Außerirdischer auf zwei Rädern

Ich fühle mich toll, seit ich auf dem Markt für 400 Griwen, also 70 Euro, dieses Da-menrad ohne Handbremse gekauft habe. Ich werde angestarrt wie ein Artist, der ein Kunststück darbietet – oder wie ein Außerirdischer. Nun ist mir, wie jedem, der so durch Odessa rollt, Mut und Geschick nicht abzusprechen. Beides braucht es, da Rad-wege noch weniger verbreitet sind als Vorsicht und Fürsorge im Verkehr. Aber übertrieben ist das Erstaunen doch. Ich würde weniger auffallen, wenn ich nackt und auf Händen die berühmte Treppe hochliefe.

Odessiten beherrschen die Extreme, aber nicht das Dazwischen. Das scheint mir zu erklären, warum kaum jemand Rad fährt. Die Leute sind entweder schnell oder lang-sam, worüber die Art der Fortbewegung entscheidet. Sie rasen mit dem Auto und bummeln zu Fuß, was zu Konflikten und Chaos führt, aber selten zu Unfällen. Wie es beim Sex aussieht, weiß ich natürlich nicht. Um die Wirkung überprüfen zu können, bin ich zu neu in der Stadt und zu verheiratet obendrein.

Odessiten sind laut, vor allem wenn sie feiern, oder stumm, wenn sie tags an einer Kasse sitzen. Sie sind ungemein herzlich oder absolut unausstehlich. Es gibt sie sehr reich und sehr arm. Jeden Abend kramen Alte vor unserem Haus im Müllkübel wie in einer Schatztruhe und tragen da-von, was sich zu Geld machen lässt: Besen, Fußmatten und vor allem Flaschen. Ein Pfandsystem ist in der Ukraine zwar unbekannt, Glas im Kilogramm bringt gleichwohl ein paar Münzen. Und zwei Meter neben den Müllsuchern parkt ein Jeep, dessen Scheibenwischer wertvoller ist als der Inhalt aller Tonnen in dieser Millionenstadt.

„Die Leute bewundern dich nicht”, sagt mein Freund Oleg. „Ein Mann auf dem Rad ist ungefähr so heiß wie eine Frau mit Oberlippenbart.”
„Es ist eher Mitleid?”, frage ich.
„Wundert dich das, bei dem bunten Helm, den du auf dem Kopf hast?”
„Ich will noch nicht sterben.”
„Bei uns versuchen nur drei Gruppen, Rad zu fahren: sehr kleine Kinder, sehr alte Alte und natürlich sehr deutsche Deutsche”, sagt Oleg.

Odessiten bauen übrigens 20 Zentimeter hohe Bordsteine, für die selbst Spatzen Räuberleiter machen müssten, oder sie lassen sie ganz weg. Ich bin ein Artist, kein Außenirdischer.

(c) Schweriner Volkszeitung, 26. Juli 2008

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