Angst vor dem Shaolinkopf
Seit ich meinen Freund Oleg in einen Salon begleitet habe, fürchte ich Odessas Friseure. Alle Männer hatten vor dem Besuch kürzere Haare als ich nach einem Besuch. Ich glaubte, beim Vorsprechen für einen Film über Shaolinmönche zu sein. Ich sah auf den Köpfen nichts, was man noch hätte abschneiden können. So etwas macht mir Angst, ich kam mir vor wie ein Hippie. Odessiten tragen Frisuren, die selbst das Militär nicht verlangen würde.
Obwohl Oleg nur fünf Millimeter abscheren ließ, saß er 40 Minuten auf dem Sessel. Alles geschah wie in Zeitlupe. Die Friseurin schaute nur selten auf seinen Kopf. Ihre Maschine schnurrte viel und schnitt wenig. Eine deutsche Friseurin wäre schneller gewesen, wenn sie jedes Haar einzeln gekürzt und zwischendurch den Wochenendeinkauf erledigt hätte. Und Oleg sprach, als wäre er auf Valium.
Ich plante für meinen Besuch einen Vormittag ein. Es wäre mir auch zumutbar erschienen, wenn die Friseurin, um sich einen Zusammenbruch aus Erschöpfung zu ersparen, meine längeren Haare in Etappen geschnitten hätte: am ersten Tag im Nacken, am zweiten an den Seiten, am dritten vorne.
Gestern habe ich mich getraut. Um genaue Anweisungen geben zu können, was geschehen solle und was besser nicht, hatte ich auf einem Spickzettel russische Vokabeln und ganze Sätze notiert. Ich fürchtete, mir würden die Wörter fehlen, wenn ich in Gefahr war, entstellt zu werden. „Bitte schneiden Sie nicht zu viel ab!”, stand oben auf dem Zettel. Der letzte Satz hieß: „Ich komme wieder.” Nicht mal in der Schule hatte ich Spickzettel benutzt. Ich hatte mehr Angst vor der Schere als damals in der Abiprüfung vor der Aufgabe: „Erklären Sie die Photosynthese so ausführlich wie möglich!” Meine alte Biologielehrerin wird ahnen, was das bedeutet. Sie musste meine Version der Photosynthese bewerten.
Meine Friseurin wollte mir die Haare waschen, doch das konnte ich meinem Kopf nicht antun. Ein Waschbecken, das nie benutzt wird, sieht nicht unbenutzt aus. Trotzdem fasste ich irgendwann Vertrauen, holte meine Spickzettel hervor und las den Satz ab: „Schneiden Sie, wie es Ihnen gefällt.” Ich habe überlebt, ich sehe nicht schlimmer aus als sonst, ich trage keinen Shaolinkopf. Für umgerechnet 3,50 Euro ist das ein gutes Ergebnis.
(c) Schweriner Volkszeitung, 18. Oktober 2008