Ich weiß immer noch nicht, ob ich diese Aktion großartig oder peinlich finden soll, ich werde es gleich erfahren. Sie ist zumindest typisch odessitisch. Aleksandr Stepaniza, der Chef des Café Kompott, hat Geburtstag und wird auf der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße, gefeiert. Man stapelt halt nicht gern tief.
So sah das heute Morgen um kurz vor elf aus: verkleidete Trommlerinnen, ein Stuhl, rote Rosen und eine riesige Wäscheklammer, Markenzeichen des Hauses.
Ich habe mich nicht getraut, dem Mann zu gratulieren, obwohl in Odessa ja jeder jeden kennt – jedenfalls scheint es so, weil sich das Leben von seiner schönen Seite immer auf einem sehr kleinen Flecken zeigt. Wer sich im Zentrum aufhält, trifft dauernd dieselben Leute.
Nun ist es kein gutes Zeichen, wenn die Kellnerinnen den Chef freundlicher behandeln als ihre Gäste. Es spricht übrigens auch nicht für den Chef. Die Damen flippten aus, sie tanzten und trommelten mit, sie kicherten und klatschten und küssten.
Ich habe seit dem vergangenen Montag dreimal allein im Kompott gefrühstückt: zwei Milchkaffee, eine hausgemachte Limonade, ein Baguette mit Schnitzel. Ich glaube, ich kann von mir sagen, dass ich ein pflegeleichter und unaufdringlicher Gast bin. Ich weiß, dass dort auch viele Arschlöcher sitzen. Ich gehöre nicht dazu.
Dreimal hat mich dieselbe Kellnerin bedient. Auf ein Lächeln von ihr, ein einziges nur, warte ich noch immer.¹ Und das war früher, als ich regelmäßig hier war und erkennbar kein Tourist, nicht anders.
¹ Warum gehe ich dort noch hin? Es ist eines der wenigen Cafés in Odessa, in dem ich in Ruhe arbeiten kann, weil die Musik (französische) nur plätschert und nicht dröhnt. Und besser ist der Service anderswo auch nicht. Glauben Sie mir.
ODESSA, UKRAINE Sonntagmorgen, halb sechs: Die Wohnung ist ohne Strom. In den vergangenen fünf Tagen, meist am Nachmittag, ist er immer mal wieder verschwunden gewesen. In einigen Cafés in Odessas Zentrum sind Gäste gar nicht bedient worden.
So ein Aufbruch in den freien Tag mit Kerze im Bad, kalter Dusche, Kaffee vom Gasherd, harten Brötchen und einer Tüte Vanilleeis, das im Gefrierschrank langsam schmilzt, ist natürlich nicht zu verachten. (Die Krabben hinter dem Eis sollen mir erst später einfallen.) Nachdem Bob der Baumeister zur Freude meines Sohnes einen Unterstand für Heppo und ein Lager für die Strohballen von Bauer Gurke gebaut, dabei aber den Akku des Laptops vollständig geleert hat, ziehe ich in die Stadt, um in einem Café Strom zu schnorren, die Elektropost zu lesen und vielleicht etwas zu speisen.
Der größte Generator steht in der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße, vor der Restaurantkette “Top Sandwich”:
Angeber! Deshalb schmeckt das Essen dort nicht besser.
Im Café “Kompott” ist Schnitzel im Baguette wegen des Stromausfalls aus, Blinschiki mit Hackfleisch gibt es seltsamerweise, Steckdosenstrom wiederum nicht, Licht allerdings schon, die Kellnerin weiß nichts Genaues, bringt heiße Milch zum heißen Kaffee und am Ende eine am Computer erstellte Rechnung, verstehen muss man das aber nicht.
Der Schnellimbiss, schräg gegenüber, ist ganz dicht.
Im Kaufhaus “Europa”, wo ich ein paar Kerzen kaufen will, es scheint ja was Ernstes zu sein, fährt der Aufzug nicht. Odessas Aufzüge fahren sonst immer, selbst wenn gerade kein Strom da ist. Die Rolltreppen stehen auch still. Einer der Wachmänner, befragt, warum die gesamte Innenstadt ohne Strom sei, sagt: “Das ist eine Vorsichtsmaßnahme. Es gibt eine Erdbebenwarnung.”
“Und wann ist der Strom wieder da?”
“Zwischen fünf und sechs.”
Mittagessen zu Hause: Krabben an kalter Vanillesoße sind nicht unköstlich.
Ich glaube das mit der Erdbebenwarnung tatsächlich, kann mich aber trotzdem nicht vom Mittagschlaf abhalten. Ich albträume, ich verpasste am Abend das Kanzler-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, weil es ja ohne Strom keinen Live-Stream gibt.
Nach dem Aufwachen gibt es nach wie vor kein Licht in der Wohnung. Aber sie ist noch da. Auch die Nachbarhäuser stehen. Das Akku meines Mobiltelefons ist leer. Ich überrede mich zu einem Spaziergang. Die Stadt ist ruhig, nur hie und da brummen Generatoren. Die Türen vieler Geschäfte stehen offen, drinnen ist aber nichts als Finsternis.
Ist das wertvolle Leben längst evakuiert? Sitzen die Oligarchen in einer unterirdischen Höhle und warten mit Leuten aus der Stadtverwaltung, mit Wissenschaftlern und Kulturschaffenden das Erdbeben ab, um aus den Trümmern ein neues Odessa aufzubauen – schöner und gerechter als das alte? Warum bin ich nicht ausgewählt worden? Waren meine Kolumnen nicht witzig genug? Jede Stadt braucht doch einen Hofnarr. Oder habe ich vielleicht einmal zu oft den Film “Deep Impact” gesehen?
Auf einmal leuchten die Ampeln wieder, und ich denke sogleich: Wie gut, dass wir heute Sonntag haben und das Erdbeben nicht am Montag nicht ausgebrochen ist – ohne Ampeln wäre das Verkehrschaos sonst gewaltig gewesen.
Das Kanzler-Duell im Live-Stream: Nach einer halben Stunde wünsche ich mir, der Strom würde ausfallen.
Ich entdecke die Meldung auf der Homepage der Stadt vom Freitagnachmittag, dass heute nur von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr abends am Heizkraftwerk herumrepariert werde:
Размещено: 11.09.2009 15:04:10
Оповещение Центрального РЭС
13 сентября с 06:00 до 17:00 в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны будет отключена электроэнергия
Центральный РЭС доводит до сведения населения, что 13 сентября 2009г. в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов будет отключена электроэнергия
с 06:00 до 17:00
от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны.
ODESSA, UKRAINE Da liest man, nichts Böses ahnend, im Café “Kompott” am Bahnhof die Zeitung “Segodnya” – und dann so etwas: Die Kinder der Ukraine wüssten wenig über den Weltraum und den ersten Kosmonauten – behaupten die Journalisten und belegen dies mit einer selbsterdachtengemachten Umfrage. Die Zeitung lässt Jurik (5) und drei andere Kinder 28 48 Jahre nach dem 12. April 1961 die Frage beantworten: “Welches Land hat den den ersten Mensch ins All geschickt, und wer war dieser Gagarin?” Die Überschrift des Textes, den ich leider nicht im Netz finde, lautet: “Gagarin – ein berühmter Schriftsteller, die Ersten im Weltraum waren die USA”. Ich bin nicht sicher, dass ein Fünfjähriger unbedingt wissen muss, wer Juri Gagarin war. Möglicherweise gibt es Wichtigeres – unter Umständen besonders in der Ukraine.