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Kolumne: Oleg und der Щасismus

ODESSA, UKRAINE Es gibt zwei Dinge, die ich Oleg und mir in Zukunft ersparen werde, um unsere Freundschaft nicht noch weiter zu belasten. Vorgestern habe ich mit ihm zum letzten Mal ein Jazzkonzert besucht. Oleg liebt Jazz, er kann sich auch recht schnell begeistern – dafür gibt es sogar Zeugen -, jedenfalls ist er nicht übermäßig kritisch. In unserem letzten Konzert erzählte er mir zwei Stunden lang fortwährend, wie großartig die Musiker seien, er berauschte sich an den Improvisationen und sprach von Magie auf der Bühne, er buffte mich ständig an und fragte, ob ich denn tatsächlich hörte, dass hier ein Weltklasse-Ensemble musiziere. „Ich wünschte, es würde ewig spielen”, sagte er, „ewig, ewig, ewig! So muss das Paradies sein, oder?”
Dann war das Konzert zu Ende. Oleg klatschte genau fünfmal in die Hände, kletterte über mich hinweg, trat zwei anderen Besuchern in der Reihe auf die Füße und sprintete sogleich hinaus. Die Musiker hatten noch nicht die Bühne verlassen, da war er schon mit einem Arm im Mantel. Und er war nicht der Einzige. Mit dem letzten Ton hatte eine Massenflucht eingesetzt.

Ich habe versucht, Oleg zu erklären, es sei unhöflich, ja respektlos gegenüber den Künstlern, vor ihnen zu verschwinden. Oleg sah das anders, wie genau, weiß ich leider nicht. Wenn ich ihn kritisiere, verflucht er mich neuerdings auf Ukrainisch. Er spricht die Sprache nur schlecht, es reicht aber, um mich zu beleidigen. Nach einem dreiminütigen Redeschwall mit vielen Zischlauten fragt er jedes Mal auf Deutsch: „Kapiert, kleiner, cholerischer Kolumnist?”
„Das nimmst du zurück!”
Kleiner, cholerischer Kolumnist ist harmlos, und das wüsstest du auch, wenn du den Rest verstanden hättest.”

Ich werde Oleg, zweitens, nie wieder bitten, etwas zu reparieren. Meine Badezimmertür ist kaputt, genauer gesagt, sie ist am meisten kaputt, manch anderes in meiner Wohnung ist nur kaputt. Die Duschkabine tropft, Rohre wackeln, und wenn der Warmwasserboiler nachts anspringt, schrecke ich hoch, weil die Fensterscheibe in der Schlafzimmertür vibriert, als sei ein Orkan bei mir eingebrochen. Nein, ich gewöhne mich nicht daran, ich finde mich nur damit ab, indem ich gegen mich selbst argumentiere und mich mit dem härtesten Vorwurf konfrontiere, der einem Mann mit Wohnsitz Odessa/Am Arsch der Zivilisation einfällt, wenn er auf einen Nörgler wie mich trifft: „Deine Sorgen möcht’ ich haben, Deutscher.”

Handwerker Oleg

Aber dass sich die Klotür nicht schließen lässt, irritiert mich in gewissen Augenblicken gewaltig. Mein ganzes Leben lang, egal wo auf der Welt, haben sich Badezimmer zusperren lassen. Ich habe Rechte, und ich denke auch an meine Umwelt. Da ich nur einen Hammer besitze, rief ich Oleg an.
„Ich komme”, sagte er. „Щас¹.”
Er kam nach zwei Stunden und trank drei Biere. Zwei Tage später hatte er sein Werkzeug vergessen. Eine Woche später hätte er die Tür fast repariert, wäre nicht überraschend etwas dazwischen gekommen. Ich hatte genug.
„Oleg, gib mir einfach die Nummer eines Handwerkers. Ich kümmere mich selbst.”
„Щас, Klolumnist”, sagte Oleg, „ich ruf dich gleich zurück.”
Nach zwei Tagen rief ich wieder an. „Oleg, was ist jetzt?”
„Щас.”

So ging das eine Woche. Dann verlor ich die Geduld und stellte ihn zur Rede.
„Ich dachte, щас heißt jetzt oder gleich“, sagte ich.
„Wichtig ist nicht, was щас heißt, wichtig ist, was щас bedeutet.”
„Und was bedeutet nun щас?”
„Wenn ein Odessit, ach was, ein Slawe sagt, er mache etwas щас, dann meint er: jetzt oder gleich, in zehn Minuten, in fünf Stunden, morgen oder irgendwann. Natürlich kann er das Wort auch ironisch gebrauchen, dann meint er: Das mache ich auf keinen Fall, niemals, leck mich am Arsch, du kannst mich mal.”
„Und ich welcher Bedeutung hast du es gemeint?”
„Darüber muss ich erst nachdenken”, sagte Oleg und lachte. „Щас.”

Cholerische Anfälle im Supermarkt

Es hat eine Zeit gegeben, da gefiel mir das Zeitlupenleben der Odessiten, ich habe jedenfalls beim Blättern in meinen Aufzeichnungen eine Kolumne gefunden vom März 2008. Damals schrieb ich:

Der Müßiggang in Odessa ist ansteckend. Nie in meinem Leben bin ich ruhiger gewesen. Ich esse langsamer. Ich spreche langsamer. Ich denke noch langsamer. Ich. Schreibe. Langsamer. Ich bewege mich langsamer. Wenn ich das erste Mal im Schwarzen Meer bade, werde ich wahrscheinlich aus Faulheit ertrinken.

Vermutlich sind diese Sätze das Positivste, das mir je zu dieser Stadt eingefallen ist. Seitdem geht es bei mir nur noch bergab mit Odessa. Zu meiner Entlastung kann ich anbringen, dass ich den Text als Odessaurlauber verfasst hatte. Ich wusste noch nicht, dass man auch genervt sein kann von dieser Behäbigkeit. Mittlerweile möchte ich dreimal pro Woche im Supermarkt die Regale umschubsen, weil ich zehn Minuten an der Kasse warte, obwohl nur eine Frau mit zwei Wasserflaschen und einer Torte vor mir steht. Mindestens fünfmal am Tag höre ich das Wort щас. Selbst mein Sohn sagt es inzwischen, wenn er nicht vom Töpfchen herunter will.

Ohne Plan

Oleg hat sich entschuldigt und als Wiedergutmachung meinem Sohn einen Baukasten geschenkt. Die meisten Leute ahnen nicht, was sie Vätern antun, wenn sie dem Sohn so etwas schenken. Für Oleg gilt diese Unschuldsvermutung nicht. Er hat sich eine besondere Gemeinheit einfallen lassen. Es handelt sich um ein ukrainisches Auto samt Konstruktionsplan auf Ukrainisch. Mein Sohn ist sauer auf mich, weil die Räder ständig abfallen. Ich bin noch auf der Fehlersuche. Morgen zerlege ich das Auto zum dritten Mal. Oleg will mir unbedingt helfen.

„Sag mal, Oleg, kann es sein, dass der Odessit, nein, der Slawe, ach was, der ganze Oleg ein ziemlich widersprüchliches Wesen ist?”, fragte ich, bevor er sich verabschiedete.
„Was meinst du?”
„Jazz und щас, einerseits Hektik und Eile, andererseits grenzenlose Langsamkeit – ist dir schon mal aufgefallen, dass das seltsam ist?”
„Nö.”
„Ich bin nämlich gerade nicht sicher, ob es auf dieser Welt einen schlimmeren, unerträglicheren Menschentyp gibt.”
Oleg schaute mich an und sagte: „Doch, glaub schon.”

Die Badezimmertür halte ich bis auf weiteres mit einem Gürtel fest.

¹ sprich: sschass

Kolumne: Oleg in der Gehirnjazze

ODESSA, UKRAINE Dieser verdammte Jazz ist an allem schuld. Nur deshalb will mein Freund Oleg Odessa verlassen, was für mich, da ich nun einmal in dieser Stadt lebe, ein bisschen ungünstig ist. Oleg hat sich verändert. Ich glaube, es ist ein Fehler gewesen, zunächst Axel als Urlaubsvertretung für mein Blog einzustellen, aber nicht zu bezahlen und dann auch noch Oleg bei ihm in Franken einzuquartieren, aber weder Taschengeld noch eine Flasche Wodka mitzugeben.

Wenn ich mir vorstelle, dass der Blogger K., der in Uganda lebt, zunächst mich als unbezahlte Aushilfe anheuerte, während er an der Ostsee fröhlich Möwen füttert, und mir dann auch noch seinen Kumpel vorbeischickte – nun, ich wäre auch ein bisschen verstimmt und würde Rache schwören. Vielleicht muss man verstehen, dass Axel keine andere Wahl hatte, als Oleg einer Gehirnjazze zu unterziehen. Ich zitiere aus Axels Beitrag Oleg Fiction vom 25. Oktober:

Vorgestern haben wir zusammen ein Konzert des berühmten Jazz-Schlagzeugers Wolfgang Haffner besucht. Oleg hat das sehr gut gefallen. Er war vorher noch nie auf einem Jazz-Konzert, dementsprechend verwirrt hat er sich immer umgeblickt, wenn nach einem Solo mitten im Lied applaudiert wurde. Nach dem dritten Mal hatte er es dann aber kapiert und auch mitgeklatscht. Ja gut, vielleicht ein wenig zu euphorisch, alle Zuschauer, einschließlich der Musiker sahen von Stund an verwirrt auf Oleg, was Oleg wiederum zu noch mehr Euphorie anstachelte – ein kleiner Teufelskreis nahm da bis zum Ende des Konzerts seinen Lauf. War Oleg aber egal.

Ich bin kein Jazzexperte, das gebe ich zu; ich besitze zwar das Köln Concert von Keith Jarrett, habe es aber noch nie angehört. Es liegt vor allem an dem Titelverzeichnis auf der Rückseite der Platte: Part 1, Part 2 a, Part 2 b, Part 2 c. Das klingt eher nicht nach Tanzmusik. Ich lasse mich von den so genannten Fachleuten gern berichtigen, aber ich kenne nicht einen glücklichen Jazzmusiker, glücklich im Sinn von: auf Anhieb mit sich und der Welt allzeit im Reinen. Nehmen wir nur einmal die Jazzlegende Charlie „Bird” Parker (1920-1955):

Parker war wahrscheinlich schon seit seinem fünfzehnten Lebensjahr heroinabhängig (so Ross Russell). Oft wurde er wegen seines unberechenbaren Verhaltens auf der Bühne aus laufenden Spielverträgen entlassen, so dass er immer seltener feste Engagements bekam. So sah er seinen Stern seit etwa 1950 langsam, aber sicher sinken. Am 12. März 1955 starb Charlie Parker, geschwächt von Leberzirrhose, Magengeschwüren und einer Lungenentzündung, im New Yorker Hotel Stanhope in der Suite der Baroness Pannonica de Koenigswarter, einer Gönnerin schwarzer Jazzmusiker. Quelle: Wikipedia

Die Frage ist natürlich, ob das Leben so schwer ist, weil da unbedingt jemand jazzen muss, oder ob da jemand unbedingt jazzen muss, weil das Leben so schwer ist. Es muss jedenfalls einen Zusammenhang geben. Wie soll ein Musiker, der ständig improvisiert und variiert, wenn er Saxofon spielt, sein Dasein halbwegs im Takt halten? Es geht doch auch anders. Nehmen wir zum Vergleich einmal die Jetztlegende Dieter Günter Bohlen, geboren 13 Monate vor Parkers Tod:

In der ZDF-Show Unsere Besten wurde Bohlen 2003 in einer Zuschauerumfrage auf Platz 30 der „größten Deutschen” gewählt. Quelle: Wikipedia

Dieter Günter Bohlen kommt seit 30 Jahren mit einer Melodie aus und scheint nicht darunter zu leiden, wenn ich mir diese Ferndiagnose erlauben darf. Bohlen improvisiert und variiert allenfalls, wenn er an Frauen spielt.

Ein neuer Grökaz

Axel hat Oleg verjazzt. Oleg ist in eine sektenähnliche Abhängigkeit geraten. Seine Sätze beginnen mit: “Laut Axel ist…” Er verachtet mich, meine Musik, meine Gedanken und vor allem, was besonders schmerzt, meine Kolumnen. Für ihn ist Axel jetzt, was bislang ich gewesen bin: der Humorführer, Grökaz, der Größte Kolumnist aller Zeiten. Axel sei witziger als ich, meint Oleg, klüger, bescheidener, geistreicher, vertrauenswürdiger, höflicher und charmanter. Er könne besser trinken, tanzen, kochen, singen, Auto fahren, lieben.

Ich habe mir das jetzt zwei Tage angehört, ich dachte, es wäre nicht so schlimm. Heute Morgen habe ich mich sogar mit einem ziemlich großen Axelfoto vor den Spiegel gestellt und mich auf einen Attraktivitätsvergleich eingelassen. Oleg hat alles sehr genau analysiert: Frisur (so weit noch oder jemals vorhanden), Augen, Nase, Mund, Männlichkeit und Ausstrahlung. Obwohl das Foto bestimmt bearbeitet worden war, habe ich das Ergebnis nicht angefochten. Ich wollte keinen Krach. Ich überhöre ja auch, dass Olegs Rrrrussisch neuerdings fränkisch gefärbt klingt. Er spricht wie Lothar Matthäus nach drei Jahren Verbannung als Trainer von Luch Wladiwostok.

Die Sache mit den F-Wörtern

Zehn Minuten später musste ich mich aber verteidigen.
„Außerdem ist er nicht so verklemmt wie du”, sagte Oleg.
„Ich bin nicht verklemmt. Wie kommst du darauf?”, fragte ich.
“Weißt du nicht mehr, was Axel bei dir über den RAF-Terroristen Andreas Baader geschrieben hat?”
“Ach so, ja, du meinst die beiden F-Wörter.”
“Welche F-Wörter?”, schrie Oleg.
“-icken und -otze.”
“Siehst du”, sagte Oleg.

Ich habe ihm erklärt, Axel sei nicht aus der Welt, er ernähre sich gesund, schreibe regelmäßig Kolumnen und werde deshalb noch mindestens 40 Jahre leben. Ich wollte Oleg beruhigen. Er aber war kurz davor, mich zu würgen.

„Es geht doch gar nicht um mich, du Idiot”, schrie er abermals. „Ich weiß nicht, wie Axel es ohne mich aushalten soll – bis Heiligabend.”

[Nach seiner unehrenhaften Entlassung aus diesem Blog kümmert sich Axel übrigens wieder verstärkt um seine Projekte. Wer ihn besuchen will, muss nur hier oder hier klicken]