup und ganz viel Hühnerfleisch vom Spieß. Sascha und ich, wir verstanden uns ohne Worte. Ich brauchte nur zu nicken, schon machte er sich an die Arbeit. Er war so großzügig, mich niemals an meine ersten Bestellversuche mit schlechtem Russisch im Juni 2008 zu erinnern, und ich nahm ihm nicht übel, dass sein Schaurma irgendwann 19 Griwna kostete, sechs mehr als am Anfang, aber nicht teurer schmeckte. Alles war perfekt.

Hühnerfleisch aus dem Saustall

Vor einer Woche stand nun auf „Segodnya.ua”, jede zweite Schaurma- und Hotdogbude in Odessa entspreche nicht den hygienischen Mindestanforderungen. Ich bin kein Reinheitsfanatiker, aber wenn selbst in der Ukraine etwas als unhygienisch eingestuft wird, male ich mir schon eine gewisse Bedrohung aus, die mich am Ende zu dem Gedanken trägt: Im sauberen Deutschland würden solche Leute längst in der Gefängnisküche kochen.

Der Text in der gedruckten Ausgabe der „Segodnya” las sich noch schrecklicher. Es waren noch mehr Buden unhygienisch, und von Hotdogs war überhaupt nicht mehr die Rede. Ich übertreibe kaum, wenn ich den Bericht so zusammenfasse: Schaurma zu essen sei nach Schuss in den Kopf und Aufs-Ohr-Hauen im Gleisbett die sicherste Variante, Selbstmord zu begehen. Deshalb meide ich Sascha. Sein Fleisch fehlt mir, und ich habe nicht immer das Glück, gerade in Sanjejka zu sein.

Dort in der Pension, die ich neulich gebucht hatte, gab es morgens Nudeln auf und unter dem Schnitzel, mittags – nach einem Kartoffelsüppchen – Schnitzel mit Pommes frites und abends Pommes frites mit Schnitzel. Als Nachtisch vor dem Schlafengehen ließ ich mir dann noch einen Schaschlikspieß auf den Grill legen lassen. Ich hätte am liebsten gar nicht geschlafen, um weiter essen zu können.

Ohne die Vollverpflegung der Herbergsmutter wäre ich übrigens verhungert. Ein Deutscher, der in Odessa lebt, hatte Landsleuten, die zum ersten Mal in der Ukraine waren, Sanjejka als wunderschönen Ort zum Ausspannen empfohlen. Die Familie, Kleinkind inklusive, buchte daraufhin leichtgläubig zwei Wochen Sanjejka – und reiste nach drei Tagen wieder ab. In diesem Dorf gibt es nichts, nichts außer einem schmutzigen Strand, weder ein Restaurant noch ein Café, erst recht keine Schaurmabude. Der Dorfkonsum bietet vor allem harte Flüssignahrung an, also Wodka. Härter als der Wodka in der Ukraine ist nur noch das Toilettenpapier.

Seit meinen drei Fleischtagen in Sanjejka bin ich weniger streng zu meinem Sohn. Er ist in den vergangenen Monaten ein bisschen in die Breite gegangen – und er geht weiter. Aber im Kindergarten bekommt er auch drei warme Mahlzeiten am Tag. Nachdem er zu Hause sein Brot gefrühstückt hat, löffelt er eine Stunde später einen Napf Brei aus. Mittags gibt es meist eine offenbar gut gewürzte Gruppensuppe – jedenfalls stößt mein Sohn noch abends danach auf – und Kartoffeln mit Fleischklößen. Nach dem Mittagsschlaf, bevor ich ihn abhole, verdrückt er dann noch einen Brei. Ich habe seine Verbreiterung so lange ignoriert, bis die Kindergärtnerin sagte, mein Sohn müsse sich mehr bewegen. Dass ausgerechnet sie das sagte, fand ich durchaus bemerkenswert – das Schwerste an ihr ist keineswegs ihre Parfumwolke.

Oleg und die Normalität

Ich habe versucht, meinen ukrainischen Schaurmahändler mit einem französischen Bäcker zu betrügen. In der Bäckerei gibt es Baguettes und sogar Brötchen, die in Odessa sonst kaum zu bekommen sind. Wenn ich etwas aus Deutschland vermisse, dann sind es Brötchen. Ich dachte, sie könnten mir, endlich entdeckt, den Entzug erleichtern. Unsere Affäre ist aber an den undeutschen Öffnungszeiten gescheitert. Wenn die Bäckerei morgens um neun öffnet, habe ich längst gefrühstückt. Abends um fünf sind Baguettes, Brötchen und selbst Brote ausverkauft. Was nützt es mir da, dass die Bäckerei erst um 20 Uhr schließt?

Gestern habe ich meinen Freund Oleg gefragt, ob er mir helfen könne, eine ukrainische Frau zu finden.
„Kolumnistow, du widerst mich an”, sagte Oleg. „Falls du es schon vergessen hast: Du bist verheiratet. Das hat Kolumnistowa nicht verdient.”
„Ich suche keine Geliebte, Oleg, ich brauche eine ukrainische Köchin.”
„Du willst fremdessen!”
Ich habe Oleg erklärt, ich würde nicht auf den Spuren jener Ausländer wandeln, die sich in Odessa eine viel zu junge und viel zu hübsche Freundin suchten. Ich beobachte diese Paare gern in Cafés. Sie trinkt einen Cocktail, er nippt am Kaffee und lässt ihr, einer schlanken Salatschönheit, vom beisitzenden Dolmetscher seine Heldenschwarten auftischen. Man weiß oft nicht, für wen der beiden das Spiel entwürdigender ist. Neulich betrat ein mindestens 75 Jahre alter Mann, texanisch oder kanadisch, das Café, begleitet von einer gerade volljährigen, aber schon vollbusigen Odessitin – mehr Gehhilfe als Geliebte. Ich dachte: Lieber Gott, mach, dass es ihr Opa ist!

„Oleg, hörst du dich nun mal um?”
„Kann ich machen, aber der Knaller bist du ja nicht gerade.”
„Oleg, merk dir bitte: Männer müssen nicht schön sein. Männer müssen interessant sein.”
„Ich melde mich, wenn ich was höre, einverstanden?”
„Danke.”
„Ich muss jetzt los.”
„Wo willst du hin?”
„Ins Itaka nach Arkadia, ich muss mal wieder unter normale Leute.”