Schlagworte: Auto

Grenzverletzung

KUTSCHURGAN/ODESSA, UKRAINE Ich habe nicht vor, mich an Kutschurgan zu rächen. Immerhin habe ich dort mein Auto wieder legal machen können. Ach, ich hatte mir es so schön vorgestellt: Alle zwei Monate fahre ich zur moldawischen Grenze und verlasse die Ukraine, reise wieder ein, kurve weiter legal herum und muss mein Auto nicht in Odessa registrieren lassen, was ein bürokratischer Marathon wäre, zumal ich ja irgendwann nach Deutschland zurückkehren werde.

Vor ein paar Tagen allerdings – beim zweiten Besuch in Kutschurgan – hat man mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht wiederkommen solle. “Das war das letzte Mal”, sagte ein hohes Zollschaf, das sich noch an meinen ersten Besuch erinnerte. Es störte sich offenbar daran, dass ich nicht richtig in Moldawien gewesen war, sondern gleich nach Verlassen des ukrainischen Zollbereichs gewendet hatte. Das machen andere auch, und den Moldawiern ist es sowieso recht, schließlich ist die Einreiseschlange schon lang genug. Die Ukrainer indes fühlen sich offenbar verschaukelt.

Ich bin nicht besonders nachtragend, aber muss so eine öffentliche Toilette an einer Grenze aussehen – an einem Ort also, wo auch Familien stundenlang im Auto sitzen und warten?

Ist das überhaupt eine Toilette? Denke ich vielleicht ein bisschen zu spießig, pathetisch und deutsch, wenn ich mir vorstelle, dass für manchen ausländischen Gast dieses Klo der erste Eindruck ist, den er von der Ukraine bekommt? Ich habe in 15 Monaten in diesem Land ein Menge schlimmer Toiletten gesehen und teilweise auch benutzt – aber das ist die beschissenste von allen.

Und seien Sie froh, dass das Internet noch keine Gerüche transportieren kann.

“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Zweiter Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

[Der erste Teil steht hier]

Zweiter Teil: Reisen wie auf dem Fließband

Ukrainische Polizisten müssen beweisen, dass sie das Gesetz verteidigen, sie kontrollieren für die Bilanz. Ob das Bußgeld eintrifft, ist ihnen egal. Deshalb wird vor Weihnachten besonders gerast. Das Protokoll gelangt zwar noch in die Statistik, der Fall aber wird nicht mehr bearbeitet. Später erfahren wir, warum wir zweimal so schnell gewesen sind, wie es die Polizei gewollt hat. Uns wurden alte Geschwindigkeiten gezeigt. Die Uhrzeit auf der Pistole hätte die Beamten überführt. Ukrainern ist dieses Misstrauen in Autoritäten bestimmt angeboren.

Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei 200 Meter entfernt vom Polizeirevier
Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei im Stadtzentrum - 200 Meter entfernt vom Polizeirevier

Seit 24 Stunden sind wir im Land. Die ersten zehn Minuten am Freitag habe ich aufrichtig versucht, mich an die Vorschriften zu halten. Ich fuhr im Ort sechzig. Es war lebensgefährlich, was vielleicht damit zu tun hat, dass die Dörfer auch zehn Kilometer lang sind, wenn dort zwei Häuser stehen. Der Rückspiegel hatte ständig gelbe Treffer, so oft wurde mit der Lichthupe auf uns geschossen. Ukrainer rasen, als wären sie auf der Flucht, drängeln, dass man fast ihre Augenfarbe erkennt, und scheren noch am Berg aus. Im Gras erinnern viele Kreuze daran, dass mancher sein Leben gleich mit überholt hat. Kein Polizist hat uns an diesem Abend zwischen Lemberg und Ternopil aufgehalten. Heute jedoch wartete auf den 400 Kilometern bis Uman in jedem fünften Dorf ein Paar. Angeblich trinkt der Ukrainer am Wochenende mehr und spürt plötzlich Sehnsucht nach seiner Datscha.

Auf der Autobahn: Kein Ziel in Sicht
Fast am Ziel, aber noch immer auf der Autobahn

Die Angst vor Kontrollen ist uns so peinlich geworden wie das Selbstmitleid wegen der Schlaglöcher. Um derlei als unangemessen zu empfinden, genügt im klimatisierten Auto ein Blick nach links und rechts, auf Pflüge, die ein Gaul zieht, auf Kinder, die noch in der Finsternis mit Oma und Opa auf dem Feld wühlen. Alte mit mehr Zehen als Zähne verkaufen vor Häusern, die in Deutschland gesperrt würden, ihre Ernte: Äpfel, Kartoffeln, Salatköpfe. Weil das Auto auf kaputten Straßen nur langsam vorwärts kommt, fliegt das Elend nicht vorbei. Es nimmt kein Ende. Wir haben nicht angehalten. Wir hätten uns mit den Frauen doch nichts zu sagen gehabt, selbst wenn wir uns hätten verständigen können. So alt, wie sie mit ihren Kopftüchern aussehen, können wir niemals werden. Wir dürfen gar nicht so altern. Das deutsche Gesundheitssystem lässt es nicht zu. Weil es uns so gut pflegt, hat der Tod einen so schlechten Ruf: Er holt die meisten zu früh, glauben wir. Wir haben angehalten, wo die Ukraine ungefähr aussieht wie Deutschland: an Tankstellen. Nur die Preise sorgten für ein Gefühl von Ferne. Der Liter kostet 90 Cent.

Um auf der Autobahn nicht von weitem entdeckt zu werden, verstecken wir uns hinter einem Laster mit Darmwind, der nach Fuselbenzin riecht. Das einzige, das noch beschleunigt, ist der Puls, wenn wir Polizisten sehen, wo Pappeln stehen. Seit Stunden sind wir die einzigen Westeuropäer, da macht sich jeder Baum verdächtig. Wie auf einem Fließband rollen wir dahin: siebzig bergauf, siebzig bergab, siebzig in Kurven, siebzig auf Geraden. Doch der Regen muss die Streckenposten vertrieben haben. Odessa erreichen wir nach 52 Stunden und 2100 Kilometern. Wir wollen zugleich schlafen und uns betrinken.

Durch sieben teilen

Um das Problem mit dem Umzugsgut kümmert sich mittlerweile ein Krisenstab. Freunde in Mecklenburg berichten von einer Tour nach Weißrussland. Bekannte in Odessa verhören Deutsche, deren Hausstand es irgendwie durch den Zoll geschafft hat. Auch der Pfarrer der deutschen Gemeinde in der Stadt ist eingeweiht. Die Verwandten haben alles schon vorher gewusst und verschweigen dies auch nicht. Meine Frau kennt inzwischen fast jeden Grenzer. Fortwährend klingelt ihr Telefon. Doch alle Schriftstücke, die beweisen, dass sie im Land arbeiten soll und umziehen muss, sind am Zoll wertlos. „Ihr müsst euch daran gewöhnen, dass bei uns erst einmal nichts klappt”, sagt spät abends in einer Bar unsere ukrainische Freundin, die mehr als zehn Jahre in Niedersachsen gelebt hat. Ich brauche zwei Einschlafbiere.

Vor der berühmten Oper, dem angeblich zweitschönsten Haus der Welt

Am Sonntagmorgen wandere ich durch Odessa und belausche eine Stille, die mir Stunden später, sobald sich der Verkehr staut und die Menschen aus 133 Nationen erwacht sind, wie eine Sinnestäuschung erscheinen wird. Noch aber wird in der Puschkinskaja, einer der schönsten Straßen der Stadt, der Bürgersteig mit dem Schlauch abgespült. Drei Stunden bevor der Zug abfährt, der mich noch einmal nach Schwerin bringt, besuchen wir eine Werkstatt. Wir wollen auf das Auto in Odessa nicht verzichten. Doch wenn wir es zurücklassen, könnten die Zöllner vermuten, wir hätten es verkauft, und sehr unangenehm werden, um das Geld zu finden. Also machen wir es zum Patienten, lassen es krankschreiben und täuschen eine Panne vor. Der Reparaturschein wirkt echt.

Der Wagen muss samt Schlüssel im Autohaus bleiben. Der Chef ist mal in Magdeburg gewesen, ich bin dort geboren. Er wird mich nicht betrügen. Wir sind fast verwandt. Das Abschiedsfoto – Autohändler, Autobesitzer und Auto -, kommt entweder ins Familienalbum oder in die Fahndung. „Griesdoff, haben Sie keine Angst”, sagt der Mann. Ein Amerikaner hat sogar seinen Lexus bei mir abgestellt.” Unser Vermieter will trotzdem noch mal vorbeischauen.

Die ukrainische Freundin versucht mich zu trösten. Sie fühlt sich mitschuldig, dass uns der Zoll besiegt hat und der Umzugslaster voll beladen zurückfährt. Sie sagt: „Wenn jetzt noch dein Wagen verschwindet, glaube ich an nichts mehr. Dann verlasse ich das Land für immer und gehe dorthin, wo kein Ukrainer lebt.”

Kolumne: Adolf Hitler und meine Spiegel-Affäre

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg ist ein angenehmer Beifahrer. Man darf bei ihm praktisch alles. Oleg hat die Gabe, augenblicklich zu erblinden vor Einbahnstraßen, Stoppschildern und roten Ampeln. Meinen Atem, der beschleunigt, wenn ich am Steuer nicht ganz legal handele, hört er dafür umso schärfer. „War irgendwas, Kolumnist?”, fragt er dann. „So lange ich nichts sage, ist alles in Ordnung.” Die ersten vier Wochen bin ich nur mit Oleg Auto gefahren. Es gab für mich im Grunde keine Verbote, abgesehen von: „Lass die Lücke nicht so groß werden! Sonst springt einer rein.” Man kann sagen: Oleg hat mich als Verkehrsteilnehmer in Odessa versaut. Ich bin von ihm ukrainisiert worden.

Seit sechs Tagen fahre ich allein. Gestern habe ich zum ersten Mal gehupt, obwohl nur jemand Rücksicht nahm auf andere. Ich selbst werde kaum mehr bedrängt, was als Mensch nicht unbedingt für mich spricht, als Fahrer allerdings schon. Dass ich Gebote noch halbwegs beachte und mich kontrolliert offensiv fortbewege, liegt daran, dass vor zwei Wochen ein Nachbar den linken Autospiegel abgetreten hatte. „Ihr Nazis habt meinen Opa umgebracht”, schrie er, was juristisch bestimmt nicht ganz sauber formuliert ist, historisch-moralisch aber irgendwie hinkommt. Andererseits ist mir am nächsten Tag, während ich in einer Verhörzelle des Polizeireviers den Mann anzeigte, eingefallen, dass es das Wort „Vergangenheitsbewältigung” nur in der deutschen Sprache gibt. Im Gang schnarchten zwei Blutverschmierte ihren Rausch aus. Ich dachte an Adolf Hitler und sah braune Flecken auf meinem Hemd.

Ein paar Tage nach unserer Anzeige, an deren Nutzen wir bereits gezweifelt hatten, weil nichts geschah, bestellte uns ein Polizist zu sich. Nein, er bat um einen Besuch und erklärte sich bereit, zu uns zu kommen, als wir den Termin verschieben wollten. Zehn Minuten später saß er mit einem Kollegen an unserem Küchentisch. Noch einmal zehn Minuten später hatten wir vom Täter das Geld für die Reparatur erhalten und im Gegenzug die Anzeige zurückgenommen.

Es ist nur ein Verdacht, ich kann es nicht beweisen, aber ich bin ziemlich sicher, dass der Nachbar den Polizisten eine Aufwandsentschädigung gezahlt hat und deshalb noch vor ihrem Feierabend dieses Problem mit den Deutschen in den Papierkorb gelangen musste. Nur so kann ich mir den plötzlichen Eifer erklären. In der Ukraine ist nichts umsonst.

Ich habe im Skoda-Autohaus einen neuen Spiegel bestellt, er wird direkt vom großen Werk in Bratislava nach Odessa geliefert – ich glaube: von einem Fahrradkurier, der einen schönen Gepäckträger hat, vielleicht sogar einen Korb, aber nicht viele Gänge. Es dauert jedenfalls. Ich hatte gedacht, es könnte ein Problem sein, ohne den Spiegel zu fahren. Dann kam Oleg, der staatlich ungeprüfte Schadensgutachter. „Fährt die Kolumnistenkarre nicht ohne das Ding?”, hat er gefragt. „Na siehste! Mein Bruder braucht die Spiegel nur, wenn ihm eine Frau auf dem Fußweg zu sehr gefällt. Aber du bist ja verheiratet. Los, fahren wir ans Meer.”