Schlagworte: Korruption

Im Spielzeugland “Dynamo”

KIEW, UKRAINE Wahrscheinlich wissen Sie längst, wo ich gerade gewesen bin – jedenfalls dann, wenn Sie das Knallerspiel der Champions League zwischen Dynamo Kiew und dem FC Rubin Kasan geschaut haben. (Dass Kasan Hauptstadt der autonomen Republik Tartastans ist und die autonome Republik Tarstastan wiederum zu Russland gehört, hätte ich vorher auch nicht auf Anhieb gewusst.) Ich saß am Abend im Walerij-Lobanowski-Stadion auf Höhe der Eckfahne im Block 18, Reihe 10, Platz 27 und habe – aber das kann Ihnen nicht entgangen sein – tüchtig gewinkt.

Ich vermelde hiermit Dynamos 3:1-Sieg. Wäre ich als Sportreporter an- und abgestellt beim Mitteldeutschen Rundfunk, würde ich das Spiel so zusammenfassen: “Es war ein verdienter Erfolg der Dnepr-Städter – dank einer klaren Leistungssteigerung in Hälfte zwei.” Dynamo hat in der ersten Halbzeit tatsächlich grauenhaft gespielt – trotz Andrej Schewtschenko, dem Fußballhelden der Hauptstadt, genannt “Schewa”, Dynamos Dauertorschütze Mitte bis Ende der Neunziger und einst 50 Millionen Euro teuer.

Nach erfolgreichen Jahren beim AC Mailand und folgender Tribünenhockerei beim Chelsea FC war er vor der Saison heimgekehrt. Mitleid müssen Sie nicht haben: Schewtschenko, mittlerweile fast 33 Jahre alt, verdient so viel wie kein anderer Fußballer in der Ukraine. Mit seinem Arbeitgeber müssen Sie deshalb freilich auch kein Mitleid haben, denn Dynamo Kiew gehört Grigorij Surkis, einem dieser spielzeugsüchtigen Oligarchen, die es in Russland und der Ukraine zuhauf gibt. Surkis ist Großindustrieller, Fußball-Präsident der Ukraine, Mitglied des Exekutivkomitees der Uefa und natürlich Politiker. Sein Ruf könnte besser sein. Angeblich hat er einmal wegen des Korruptionsverdachts nicht in die USA einreisen dürfen. Andererseits ist die Kombination Oligarch, Fußballfreund und Politiker auch denkbar ungünstig, um sympathisch zu wirken. Finden Sie aus dieser Riege in der Ukraine mal jemanden, dessen Ruf nicht noch schlechter ist als der eines Gebrauchtwagenhändlers.

In der ersten Halbzeit hatte Schewtschenko, Surkis neue Spielfigur, zwei gute Szenen: Einmal ergrätschte er vom Gegenspieler rustikal den Ball. Beim zweiten Mal richtete er wunderschön seine Haare. (Er trägt sie jetzt wieder länger.) Ich hatte ihn ja vor ein paar Monaten aus Gier nach einem schnellen Witz zum FC Sachen Leipzig in die fünfte Liga transferiert – auf diesem Niveau spielte Schewtschenko. Er war einer von elf Schwächlingen. In der zweiten Halbzeit waren dann einige Spieler besser als er.

Die drei Tore, die Dynamo nach der Pause schoss, wurden so gefeiert:

Ich gebe aber gern zu, dass die Leute um mich herum das nicht witzig fanden, zumal es dort brannte, wo neben Fotografen und Aufpassern, die augenscheinlich kaum älter als 16 waren, auch Balljungen standen. Die Stadionsprecherin erzählte zwar jedes Mal aufgeregt, es sei verboten, pyrotechnischen Kram herumzuschmeißen – allerdings hätte man die Besucher vielleicht auch am Einlass kontrollieren können. Ich habe nicht gesehen, dass irgendjemand abgetastet worden wäre.

Und nun präsentiere ich Ihnen noch stolz das sebstgedrehte Tor zum 3:1, geschossen von Oleg Gusev.

(Vielleicht ergänze ich diese Geschichte später noch ein bisschen.)

Dumm und Duma

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes

Das Taurische Palais war Geburtsstätte, Zitadelle und Friedhof der russischen Demokratie. Bis Februar 1917 war es Sitz der Duma. (…) In dieses elegante Palais brachten die bäuerlichen Duma-Abgeordneten die politische Kultur ihrer Dorfscheunen. “Man musste sich nur in diesem bunten Haufen von … ,Abgeordneten’ … umsehen”, bemerkte ein schockierter höherer Beamte, “und man schauderte angesichts dessen, was sich einem da als Russlands erste Abgeordnetenversammlung darbot. Es war eine Ansammlung von Wilden. Offenbar hatte die russische Provinz alles, was es dort an Barbarischem gab, nach Petersburg gesandt.” (…) Der muffige Geruch vom billigen Tabak der Bauern und ihrer Kleidung füllte die langen Gänge des Palais. Der Boden war übersät mit den Spelzen ihrer Sonnenblumenkerne, die sie trotz aller Verbotsschilder überall hinspuckten, da die meisten von ihnen gar nicht lesen konnten. Einige Bauernabgeordnete betranken sich in Kneipen, gerieten in Schlägereien, und wenn versucht wurde, sie zu verhaften, beriefen sie sich auf ihre Immunität als Duma-Abgeordnete. Zwei erwischte man sogar dabei, wie sie “Eintrittskarten” ins Taurische Palais verkauften. Es stellte sich heraus, dass sie bereits kleinerer Diebereien und Schwindeleien überführt worden waren, weshalb man sie eigentlich von der Wahl hätte ausschließen müssen.

Zum Glück ist heute alles ganz anders.

Herzlichen Glückwunsch, Ukraine

Transparency International hat ein frisches Korruptionsbarometer veröffentlicht. Die Ukraine belegt mit einem Wert von 4,3 (0=überhaupt nicht korrupt, 5=extrem korrupt) den letzten Platz unter sieben GUS-Staaten sowie der Mongolei. Auch kein anderes der 69 untersuchten Länder erreicht diesen Wert. Befragt wurden zwischen Oktober 2008 und Februar 2009 weltweit mehr als 73000 Leute, in welchen Lebensbereichen die Korruption besonders stark zu spüren sei. In der Ukraine gab es vom 4. bis 12. November eine landesweite Befragung mit 1200 Bürgern.

Und hier sind die Ergebnisse der Ukraine:

Die Daten, die Transparency International erheben lässt, sind die Arbeitsgrundlage aller Korruptionsbekämpfer. Den Bericht samt Fragebogen gibt es hier zum Herunterladen.

Schlag den Staat

Nachgestellte Szene (fehlerhaft)

Die Handlung und die handelnden Personen dieser Geschichte sind fast frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit toten oder lebenden Personen oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens ist nicht beabsichtigt und wäre rein zufällig. Und die Überschrift ist auch fast geklaut – von dem hier nämlich.

ODESSA/KUTSCHURGAN, UKRAINE Zum Glück habe ich den Türöffner auf zwei Beinen, ich wäre ohne ihn verloren. Der Mann, ein ziemlich hoher ukrainischer Staatsdiener, hat in den vergangenen zwei Wochen viel telefoniert, um herauszufinden, wie ich mein Auto wieder legalisiere. Es ist illegal in Odessa. Ausländer, die ihr Auto nicht registrieren lassen, müssen es alle zwei Monate aus dem Land schaffen. In der Region Odessa genügt dafür eine Fahrt zur moldawischen Grenze und zurück. Ich habe es leider nie getan. Das Auto ist seit Mai 2008 am Schwarzen Meer. Recherchen, soweit sie in einem Land wie der Ukraine zumal für einen Ausländer überhaupt möglich sind, ergeben, dass ich mit einer Strafe zwischen 800 und 2000 Euro rechnen muss. Theoretisch könnte der Wagen auch beschlagnahmt werden. Genaues weiß auch mein Türöffner nicht. Es hänge möglicherweise vom Zöllner ab, der kontrolliere, sagt er.

Da ich nichts riskieren will, organisiert mein Beamtenfreund eines Nachmittags eine Konsultation in einer Behörde. Als wir dort ankommen, telefoniert er und sagt: „Mach mal bitte die Tür auf.” Eine Minute später öffnet ein Uniformierter. Wir laufen durch einen langen Flur. Links und rechts in den Büros wird sich offenkundig auch nicht unbedingt überarbeitet. Die Schreibtische sind leer. Nach hundert Metern schließt der Uniformierte eine Tür auf, und schon sind wir wieder an der frischen Luft – bloß auf der anderen Seite des Gebäudes. Irgendwann stehen wir vor einem anderen Beamten. Mein zweibeiniger Türöffner erklärt die Lage. Der Beamte schaut, ob mein Auto im Computer eingetragen ist, und findet nichts. Warum das so ist, weiß er nicht. Vielleicht bin ich vor 13 Monaten gerade noch eingereist, bevor an den ukrainischen Grenzen ein System eingeführt worden ist, in dem alle Autos gespeichert sind. Es wird eine Weile diskutiert, das Risiko kalkuliert und schließlich entschieden, es könne ohne Angst vor einer Beschlagnahme zur Grenze gefahren werden.
„Wann?”, frage ich.
„Jetzt”, sagen beide Männer gleichzeitig.

Fast hätte ich gar nicht fahren können. Am Mittag ist das Auto in der Garage nicht angesprungen. Die Batterie war tot. Ein anderer Bekannter, diesmal kein hoher Staatsdiener, kam vorbei, baute seine Batterie aus und wiederbelebte meinen Koma-Skoda. Als ich erzählte, ich hätte den Motor das letzte Mal im November oder Dezember gestartet, genau wisse ich das nicht mehr, schüttelte er nur den Kopf.

Mein Türöffner reicht mir seine Visitenkarte, die ihn als hohen Beamten ausweist, und sagt, ich solle sie in meinen Pass legen und anrufen, falls die Zöllner Probleme machten. Dann verabschiede ich mich und fahre mit meiner Begleiterin in Richtung Chişinău (Kischinau) zur moldawischen Grenze nach Kutschurgan.

Gaischnik bei der Arbeit (Archivbild aus Odessa)

Wir haben Odessa kaum verlassen, da werden wir an einem Kreisel von zwei Gaischniki angehalten, wie die Verkehrspolizisten der Staatlichen Autoinspektion (GAI, ukrainisch offiziell: DAI) vom Volk genannt werden.  Ich habe sie bereits vor mehr als einem Jahr kennen gelernt, als ich von Deutschland nach Odessa fuhr. Gaischniki sind berüchtigte Vergehenerfinder und Handaufhalter. Wenn sie eine Strafe aussprechen wollen, entdecken sie auch einen Grund – oder suchen sich einfach einen Raser wie damals bei mir. Die Berliner Zeitung schrieb einmal:

Ebenso zutreffend wäre es indes, die GAI als landesweites System staatlicher Willkür zu bezeichnen. In ihrer sowjetischen Blütezeit betrieb die GAI an jeder Kreuzung einen mit mindestens zwei Beamten besetzten Posten, an dem „slatkije bulotschki” verdient wurden, als „süße Brötchen” bezeichnete Bestechungsgelder. Wie alle sowjetischen Beamten arbeiteten die GAIschniki für einen Hungerlohn. Dass der Beruf des Verkehrspolizisten dennoch begehrt war und für einen Platz an einem GAI-Posten viel Geld floss, ist damit zu erklären, dass die Chancen der Beamten, sich ein Zubrot zu verdienen, fast unbegrenzt waren.

So nahm sich ein Verkehrspolizist das Recht, jeden Pkw-Fahrer anzuhalten und wegen tatsächlicher oder angeblicher Verstöße gegen die Verkehrsordnung zur Aufbesserung seines Gehalts zu zwingen. Die GAI hieß deshalb im Volksmund DAI! – „Gib!”. Und mancher GAIschnik kam auf diese Weise zu einem Eigenheim, wenigstens aber zu einer Datsche.

Nachdem sie Pässe und Führerschein studiert haben, entdecken die Gaischniki im Fahrzeugschein ein Problem: Mein TÜV ist schon im Oktober 2008 abgelaufen. Die Polizisten verwechseln den TÜV mit der Abgasuntersuchung, was aber nicht weiter nicht schlimm ist. Denn die ist auch abgelaufen. Sie schreien und drohen, sie würden das Auto beschlagnahmen. Meine Begleiterin zeigt ihnen das Dokument der deutschen Botschaft in Kiew, das ihr Schikanekontrollen ersparen soll, wie sie für Ausländer in der Ukraine üblich sind. Man solle ihr „Unterstützung, besonders in Fragen des Reisens, des Straßenverkehrs und der Grenzübertritte, gewähren”, heißt es. Die beiden Gaischniki schauen es an, lesen den ukrainischen Text, halten das Blatt gegen die Sonne, um die Echtheit des Stempels zu prüfen, und schauen danach auf mich. Es schmeichelt mir durchaus, dass sie sich vorstellen können, ich hätte das Botschaftsschreiben gefälscht.

Wir rufen ein paar Bekannte an, die in Odessa in hohen Positionen arbeiten und reichen das Telefon an einen der Polizisten weiter, vielleicht beeindruckt das ja. Es beeindruckt überhaupt nicht.
„Wären Sie eine echte Odessitin, wüssten Sie, was zu tun ist”, sagt der Gaischnik zu meiner Begleiterin und Verhandlungsführerin.
„Ich bin zwar keine echte Odessitin, aber ich verstehe trotzdem, was Sie meinen. Endlich sagen Sie’s.”
„Dann komm mal mit.”

Meine Begleiterin holt 100 Griwna, umgerechnet fast zehn Euro, aus dem Auto und geht zum Dienstwagen der Beamten. Der Gaischnik lehnt das Honorar allerdings ab und sagt, solch geringe Beträge nehme er nicht an, davon fühle er sich persönlich beleidigt. Genau so sagt er es: „Sie beleidigen mich persönlich.” Dann wünscht er eine „glückliche Reise”.

Ein Anruf bei der Werkstatt, in der ich mein Auto schon einmal reparieren lassen habe, ergibt, dass wir uns nicht fürchten müssen vor weiteren Kontrollen. Die Abgasuntersuchung sei eine deutsche Vorschrift, folglich gelte sie auch nur in Deutschland, sagt der Chef. „Aber wenn es dich beruhigt, kannst du eine ukrainische Untersuchung bekommen. Die brauchst du zwar nicht, aber vielleicht fühlst du dich dann besser.”

Erst vor einer Woche war ich bei ihm gewesen, weil der Türöffner meinte, ich solle mir zur Sicherheit für die Fahrt zu Grenze einen Schein ausstellen lassen, dass mein Auto ein Jahr kaputt gewesen sei. Der Werkstatt-Chef hatte daraufhin einen Fotografen angerufen, der bei ihm Kunde ist und einen Verkehrspolizisten kennt. Der Fotograf telefonierte, rief zehn Minuten später zurück und bestätigte, dass es Probleme geben könne und der Polizistenfreund von einer Fahrt nach Kutschurgan dringend abrate, so lange man dort keinen zuverlässigen Zöllner kenne.

Den Rest der Strecke bis zur Grenze, knapp 75 Kilometer insgesamt, schaffen wir ohne Probleme. Die Straße ist durchaus passabel, kaum Schlaglöcher, nur ein paar Wellen, links und rechts Weizenfelder, hier und dort ein paar Kühe und Ziegen. Viele Leute in dieser Region, einst Heimat deutscher Auswanderer, arbeiten in Odessa. Manchmal ist eine Viertelstunde lang kein Mensch zu sehen. Nicht anders sieht Vorpommern aus.

Vor der Grenze tauschen wir die Plätze, ich setze mich nach hinten und überlasse meiner Begleiterin das Steuer. Wir hoffen, dass die Zöllner bei einer Frau ein bisschen weniger auf das Auto schauen – und ein bisschen mehr auf – auf irgendetwas anderes. Zwei Kinder haben wir zur Sicherheit auch dabei. Im Journalismus gibt es den schönen Satz: „Tiere und Kinder gehen immer.” Gemeint ist: Geschichten über Tiere und Kinder lesen die Leute gern. Für uns sollen die Kinder die Zöllner nur etwas milde stimmen, falls es eng wird. Die Kleine wird angewiesen, auf Kommando ganz theatralisch zu weinen. Ich lese auf ihrem sechs Wochen alten Gesicht, dass sie verstanden hat und mitspielen wird.

Während die Pässe kontrolliert werden, streicht ein Zöllner ums Auto, entdeckt die abgelaufene Plakette am Kennzeichen und beginnt mit meiner Begleiterin ein Gespräch, lässt sich dann aber doch beschwichtigen. Links, in der anderen Kontrollspur, ist gerade ein moldawischer Rollerfahrer angekommen. Er trägt weder Helm noch Hemd. Eine Minute später ist er schon wieder weg. Auch wir dürfen ausreisen. Die Kleine braucht nicht zu weinen, tut es aber trotzdem.

Der moldawische Zöllner fragt, wohin wir fahren würden. Meine Begleiterin erzählt, wir wollten Freunde in Chişinău besuchen. Der Blick des Mannes sagt: Ja ja, deine Mudder.

Text zum Mitsingen

Er schickt uns zum Registrieren. Während abermals die Pässe durchgeschaut werden, schreit die Kleine plötzlich, obwohl ich nichts angewiesen habe. Als alles erledigt ist, fragt meine Begleiterin den Zöllner, ob er ein Café zum Verschnaufen empfehlen könne. Er glaubt natürlich nicht, dass wir Moldawien bereisen wollen, wir sind schließlich nicht die ersten Ausländer, die bei ihm ihr Auto wieder legal machen. Er sagt nur: „Kehren Sie besser gleich um. Hier gibt’s sowieso nichts.” Wir wenden noch vor dem letzten Kontrollpunkt und treffen gleich wieder auf den Moldawier, dem wir gerade noch etwas von Freunden in Chişinău erzählt haben. Er lächelt nicht, er grinst. Der zweibeinige Türöffner ruft an und fragt, wo wir steckten. Ich kann ihn beruhigen. Wir haben seine Visitenkarte niemandem zeigen müssen. Er ist darüber nicht unglücklich.

Die Ukrainer nehmen uns wieder auf. Die letzte Passkontrolle geschieht ohne Probleme. Während die Begleiterin die Emigrationskarten ausfüllt, wechsele ich der Kleinen die Windel. Wohl deshalb hat sie bei den Moldawiern so wild geschrien.

Erleichtert, geradezu glücklich, die Strafe gespart zu haben, darf das Auto in die Waschstraße. Dort ist es zuletzt vor 14, 15 oder 16 Monaten in Deutschland gewesen – so genau weiß ich auch das nicht mehr.

Kiewer Glücks-Loddarie

So wird die EM 2012 in der Ukraine

Lassen Sie sich von dieser so genannten Meldung nicht verrückt machen. Die Fußball-Europameisterschaft 2012 findet definitiv in Polen und der Ukraine statt. Natürlich, es fehlen in der einstigen Sowjetrepublik Stadien, Hotels, ein halbwegs modernes Verkehrssystem, Rechtssicherheit. Vorhanden, und zwar im Überfluss, sind Chaos und Korruption.

Regierungschefin Julia Timoschenko hat versprochen, man würde trotz der wirtschaftlichen und politischen Dauerkrise „selbst Unmögliches schaffen”, aber jeder Ukrainer weiß: Trau niemals einem Politiker, ob du ihn gewählt hast oder nicht. Besser hofft man zwischen Kiew, Donezk und Odessa auf Michael Platini. Seit seiner etwas dubiosen Wahl zum Präsidenten des europäischen Fußballverbandes (Uefa) 2007 muss sich der Franzose dem Osten und besonders der Ukraine verbunden fühlen.

Im Formtief steckt übrigens auch die deutsche Mannschaft. Zwischen Michael Ballack und Bundestrainer Joachim Löw kriselt es. Werden sich die beiden vertragen? Gewinnt Ballack seinen ersten großen Titel? Und gelingt Rekordnationalspieler Lothar Matthäus, Kosename Loddar, endlich der Durchbruch als Fußballlehrer?

Interne Papiere aus Platinis Büro und Dokumente des ukrainischen Geheimdienstes, die diesem Blog zugespielt worden sind, verraten, was in den nächsten 1122 Tagen bis zum Anpfiff des Eröffnungsspiels am 9. Juni 2012 geschehen wird. Der Turnierverlauf ist längst beschlossen.

2009

10. Oktober
Moskau + Deutschland spielt gegen Russland in der WM-Qualifikation. Kapitän Ballack wird zur Halbzeit ausgewechselt, weil er friert. Für ihn kommt Toni Kroos. Torsten Frings, Europas begnadetster Ballquerschieber, wurde erst gar nicht nominiert. Mit einem 1:1 qualifiziert sich die Elf von Joachim Löw für Südafrika.

15. Oktober
Straßburg + DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger leidet noch immer unter dem „unglaublichen Demagogen”, als den ihn der Journalist Jens Weinreich im Sommer 2008 bezeichnet hatte. Zwanziger würde gern vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen. Auf Rat des DFB-Mediendirektors Harald Stenger kauft er aber die Domain www.doktorspiele.de und gründet ein Blog.

1. Dezember
London/Frankfurt/Bremen + Ballack verkündet per SMS seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Löw und sein Co-Trainer Hans-Dieter Flick wollen ihn zum Weitermachen überreden und schlafen im Auto vor Ballacks Londoner Haus. Sie essen selbst geschmierte Brote und trinken Tee aus der Thermoskanne. Einmal pro Stunde muss Flick zum Klingeln hinaus in die Kälte, er hat den Weg mit Hütchen abgesteckt. Am dritten Tag ruft Ballack die Polizei. Die Trainer werden wegen Wegelagerei und Nötigung festgenommen.

Werder Bremens Edeljoker Torsten Frings ist auch zurückgetreten.

4. Dezember
Kiew + Uefa-Präsident Michel Platini besucht die Hauptstadt. „Wie weit sind die Pläne für die Fanmeile?”, fragt der Franzose. Präsident Wiktor Andrejewitsch Juschtschenko verweist auf Julia  Timoschenko. Platini, der achtmächtigste Sportfürst der Welt, ruft die Regierungschefin an. „Michel François, Sie sprechen noch mit dieser Pfeife?”, fragt sie und verspricht: „Ich kümmere mich darum.” Platini fährt erleichtert nach Odessa, wo die schönsten Frauen der Ukraine leben.

14. Dezember
Kiew + Wer gewinnt die Präsidentschaftswahl in der Ukraine? Juschtschenko, seit 2005 im Amt, tritt abermals an, obwohl er in Umfragen weit hinter Timoschenko liegt. Die zwei Helden der Orangen Revolution sind inzwischen schlimmer verfeindet als die Torhüter Uli Stein und Toni Schumacher 1986.
„Sicher gibt es Probleme, aber wir schaffen das”, sagt Timoschenko im Fernsehduell (Einschaltquote 1,5 Prozent).
„Wir schaffen das, aber sicher gibt es Probleme”, sagt Juschtschenko.
„Glauben Sie dem Präsidenten kein Wort.”
Juschtschenkos Berater haben vorab großflächig die Journalisten geschmiert. Die Medien erklären ihn zum Sieger.

2010

17. Januar
Kiew + Juschtschenko erreicht 0,9 Prozent.

3. Februar
Köln + Ballack und Frings besuchen gemeinsam den Trainerlehrgang.

9. März
Kiew + Die neue Präsidentin Timoschenko erklärt die EM zur „Chefsache”.

19. März
Kiew + Wiktor Andrejewitsch Juschtschenko zieht mit seiner amerikanischen Frau Kateryna nach Texas. Er steigt ins Ölgeschäft ein und ändert seinen Namen. Er heißt jetzt Wik A. Jusch.

6. April
Kiew + Lothar Matthäus (49) kündigt bei Kirgisistans Rekordmeister FK Dordoi-Dynamo und unterschreibt einen Vertrag als Coach der Ukraine. Auf seiner ersten Pressekonferenz sagt er, er verbinde mit seinem Amt auch eine politische Mission. Der Rest geht im lauten Gelächter der Journalisten unter.

12. April
Frankfurt + Dr. Theo Zwanziger veröffentlicht seinen ersten, von fünf DFB-Juristen gegengelesenen Blogeintrag und erzählt von einer Radtour in der Eifel.

29. April
Kiew + Matthäus trennt sich von seiner vierten Frau, der 26 Jahre jüngeren gebürtigen Ukrainerin Liliana.

2. Mai
Austin + Wik A. Jusch kandidiert für den Gouverneursposten von Texas. Er verspricht, den Super Bowl nach Dallas zu holen.

12. Mai
Kiew + Timoschenko erklärt die EM zur „absoluten Chefsache”.

19. Mai
Kiew + Lothar Matthäus hat eine neue Freundin: Larissa (17). „Ich habe schon als Mädchen für ihn geschwärmt”, sagt die Kiewerin „Bild”. Matthäus sagt: „Ich habe die Frau fürs Leben gefunden.”

22. Mai
Austin + Wik A. Jusch wird – gegen die Stimmen der ukrainischen Minderheit – Gouverneur von Texas.

29. Mai
Kiew + Matthäus zieht aus dem Premier Palace Hotel (250 Dollar die Nacht) aus und wohnt künftig bei der Familie seiner Freundin in einem Hochhausblock am Stadtrand. Das Zimmer teilt er sich mit Larissas Brüdern Kolja (5), Dimitrij (8) und Wladimir (12).

9. Juni
Przemysl + Am Grenzübergang stellen Polen und die Ukraine ihr gemeinsames EM-Maskottchen vor. Es heißt Poline. Europas Zoologen rätseln.

12. Juli
Johannesburg/Gelsenkirchen + Nach dem Vorrunden-Aus bei der WM tritt Bundestrainer Löw zurück. Peter Neururer, seit einem Jahr ohne Verein, bewirbt sich als erster um die Nachfolge.

12. Juli
Frankfurt + Peter Neururer wird laut DFB nicht neuer Bundestrainer.

28. August
Kiew + Julia Timoschenko erklärt das Turnier zur „nationalen Angelegenheit”. „Frage nicht, was die EM für dich tun kann, frage, was du für die EM tun kannst”, sagt sie in einem Interview und kündigt Subventionen für Investoren an.

15. November
Kiew + Die Ukraine löst ein Teil ihres Infrastrukturproblems: Für 40 Milliarden Euro wird von Deutschland der Transrapid gekauft. In der Rekordzeit von zwei Monaten soll er die Spielorte Kiew, Lemberg, Dnepropetrowsk und Donezk verbinden. Ukrainische Ingenieure garantieren dies der Präsidentin mit einem Eid.

Dezember 2010
Kiew + Laut Plan soll der 230 Millionen teure Umbau des Olympiastadions in diesem Monat abgeschlossen werden. In Wahrheit hat er noch gar nicht begonnen.

2011
2. Januar
Kiew/Moskau + Ein neuer Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine ist pünktlich zum neuen Jahr ausgebrochen. Timoschenko bietet Wladimir Putin die EM an, wenn er alle Gasschulden streicht.

4. Januar
Kiew + Politisches Chaos. Die Polizisten streiken aus Protest gegen Timoschenkos Angebot. „Wir freuen uns so auf die EM-Touristen”, sagt ein Sprecher. „Viele Kollege haben sich angesichts der zu erwartenden Einnahmen ein Haus gebaut. Da stehen Existenzen auf dem Spiel.”

5. Januar
Kiew + Auch der Verband der ukrainischen Hütchenspieler, Wahrsager, Taschendiebe, Geldfälscher, Räuber und Bordellbetreiber (VUHWTGRUB) droht mit Konsequenzen.

6. Januar
Austin + Wik A. Jusch trägt einen Cowboyhut, als er im Garten seines Amtssitzes in Austin, Texas, Timoschenko kritisiert: „Ich habe keine Zweifel mehr: Sie ist eine Agentin Moskaus.”

9. Januar
Moskau + Putin lehnt Timoschenkos Angebot ab und schlägt vor, dass die Olympischen Spiele 2014 statt in Sotschi auf der Halbinsel Krim stattfinden. Russland würde der Ukraine auch Schnee unter Weltmarktpreis liefern.

15. Februar
Kiew + Der Transrapid soll in den nächsten Tagen seine Jungfernfahrt haben.

2. März
Berlin + Die deutsche Nationalmannschaft spielt wunderschönen Fußball. Toni Kroos und Mesut Özil sind das neue Traumpaar im Mittelfeld. Der begnadigte Kevin Kuranyi trifft in der EM-Qualifikation, wie er will, er genießt das neue Spielsystem: 2-4-4. Offensivtrainer ist der 44- bis 50-jährige Ghanaer Anthony Yeboah.

21. März
Kiew + Lothar Matthäus feiert seinen 50. Geburtstag im Kreise seiner neuen Familie. Die Schwiegereltern Jurij (38) und Tamara (35) schenken ihm einen Fernseher vom Flohmarkt fürs Kinderzimmer. Auch drei Redakteure und ein Fotograf von „Bild” sind dabei.

15. April
Kiew + Die Transrapidstrecke ist fast fertig.

12. Mai
München + Matthäus verpflichtet seinen Ex-Schwiegervater, Doktor Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, als Arzt der Nationalmannschaft.

9. Juni
Kiew + Der Umbau des Olympiastadions, dem Austragungsort des Finales, macht auch ein Jahr vor der EM keine Fortschritte. Die Uefa wartet auf den Spatenstich. Polen zieht aus Protest seinen Botschafter ab.

22. Juni
Johannes B. Kerner kehrt von Sat 1 zurück zum ZDF. Er arbeitet jetzt nur noch drei Tage pro Woche: Montags, mittwochs und freitags moderiert er das Morgen-, Mittags-, Abend- und Nachtmagazin.

10. Juli
Donezk/Dnepropetrowsk + Noch immer gibt es zu wenige Übernachtungsmöglichkeiten. Vor allem in Donezk und Dnepropetrowsk, die kaum von Touristen besucht werden, fehlen Hotels. Der deutsche Unternehmer Jürgen B. A. U. Löwe lässt in beiden Städten straßenweise verfallene Häuser restaurieren. Das Geld leiht er sich von ukrainischen Banken.

15. August
Kiew/Leipzig + Die Bagger kommen endlich ins Olympiastadion. Es wird abgerissen. Leipzig schenkt Kiew, seit 1961 Partnerstadt, sein Zentralstadion. Die Leipziger bemerken das Fehlen erst nach drei Wochen. Als nachträgliche Ablösesumme wechselt der ukrainische Stürmerstar Andrej Schewtschenko (35) vom AC Mailand zum Regionalligisten FC Sachsen Leipzig und verspricht den Aufstieg. Der FC Sachsen – Zuschauerschnitt: 3011 – spielt wieder im Alfred-Kunze-Sportpark im Stadtteil Leutzsch gegen Altona 93, FC Oberneuland, VFC Plauen und Hansa Rostock I.

2. September
Kiew/Frankfurt (Oder) + Matthäus engagiert Witalij Klitschko als Dolmetscher und Spezialtrainer für den Angriff. Klitschko empfiehlt Henry Maske (47), Faustkämpfer im Ruhestand, für die Abwehr, doch der lässt ausrichten, er bereite sich auf sein Comeback vor. „Ich werde gegen Dariusz Michalszewski kämpfen. Es bleibt aber bei diesem einen Kampf.”

19. September
Kiew/Berlin + Lothar Matthäus gründet die Lothar-Matthäus-Ukraine-Stiftung. „Der Westen braucht uns”, ist das Motto. Matthäus wird von Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) im Kanzleramt empfangen. Nachher berichtet der Rekordnationalspieler: „Ein Lothar Matthäus hat immer offen seine Meinung gesagt, auch wenn es unbequem war. Der Bundeskanzler versteht mich, er ist ja auch Franke.”

30. September
Odessa + Platini wird zum dritten Mal Vater. Taufpate der kleinen Svetlana ist Matthäus.

2. Oktober
Hamburg + In der Bundesliga ist der Rekord von Gerd Müller – 40 Tore in einer Saison – in Gefahr. Sandro Wagner (HSV) erzielt am 12. Spieltag seinen 16. Treffer.

9. Oktober
Dnepropetrowsk + Platini eröffnet einen Zeltplatz mit Blick auf den Dnepr für 15000 EM-Besucher. Vor Freude weiht er gleich noch eines der drei blauen Dixie-Klos ein und sagt danach: „Hier kann man es aushalten.”

13. November
Kiew + Lothar Matthäus tritt zum russisch-orthodoxen Glauben über.

24. Dezember
Hamburg + Sandro Wagner, Jäger des Müller-Rekords, stolpert über eine heruntergefallene Weihnachtsbaumkugel und fällt bis zum Ende der Rückrunde aus.

2012
4. Januar
Köln + Ballack und Frings bestehen die Trainerprüfung.

12. Februar
Nyon + Um die ukrainischen Innenstädte zu entlasten, will die Uefa Fanmeilen im Grünen und ringt tagelang um ein Konzept. Nach einer Nachtsitzung verkündet Platini schließlich: „Dnepr, Desna und Dnister – wir machen Fanflüsse.”

9. März
Kiew + Lothar Matthäus gerät mehr und mehr in die Kritik. Seine Mannschaft hat die vergangenen drei Freundschaftsspiele verloren: 1:2 gegen Italien, 1:3 in der Schweiz und 1:4 in Turkmenistan.

12. März
Kiew/Krim + Larissa feiert ihren 18. Geburtstag und heiratet Lothar Matthäus. Trauzeugen sind Franz Beckenbauer und ein gewisser Rinat Achmetow, Oligarch, reichster Mann der Ukraine, Präsident des Fußballklubs Schachtjor Donezk, zigfacher Milliardär und Ex-Straßenkämpfer.
„Trainer, brauchst du was?”, fragt Achmetow nach der Trauung.
„Ein Farbfernseher wäre nicht schlecht.”
„Hab gehört, lebst im Kinderzimmer, spricht sich rum, so was.”
„Wie kommen Sie überhaupt auf die Hochzeit?”, fragt Matthäus.
„Das könnte ich dich auch fragen”, sagt Achmetow. „Sagen wir einfach, ohne mich geht nichts in diesem Land, okay?”
„Okay.”
„Schon das mit Platini gehört, Trainer? Ist doch verdammt gut gelaufen für uns.”

13. März
Berlin + „Bild” zitiert Jurij und Tamara mit den Worten: „Er ist unser Traumschwiegersohn.” Die „taz” bringt Lothar und Larissa Matthäus auf der ersten Seite. Larissa trägt ein weißes Hochzeitskleid und sitzt im Kinderwagen mit einem Schnuller im Mund. „Lothar liebt Lolita”, lautet die Schlagzeile. Seine Flitterwochen verbringt das Paar auf der Halbinsel Krim.

14. März
Hamburg + „Der Spiegel” findet in Ghana Dokumente, die belegen, dass Antony Yeboah schon 68 Jahre alt ist.

16. März
Kiew + Der Manager von Dynamo Kiew ist außer sich vor Wut. Auch die Sportjournalisten kritisieren, dass der Nationaltrainer drei Monate vor Beginn des Turniers verschwindet. Matthäus verteidigt sich: „Witalij schaut sich alle Spiele an. Er weiß, wer in Form ist.”

29. März
Frankfurt + Johannes B. Kerner löst Harald Stenger als DFB-Mediendirektor ab, bleibt aber Morgen-, Mittags-, Abend- und Nachtmagazin-Moderator des ZDF.

15. April
Kiew + Lothar Matthäus nominiert den endgültigen Kader. Er verzichtet auf Spieler aus dem Osten der Ukraine, von Schachtjor Donezk und Metallist Charkow. Stattdessen beruft er fünf Neulinge vom Absteiger FK Lemberg. „Ossis bringen’s einfach nicht”, sagt er.

16. April
Kiew + Matthäus telefoniert mit Achmetow.

16. April + Hiobsbotschaft für Matthäus: Die fünf nominierten Lemberger Spieler haben sich verletzt und fallen für das Turnier aus. Fünf Akteure von Schachtjor werden nachnominiert.

30. April
Kiew + Nur die Hälfte der Eintrittskarten für die EM-Spiele in der Ukraine ist verkauft. Wer Karten bestellen will, muss eine Schwimmstufe – mindestens Seepferdchen – nachweisen. Platini verteidigt trotzdem das Konzept der Fanflüsse.

15. Mai
Leipzig + Der FC Sachsen steigt wegen des schlechteren Torverhältnisses von 97:197 in die fünfte Liga ab. Schewtschenko gewinnt mit 97 Treffern die Torjägerkanone und verlängert seinen Vertrag trotz diverser Angebote – unter anderem vom FC Oberneuland, von Altona 93, dem VFC Plauen und Hansa Rostock I. „Ich fühle mich in Leutzsch sehr wohl”, sagt er.

19. Mai
Malente + Die ukrainische Nationalelf bezieht ihr Trainingslager. Matthäus beschwört den „Geist von Malente” und verspricht den Titel.

9. Juni
Warschau + Polen trennt sich im Eröffnungsspiel 1:1 von Deutschland. Den Ausgleich erzielt Miroslav Klose nach einer Flanke von Hannovers Sportdirektor Michael Tarnat (42), der für den verletzten David Odonkor (SpVgg Greuther Fürth) nachnominiert worden ist.

18. Juni
Kiew + Deutschland hat die Vorrunde als Gruppenerster gemeistert und zieht von Warschau nach Kiew um. Das Hotel ist allerdings geschlossen – offiziell wegen Einsturzgefahr. Alternativen gibt es nicht, alle Hotels sind ausgebucht. Die Spieler werden bei Gastfamilien einquartiert.

1. Juli
Kiew +
21.20 Uhr
Das Finale im fast ausverkauften früheren Leipziger Zentralstadion wird mit 20 Minuten Verspätung angepfiffen, weil beide Teams im Stau gesteckt haben. Bundestrainer Ballack, der endlich seinen ersten großen Titel gewinnen will, schickt folgende Mannschaft aufs Feld: René Adler – Per Mertesacker, Arne Friedrich – Bastian Schweinsteiger, Mesut Özil, Toni Kroos, Philipp Lahm – Mario Gomez, Miroslav Klose, Kevin Kuranyi, Sandro Wagner. Die Ukrainer spielen mit Bondar-, Kilisch-, Degtjar-, Rusch-, Poldar-, Leon-, Tomtsch-, Pandar-, Waslitsch-, Gusjan- und Schewtschenko.

21.55 Uhr
Kroos, Weltfußballer von 2010 und 2011, schießt schon den dritten Freistoß an die Latte.

22.05 Uhr
Halbzeit. Matthäus ist unzufrieden mit seiner Abwehr und gerät mit Klitschko aneinander, der dank längerer Reichweite zwei klare Treffer landet.

Beim Stand von 0:0 nach 80 Minuten wechselt Matthäus aus. Er nimmt den erschöpften Andrej Schewtschenko (FC Sachsen Leipzig) vom Platz und bringt sich selbst. Die deutsche Bank protestiert. Matthäus aber beruft sich auf eine Regeländerung der Uefa, den so genannten Platini-Paragrafen. Danach kann ein Deutscher nach zweimaliger Heirat mit einer Ukrainerin für die ukrainische Nationalmannschaft spielen.

Fünf Minuten vor Schluss, nach einem Handspiel von Mertesacker, zeigt der Schiedsrichter auf den Elfmeterpunkt. Es ist schon der sechste Strafstoß für die Ukraine in diesem Turnier. Matthäus läuft an, täuscht Adler und trifft. Die Ukraine ist zum ersten Mal Europameister. Ballack und sein Co-Trainer Frings liegen sich in den Armen und weinen.

12. Juli
Kiew + Lothar Matthäus bekommt per Präsidentenerlass einen Platz auf dem Denkmal der Trainerlegende Walerij Lobanowski vor dem Stadion von Dynamo Kiew. In spätestens zwei Wochen soll der vergoldete Matthäus fertig sein. Ukrainische Denkmalexperten garantieren dies.

14. Juli
Kiew + Jürgen B. A. U. Löwe wird festgenommen. Es handelt um sich Jürgen Schneider. Er hinterlässt nach wilden Immobilienspekulationen dem ukrainischen Steuerzahler Schulden von 40 Milliarden Euro. Lothar Matthäus flieht mit dem Transrapid, der seit gestern fährt, nach Lemberg und wird in den Karpaten aufgegriffen. Deutschland beantragt die Auslieferung beider Männer nicht.

Nachbarschaftshilfe

Polens früherer Präsident Alexander Kwasniewski hat der Ukraine in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung ein miserables Zeugnis ausgestellt. Von einem “Staat mit eingebauter Blockade” spricht er und sieht in einer Verfassungsreform den einzigen Ausweg aus der ökonomischen Stagnation und den seit Jahren ungelösten Problemen: der Korruption, dem fehlenden Schutz des Eigentums, einem Rechtsstaat auf dem Niveau einer besseren Bananenrepublik. Er schreibt:

Der Mangel an staatlicher Effektivität führt dazu, dass eine schlechte ökonomische Situation immer schlimmer wird. Und er gefährdet die Integration des Landes in die Weltwirtschaft. Ohne eine Verfassungsreform wird eine Wirtschaftsreform schwierig, wenn nicht unmöglich sein.

Kwasniewski empfiehlt, die Verteilung der Rollen zwischen Staatschef, Premier, Kabinett und Parlament neu und klar zu definieren, um die Ukraine aus dem Dilemma “einer Art doppelten Präsidentschaft” zu befreien. Und am Ende seiner schonunglosen Analyse schlägt er vor, was beim Aufbau einer funktionierenden Verfassung beachtet werden muss:

  • mehr Mitsprache für die Bürger,
  • weniger Einfluss für die politischen Führer,
  • das Ausland als Vorbild.

Kwasniewski hat übrigens ganz gute Kontakte in die ukrainische Politik. Er war mit dem keineswegs sehr demokratischen Ex-Präsident Leonid Kutschma befreundet und hat 2007 von dessen Schwiegersohn, dem cleveren Oligarchen Viktor Pintschuk, Geld für seine Stiftung erhalten.

“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Zweiter Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

[Der erste Teil steht hier]

Zweiter Teil: Reisen wie auf dem Fließband

Ukrainische Polizisten müssen beweisen, dass sie das Gesetz verteidigen, sie kontrollieren für die Bilanz. Ob das Bußgeld eintrifft, ist ihnen egal. Deshalb wird vor Weihnachten besonders gerast. Das Protokoll gelangt zwar noch in die Statistik, der Fall aber wird nicht mehr bearbeitet. Später erfahren wir, warum wir zweimal so schnell gewesen sind, wie es die Polizei gewollt hat. Uns wurden alte Geschwindigkeiten gezeigt. Die Uhrzeit auf der Pistole hätte die Beamten überführt. Ukrainern ist dieses Misstrauen in Autoritäten bestimmt angeboren.

Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei 200 Meter entfernt vom Polizeirevier
Odessa, Mitte Mai: Straßensperrung nach einer Schießerei im Stadtzentrum - 200 Meter entfernt vom Polizeirevier

Seit 24 Stunden sind wir im Land. Die ersten zehn Minuten am Freitag habe ich aufrichtig versucht, mich an die Vorschriften zu halten. Ich fuhr im Ort sechzig. Es war lebensgefährlich, was vielleicht damit zu tun hat, dass die Dörfer auch zehn Kilometer lang sind, wenn dort zwei Häuser stehen. Der Rückspiegel hatte ständig gelbe Treffer, so oft wurde mit der Lichthupe auf uns geschossen. Ukrainer rasen, als wären sie auf der Flucht, drängeln, dass man fast ihre Augenfarbe erkennt, und scheren noch am Berg aus. Im Gras erinnern viele Kreuze daran, dass mancher sein Leben gleich mit überholt hat. Kein Polizist hat uns an diesem Abend zwischen Lemberg und Ternopil aufgehalten. Heute jedoch wartete auf den 400 Kilometern bis Uman in jedem fünften Dorf ein Paar. Angeblich trinkt der Ukrainer am Wochenende mehr und spürt plötzlich Sehnsucht nach seiner Datscha.

Auf der Autobahn: Kein Ziel in Sicht
Fast am Ziel, aber noch immer auf der Autobahn

Die Angst vor Kontrollen ist uns so peinlich geworden wie das Selbstmitleid wegen der Schlaglöcher. Um derlei als unangemessen zu empfinden, genügt im klimatisierten Auto ein Blick nach links und rechts, auf Pflüge, die ein Gaul zieht, auf Kinder, die noch in der Finsternis mit Oma und Opa auf dem Feld wühlen. Alte mit mehr Zehen als Zähne verkaufen vor Häusern, die in Deutschland gesperrt würden, ihre Ernte: Äpfel, Kartoffeln, Salatköpfe. Weil das Auto auf kaputten Straßen nur langsam vorwärts kommt, fliegt das Elend nicht vorbei. Es nimmt kein Ende. Wir haben nicht angehalten. Wir hätten uns mit den Frauen doch nichts zu sagen gehabt, selbst wenn wir uns hätten verständigen können. So alt, wie sie mit ihren Kopftüchern aussehen, können wir niemals werden. Wir dürfen gar nicht so altern. Das deutsche Gesundheitssystem lässt es nicht zu. Weil es uns so gut pflegt, hat der Tod einen so schlechten Ruf: Er holt die meisten zu früh, glauben wir. Wir haben angehalten, wo die Ukraine ungefähr aussieht wie Deutschland: an Tankstellen. Nur die Preise sorgten für ein Gefühl von Ferne. Der Liter kostet 90 Cent.

Um auf der Autobahn nicht von weitem entdeckt zu werden, verstecken wir uns hinter einem Laster mit Darmwind, der nach Fuselbenzin riecht. Das einzige, das noch beschleunigt, ist der Puls, wenn wir Polizisten sehen, wo Pappeln stehen. Seit Stunden sind wir die einzigen Westeuropäer, da macht sich jeder Baum verdächtig. Wie auf einem Fließband rollen wir dahin: siebzig bergauf, siebzig bergab, siebzig in Kurven, siebzig auf Geraden. Doch der Regen muss die Streckenposten vertrieben haben. Odessa erreichen wir nach 52 Stunden und 2100 Kilometern. Wir wollen zugleich schlafen und uns betrinken.

Durch sieben teilen

Um das Problem mit dem Umzugsgut kümmert sich mittlerweile ein Krisenstab. Freunde in Mecklenburg berichten von einer Tour nach Weißrussland. Bekannte in Odessa verhören Deutsche, deren Hausstand es irgendwie durch den Zoll geschafft hat. Auch der Pfarrer der deutschen Gemeinde in der Stadt ist eingeweiht. Die Verwandten haben alles schon vorher gewusst und verschweigen dies auch nicht. Meine Frau kennt inzwischen fast jeden Grenzer. Fortwährend klingelt ihr Telefon. Doch alle Schriftstücke, die beweisen, dass sie im Land arbeiten soll und umziehen muss, sind am Zoll wertlos. „Ihr müsst euch daran gewöhnen, dass bei uns erst einmal nichts klappt”, sagt spät abends in einer Bar unsere ukrainische Freundin, die mehr als zehn Jahre in Niedersachsen gelebt hat. Ich brauche zwei Einschlafbiere.

Vor der berühmten Oper, dem angeblich zweitschönsten Haus der Welt

Am Sonntagmorgen wandere ich durch Odessa und belausche eine Stille, die mir Stunden später, sobald sich der Verkehr staut und die Menschen aus 133 Nationen erwacht sind, wie eine Sinnestäuschung erscheinen wird. Noch aber wird in der Puschkinskaja, einer der schönsten Straßen der Stadt, der Bürgersteig mit dem Schlauch abgespült. Drei Stunden bevor der Zug abfährt, der mich noch einmal nach Schwerin bringt, besuchen wir eine Werkstatt. Wir wollen auf das Auto in Odessa nicht verzichten. Doch wenn wir es zurücklassen, könnten die Zöllner vermuten, wir hätten es verkauft, und sehr unangenehm werden, um das Geld zu finden. Also machen wir es zum Patienten, lassen es krankschreiben und täuschen eine Panne vor. Der Reparaturschein wirkt echt.

Der Wagen muss samt Schlüssel im Autohaus bleiben. Der Chef ist mal in Magdeburg gewesen, ich bin dort geboren. Er wird mich nicht betrügen. Wir sind fast verwandt. Das Abschiedsfoto – Autohändler, Autobesitzer und Auto -, kommt entweder ins Familienalbum oder in die Fahndung. „Griesdoff, haben Sie keine Angst”, sagt der Mann. Ein Amerikaner hat sogar seinen Lexus bei mir abgestellt.” Unser Vermieter will trotzdem noch mal vorbeischauen.

Die ukrainische Freundin versucht mich zu trösten. Sie fühlt sich mitschuldig, dass uns der Zoll besiegt hat und der Umzugslaster voll beladen zurückfährt. Sie sagt: „Wenn jetzt noch dein Wagen verschwindet, glaube ich an nichts mehr. Dann verlasse ich das Land für immer und gehe dorthin, wo kein Ukrainer lebt.”

“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Erster Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

Diese Reisereportage ist meine Weihnachtsgeschichte. Ich weise aber darauf hin, dass sie im Mai spielt. Mitte Mai bin ich nämlich mit dem Auto von Schwerin nach Odessa gefahren, um den Umzug der Familie vorzubereiten. Lesen Sie heute den ersten Teil. Am Heiligen Abend ersten Weihnachtsfeiertag folgt die Fortsetzung.

Erster Teil: Langsamer als die Polizei es will

Auf der Autobahn zwischen Kiew und Odessa: Erlaubt sind 110 Kilometer pro Stunde.

So viel Glück ist nicht ukrainisch. Die Autobahn von Kiew hinunter ans Schwarze Meer hat vier Spuren und keine Schlaglöcher. Auf einmal ist nichts mehr zu spüren von jener Krankheit, mit der sich das Auto auf der ersten Holperpiste hinter der Grenze angesteckt hatte. Das Symptom war, unüberhörbar, ein Klappergeschwür unter der Haube, das sich später bis zum Heck auswuchs. Im Deutschland der schönen Straßen hätte der ADAC einen Engel schicken müssen, der am Motor nachsieht und Muttern nachzieht. In der Ukraine aber, wo Täler und Hügel schon im Asphalt beginnen, wird jedes Auto zum Hypochonder. Der Patient, ein vierjähriger Skoda Octavia, ist nach dem Abbiegen auf die Autobahn bei Uman augenblicklich gesund. Bis Odessa sind es nur noch 270 Kilometer.

Von Schwerin nach Odessa: 2100 Kilometer Screenshot: ViaMichelin.de

In zweieinhalb Stunden werden mein Beifahrer und ich aussteigen, einen Teller Borschtsch bestellen und – wie es sich gehört – Wodka trinken: sto gramm, 100 Gramm. Müssten wir nicht vor dem Umzugswagen in Odessa ankommen und die Wohnung einrichten, wir könnten weiterfahren bis Usbekistan, Turkmenistan oder Sibirien; niemand könnte das verhindern. Dann springt ein Polizist vors Auto und dirigiert mit seinem schwarz-weißen Stock. Das Glücksgefühl ist wieder verschwunden. Seit wir im Land unterwegs sind, haben wir nie mehr als 65 Kilometer in der Stunde geschafft. Die Angst ist immer mitgefahren.

Ternopil: Blick aus dem Hotelzimmer

Früh am Morgen in Ternopil, dreihundert Meter entfernt vom Hotel, bin ich falsch in eine Einbahnstraße gebogen. Die vier Ukrainer vor mir übersah der Polizist. Für uns machte er keine Ausnahme. „Man darf dort nicht lang”, sagte er auf Russisch. „Komm mit.” In seinem Lada blätterte er im Pass, fragte nach dem Ziel der Reise und nuschelte etwas. Am Anfang bat ich ihn, den Satz zu wiederholen, irgendwann ließ ich es sein. Ein Ukrainer, der von einem Ausländer nicht verstanden wird, spricht gewöhnlich nicht langsamer, sondern lauter. Nachdem er mich drei Minuten über die Schwere meines Vergehens belehrt hatte, was ich allerdings eher seinem Blick als seiner Stimme entnahm, redete er solange an mir vorbei, bis ich wieder ein Wort verstand: „Straf”. Wenigstens war ich noch nicht verurteilt. Als ich mich nach dem Preis erkundigte, wurde aus der Faust unter dem Lenkrad eine Hand mit fünf Fingern. Die Geldübergabe scheiterte jedoch. Ich reichte ihm fünf Euro, er rührte sie nicht an. Erst als der Schein auf der Handbremse lag, winkte er mich weg vom Beifahrersitz, als würde er eine Fliege vom Oberschenkel verscheuchen.

Der Ternopiler See

Im vergangenen Jahr hat der neue Präsident Viktor Juschtschenko, der sich vom Westen lieben lässt und wegen dieser Nähe Russland ständig das Herz bricht, viele korrupte Beamte ausgewechselt. Seitdem fürchten die Überlebenden, so bestochen zu werden, dass es auffällt. „Wo geht es nach Odessa?”, fragte ich zum Abschied den Ternopiler Polizisten. „Priamo, priamo”, sagte er. Ich fuhr davon wie empfohlen oder besser: befohlen – immer geradeaus. Ich hätte viel mehr bezahlt, um freizukommen.

Nach fünf Minuten auf der Autobahn, kurz hinter Uman, stehen wir. Mein Beifahrer sieht, wie der Mann in Uniform den Kopf hereinsteckt und den Mund für einen Vortrag öffnet, erbleicht sogleich und flüstert, während ich noch an meiner Verteidigung bastele, die die Schuld widerlegt: „Gib zu, dass du 124 gefahren bist, und vergiss deine 105. Er weiß selbst, dass 110 erlaubt sind. Ihr habt beide Recht, aber er eben ein bisschen mehr.” Für 280 Griwen, umgerechnet 40 Euro, verkauft uns der Polizist die Freiheit, lächelt und wünscht eine gute Fahrt.

Kurz nach Mitternacht hatte in Ternopil das Telefon geklingelt. Der Möbeltransporteur ließ die schlechte Nachricht von einem ukrainischen Zöllner überbringen. Ich wollte weiterschlafen. Die erste Nacht hatten wir in Polen zwischen Breslau und Krakau an einer Tankstelle verbracht, was kaum zu empfehlen ist. Nach fünf Stunden im Auto fühlt man sich morgens wie die eigene Oma – und sieht auch noch so aus. In der Mittagshitze hatten wir dann erst am Grenzübergang Przemysl drei Stunden auf Einlass gewartet und hernach den Ukrainern nur die Frage beantworten müssen, ob Drogen im Gepäck seien. Kopfschütteln genügte.

Auf der Autobahn: Marktfrauen verkaufen Obst und Gemüse.

Der Zöllner am Telefon stellte sich eine halbe Minute vor und erzählte von einem neuen Gesetz, das mich verpflichte, für alles Quittungen vorzulegen: das Spielzeug des Kindes, für Bücher, Kleider und die Hausapotheke. Ich hätte gern erwidert, dieses Gesetz sei seit höchstens fünf Minuten in Kraft, weil er allein es beschlossen habe. Stattdessen stotterte ich auf Russisch: „Bitte Sie verstehen, äh, dass nicht in Deutschland, äh, äh, Entschuldigung, jeder seine Zettel von das Einkaufen aufbewahren. Verstehen Sie?” Mehr konnte ich zu unserer Rettung im Halbschlaf nicht ausdrücken. Es war zu wenig. Der Transporteur fuhr zurück nach Polen – allerdings ohne die bereits gezahlten 500 Euro Bestechungsgeld. Er war zum zweiten Mal gescheitert, versprach aber, es später wieder zu versuchen.

Die Tachonadel klebt an der 90. Das ist unser Tempolimit auf der Autobahn. Werden wir überholt, wirkt es, als würden wir parken, so schnell sind die anderen weg. Hunde eilen von links nach rechts. Wo die Leitplanke fehlt, ziehen Busse auf die Gegenspur. Es gibt Zebrastreifen, Bushäuschen und Basare. Mein Beifahrer könnte Ziegen und Kühe und Pferde streicheln, wenn er die Hand aus dem Fenster hielte. Wir werden von einem Motorrad überholt, auf dem drei Männer sitzen; keiner trägt einen Helm. Auf dem Standstreifen wird getrunken und gegessen, geredet, geradelt und getorkelt. Wären wir Ukrainer, könnten wir dort ein Zelt aufbauen und den Grill anmachen, ohne dass es irgendwen stören würde. Als Deutsche aber müssten wir sicher noch dafür bezahlen, dass wir zu laut Verkehrsfunk hören. Mit unserem Kennzeichen ist es unmöglich, den Wilden Osten unbemerkt zu durchqueren. Es ist ein Makel, der jede Tarnung auffliegen lässt.

Marktfrauen irgendwo in der Ukraine

„Sie sind 128 gefahren”, sagt der Polizist an der nächsten Ausfahrt. Er hat uns herausgewinkt, aber danach erst einmal zwei Minuten warten lassen, schließlich hatte auch er warten müssen. Sicher hatte sein Kollege per Funk gemeldet, dass gleich zwei etwas einfältige Mecklenburger vorbeikämen – mit vollen Portmonees und noch volleren Hosen. Nur waren wir wegen der Bummelei spät dran. Trotzdem spendiert er uns diese schöne Zahl 128.

„Das muss ein Irrtum sein”, sage ich. Ich wehre mich. Ich klopfe auf das Tachometer. Ich überhöre die Ratschläge des Beifahrers. Ich errege mich, so stark es der Mut zulässt. Ich muss aussteigen. Der Polizist führt seine Laserpistole vor und schießt zweimal auf Autos. „Charrascho?”, fragt er und präsentiert das Ergebnis. Nichts ist gut! Ich, mäßig überzeugt, erzähle, was mein russischer Wortschatz hergibt, um ihn gnädig zu stimmen: dass ich Journalist sei und eine Dienstreise machte, dass mein Sohn keine Windeln mehr brauche und überhaupt ein Wunderkind sei. Es fehlt nicht viel, dass ich aus Verehrung für die Klitschko-Brüder, seine Landsleute, ein bisschen boxe.
Der Polizist, mäßig begeistert, schreibt auf der Motorhaube das Protokoll. „Straf kommt mit der Post nach Odessa”, sagt er und verlangt drei Unterschriften. Meine Adresse habe ich mir ausgedacht, ich denke, er weiß es. „Spasiba”, sage ich. Unterwegs muss mein Stolz ausgestiegen sein, sonst hätte ich mich nicht bedankt.

Kolumne: Gasperletheater

ODESSA, UKRAINE Dies könnte meine letzte Kolumne sein. Ich kann nichts versprechen, aber es sieht ein bisschen so aus, als würde ich mich bald verabschieden. Dabei habe ich viele Ideen, ich plane zum Beispiel eine Orgasmuskolumne, um den Mangel an Leserinnen in diesem Blog zu beheben. Leider hat die Familie das Stück bislang nicht zur Veröffentlichung freigegeben, ich werde ein paar Stellen, die ich für Höhepunkte meines Schaffens halte, streichen – falls es dazu überhaupt noch kommt.

An der schweren Stahltür hängt seit gestern ein Schreiben von Odessas Gasgesellschaft. Unser Haus hat Schulden in Höhe von 1400 Griwen, also weniger als 200 Euro. Ich finde, bei einem solchen Betrag muss man nicht gleich drohen, schon morgen könne das Gas abgestellt werden. Ich gerate doch so leicht in Panik. In der Wohnung stehen drei Eimer mit Wasser für den Fall einer Dürre, ich besitze 104 Kerzen und 33 Streichholzschachteln, aber ich werde cool bleiben können, wenn die Sonne zwei Wochen am Stück nicht aufgeht, ich besitze auch so viele Spritzen, Mullbinden, Pflaster, Kompressen, Plastikhandschuhe und Vitamintabletten, dass ich halb Odessa Erste Hilfe leisten könnte, ich übe zweimal in der Woche, dienstags und freitags, an mir selbst die stabile Seitenlage und wiederbelebe gleich danach mit Mund-zu-Maul-Beatmung irgendein Kuscheltier.

Aber dieses Schreiben der Gasgesellschaft macht mich fertig. Ich fühle mich machtlos, ich habe gedacht, ein Sack Grillkohle könnte mich beruhigen. Nein, der Sack beruhigt mich nicht, der nimmt nur Platz weg. Wahrscheinlich werde ich mich von einem Wassereimer trennen müssen.

Dr. Frost oder Frieren als Studienfach

Es gibt in Odessa eine Nationale Frostakademie. Das ist kein Scherz, ich habe alles selbst gesehen: den Stempel des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Ukraine, den Dreizack, den Code, die Unterschrift eines vereidigten Übersetzers für Deutsch und Ukrainisch, die Unterschrift eines stadtbekannten Notars. Ganz oben auf dem Abschlusszeugnis stand: Nationale Frostakademie Odessa. Der vereidigte Übersetzer hat mir versichert, dies sei die korrekte Übersetzung. Ich habe mir das Foto des Absolventen zeigen lassen. Das Gesicht des Absolventen der Nationalen Frostakademie Odessa sah aus, als wäre es, nun ja, gerade aufgetaut.

Ich weiß nicht, wie lange ich in einer Wohnung ohne funktionierende Heizung Kolumnen schreiben kann. Meine Form ist extrem temperaturabhängig. Mir fällt ja schon nichts mehr ein, wenn ich an den Klimawandel auch nur denke. Ohne regelmäßige Wärmezufuhr wird die Witzefabrik in meinem Gehirn irgendwann schließen, schon jetzt läuft ja die Produktion ziemlich schleppend, weil es draußen so kalt ist und ich kein Mützengesicht habe.

Mein Freund Oleg hat kein Mitleid. „Hör mal, Gasputin, hast du eine Ahnung, wie kalt es im Winter 2004 auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz war, als wir die Orange Revolution gemacht haben?”, hat er vorhin gefragt.
„Woher soll ich das wissen?”
„Es war kutschmakalt. Aber ein Revolutionär kennt keinen Schmerz. Reiß dich zusammen.”

Die Klack-klack-klack-Königin und die Wau-wau-wau-Witwe

Ich würde gern wissen, wer bei mir im Haus ein Gasdieb ist. Ich verdächtige zunächst einmal jeden und lasse mich von der langbeinigen Schönheit unterm Dach, deren Stöckelschuhe so herrlich klackern, wenn sie die Treppe hinabsteigt, genauso wenig blenden wie von der hundelieben Babuschka im ersten Stock. Ich verurteile auch niemanden – weder die Klack-klack-klack-Königin noch die Wau-wau-wau-Witwe.

Einmal im Monat klingelt bei mir eine Frau, zeigt ihren Ausweis, tritt ein, liest den Stromverbrauch ab und kassiert nichts. Zwei Tage später klingelt die Vermieterin, zeigt ihren Ausweis nicht, tritt ein, lässt mich den Stromverbrauch ablesen und kassiert die Miete. Einmal im Monat erzählt mir die Untermieterin der Hundehütte irgendetwas vom Wasser, das ich bezahlen muss. Einmal im Monat finde ich an der Tür einen Brief der ukrainischen Telekom, dabei habe ich nur ein Handy, das ich selbst auflade. Einmal im Monat, meist an jedem Dritten, bringe ich einer Telefongesellschaft, deren Namen ich gar nicht kenne, 150 Griwen vorbei, damit ich weiter Internet habe. Einmal im Monat gebe ich außer meinem Sohn auch noch einen nicht ganz kleinen Geldbetrag im Kindergarten ab.

Bisweilen, erst vorgestern wieder, spende ich dem Kindergarten Geld, weiß aber nicht mal ungefähr, wofür. Während mir die Erzieherin erklärt, was wem wann und warum gekauft werden soll, rechne ich meine Spende in Dollar und Euro um. Bisweilen, erst heute wieder, pumpt mich Oleg an. „Ich brauche was von der Kolumnistenkreditbank“, hat er gesagt. „Aber ich unterschreibe nichts. Ich habe sowieso keine Sicherheiten.” Bisweilen, wahrscheinlich schon morgen wieder, guckt mich die Frau, die den Hausflur wischt, an, als erwarte sie, dass ich mich an ihrem Lohn beteilige.

Das doppelte Ländchen

Sehr oft verlasse ich morgens mit 50 Griwen die Wohnung und komme abends mit ein paar Kopeken heim, ohne dass ich irgendeine Quittung in der Tasche habe. Nachts träume ich, dass Kolumnistenkollege Axel die Zugangsdaten meines Blogs ändert und das neue Passwort erst herausrückt, nachdem ich ihm ein Lösegeld überwiesen habe. Ich besteche Polizisten, Ärzte und Krankenschwestern, um entweder weniger scharf oder viel schärfer kontrolliert zu werden. Sollte noch irgendjemand von mir verlangen, geschmiert, bespendet, bezahlt, belohnt oder bekreditiert zu werden, verliere ich endgültig den Überblick über meine Finanzen.

Ich bin auch erschöpft, weil es in der Ukraine alles doppelt gibt. Es gibt zwei dominierende Konfessionen – die Ukrainisch-orthodoxe Kirche und die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patronats -, zwei Sprachen, zwei russische Verben für eine Tätigkeit, zwei Klitschkos. Nichts von alledem kann ich auseinanderhalten.

Trotzdem weiß ich ganz sicher, dass ich meine Gasrechnung bezahlt habe, ich könnte es sogar beweisen, wenn ich nur die Quittung hätte, ich erinnere mich, es war an dem Tag, als es so stark geregnet hat oder die Sonne brannte, ich habe ein gutes Gedächtnis, ich sehe geradezu vor mir, wie ich das Geld übergeben habe – an Oleg oder die Kindergärtnerin, an die Putzfrau oder den Verkehrspolizisten, an meinen Arzt oder eine Krankenschwester, an die Stöckelschuhträgerin von oben oder die Hundehalterin von unten, an die Vermieterin, die Stromableserin oder an Axel.

Die Pleite der Super-Oligarchen

ODESSA, UKRAINE Ist es eigentlich strafbar, einen Ukrainer ärmer zu machen, als er ist? Nein? Und reicher? Oder ist ein solches Vergehen zwar nicht justiziabel, aber sehr wohl gefährlich in der Ukraine?

Ich entschuldige mich in aller Form bei Rinat Achmetow, dem Superoligarchen und Förderer des Fußballklubs Schachtjor Donezk. Jüngst habe ich den Chef der Beteiligungsgesellschaft System Capital Management (SCM) in einem Essay ein Vermögen von 31 Milliarden Dollar – nun ja – angedichtet, muss ich wohl sagen. Das hat möglicherweise mal gestimmt, ist jetzt aber nachweislich falsch. Der reichste Ukrainer hat in der Weltfinanzkrise Geld verloren. “Kyiv Weekly” berichtet von 18 Milliarden Dollar. Das sind 70 Prozent. Keinen ukrainischen Oligarchen hat es härter getroffen. Klar, es besaß und besitzt auch niemand mehr als Achmetow, der laut der Zeitung mit 29 Milliarden Dollar ins Jahr 2008 gestartet war.

Doch der Zusammenbruch der Börsen und Banken hat nicht bloß Achmetow getroffen. “Kyiv Weekly” spricht vom “Fall of oligarchs”, vom Absturz jener Männer also, die in den neunziger Jahren an der Privatitisierung ukrainischer Staatsbetriebe verdient hatten und aufgestiegen waren. Die Firmen, die ihnen entweder gehören oder an denen sie stark beteiligt sind, sind jetzt deutlich weniger wert als vor der Krise. Für Viktor Nusenkis muss man fast schon mit dem Sammelbecher herumgehen. “He got 80% poorer.” Nusenkis, einst Direktor im Kohlebergbau und heute wie Achmetow Mitglied des Donezker Clans, ist bis auf 2,6 Milliarden Dollar verarmt.

Viktor Pinchuk hat vier Millionen Dollar seines Vermögens verloren – in Prozenten: 69. Herr Pinchuk war auch schon Gast in diesem Blog. Der Schwiegersohn des früheren Präsidenten Leonid Kutschma hat mal mit Achmetow für 800 Millionen Dollar das größte und profitabelste Stahlunternehmen der Ukraine kaufen dürfen, obwohl ausländische Investoren das Doppelte geboten hatten. Staatschef war damals, uups, Kutschma. Nach dessen Abschied erklärte ein Kiewer Gericht den Verkauf für ungültig.

Ganz glimpflich ist Dimitrij Firtasch davongekommen. Er hat nur 18 Prozent verloren. Allerdings besaß er vorher auch nur kümmerliche 2,4 Milliarden Dollar.

Jetzt wird es hart.

Auch Konstantin Schewago ist unter den Verlierern. Er hat für die Talfahrt des ukrainischen Eisenerzproduzenten Ferrexpo an der Londoner Börse bezahlt und als Mehrheitseigner – Firmentitel “Chief Executive Officer” – 80 Prozent seines Reichtums eingebüßt: fast drei Milliarden Dollar.

Übrigens: Schewago ist ein Parteifreund der Premierministerin Julia Timoschenko und sitzt seit 1998 im Kiewer Parlament.

Mittlerweile hat der Oligarch Igor Kolomojskij mit seinem Imperium, der Privat-Gruppe, einen Anteil von fast sieben Prozent an Ferrexpo erworben. Kolomojskij wird gern als “beinhart” beschrieben, stammt aus Dnepropetrowsk und gilt als Mitglied des dortigen Clans, womit man wieder bei Pinchuk ist, einem anderen Häuptling dieses Stamms.

Spitzenreiter, was den prozentualen Verlust angeht, ist Wladimir Boiko; der Vorstandschef und de-facto-Boss des Metallurgischen Kombinats Iljitsch Maripol hat 82 Prozent – 2,6 Milliarden Dollar – verloren.

Übrigens: Boika ist Sozialist und Mitglied des Parlamentausschusses für Industriepolitik.

So, das musste sein. Mehr wüssen Sie über die Ukraine erst einmal nicht wissen. Ach, fast vergessen: Rinat Achmetow, klar, auch Abgeordneter in Kiew. Jetzt dürfen Sie sich zurücklehren.

Zum Genießen kommt noch mal die in Heimarbeit zusammengeschraubte Tabelle:

Randnotiz 1: “Kyiv Weekly” spricht von “our oligarchs”.
Randnotiz 2: “Focus Money” hat am 2. Juli den Kauf von Ferrexpo-Aktien empfohlen. Die Überschrift hieß: “Eisenerz bringt Kohle”.
Randnotiz 3: Ja, ich weiß, dass es nicht witzig ist, wenn Aktien abschmieren, weil das Unternehmen dann möglicherweise Beschäftigte rausschmeißen muss.
Randnotiz 4: Letztlich ist das Geld natürlich nur auf dem Papier weg. Analysten allerdings glauben, dass die Oligarchen nicht vor 2013 den alten Reichtum wiedererlangen werden.