ODESSA, UKRAINE Spiegel-Online rechnet heute mit dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Juschtschenko ab. Der Autor Alexander Schwabe beschreibt, wie der Held der Orangen Revolution seinen Ruf Stück für Stück ruiniert hat. Juschtschenko habe die politischen Krisen seit seinem Amtsantritt 2005 nicht genutzt, um Stärke zu zeigen und Macht zu gewinnen. Vielmehr sei er jedes Mal als Verlierer hervorgegangen. Der Präsident widme sich überdies mehr dem Kleinkrieg mit Premierministerin Julia Timoschenko als den Problemen des Landes: Korruption, Inflation und Oligarchenherrschaft. Stellenweise liest sich der Text wie ein Krankenbericht. Der Juschtschenko hat einerseits vier Jahre nach dem Giftanschlag wieder ein deutlich menschlicheres Antlitz. Sein Körper ist mittlerweile wieder nahezu sauber. Andererseits gab es unterhalb des Bauchnabels einen relativ schweren Eingriff. Juschtschenko ist der “kastrierte Präsident”.
Sonderlich originell sind solche Abstecher in die Medizin sicher nicht mehr. Aber immmerhin liefert Spiegel-Online zwei wunderhübsche Anekdoten.
Der Machtkampf zwischen dem Präsidenten und seiner Premierministerin geriet zum Possenspiel. Der Plot bot einiges: Außer der Parlamentsblockade die Beschlagnahmung eines Regierungsflugzeugs und peinlich inszenierte Telefonate:
Als Timoschenko Anfang Oktober zu ihrem russischen Kollegen Wladimir Putin nach Moskau fliegen wollte, war das von ihr reservierte Regierungsflugzeug unauffindbar – Juschtschenko hatte es kurzerhand für einen Inlandflug unter Beschlag genommen, ohne sie zu informieren. Als die Ministerpräsidentin schließlich mit einem slowenischen Charterflugzeug in Moskau ankam, spöttelte Putin, so sei es, wenn “Taschendiebe” Flugzeuge klauten.
Jüngst ließ Timoschenko die Presse eigens in ihr Büro kommen, um den Präsidenten vorzuführen. Um zu demonstrieren, wie wenig der Präsident sich in der prekären Lage um das Wohl des Landes kümmere, griff sie genüsslich zum Hörer im Wissen darum, dass Juschtschenko nicht abheben würde, weil er vergrätzt war. Mehr
ODESSA, UKRAINE Leonid Kutschma ist einer meiner Lieblinge. Der frühere Präsident tritt gelegentlich in diesem Blog auf; mal feiert er für vier Millionen Dollar seinen 70. Geburtstag auf der Krim, dann wieder trifft er sich nicht mit der Regierungschefin Julia Timoschenko auf einer Mittelmeerinsel. Diesmal bringe ich nur ein schönes Zitat, das mir heute Morgen im Flieger wieder begegnet ist. Wir verdanken es Kutschmas – natürlich ehemaligem – Leibwächter Mykola Melnytschenko, der einst ein Geplauder ostukrainischer Eliten im Arbeitszimmer des Präsidenten mitgeschnitten hat.
Alles Arschlöcher, deine Richter. Ich soll noch zu ihnen kommen und als Zeuge aussagen. Zieh diesen Scheißrichter an den Eiern hoch und lass ihn eine Nacht hängen.
Der Mann, der seine Richter nicht im Griff hatte, war Wiktor Janukowitsch, damals Donezker Gouverneur und heute Führer der Partei der Regionen.
ODESSA, UKRAINE Bisweilen wünsche ich mir, ich wäre ein bisschen wie mein Freund Oleg. Er ist lebenstüchtig, was auch erklärt, warum die Frauen auf ihn stehen und auf mich nur zukommen, wenn sie seine Telefonnummer brauchen. Frauen mögen Macher, die nach zehn Flaschen Bier und zehn Schnäpsen lallend in den Flur fallen und trotzdem ein Loch in den Putz bohren, auf das sich jeder Dübel freut. Ich würde, schon nach vier Flaschen Bier und vier Schnäpsen, an der Wohnungstür den Schlüssel abbrechen; bohren würde der Mann vom Notdienst. Darum betrinke ich mich, wenn ich es einrichten kann, nur zu Hause und verstecke vor dem ersten Schluck den Schlüssel vom Bad. Ich will nie wieder in der Wanne schlafen müssen. Eine Nacht mit einem Traum, in dem Uwe Barschel erscheint, reicht mir. (Es war kein Selbstmord.)
Als Oleg und ich gestern zum Strand fahren wollten, stand vor meinem Auto ein blauer Hyundai. Mein Plan war: warten. Zuparker halten sich fast immer in der Nähe auf und kehren schnell zurück. “Google”, flüsterte ich vor mich hin, “ungefähr 400 Treffer für Zuparker, für Falschparker sogar ungefähr 97700, kranke Welt.” Das Flüstern beruhigte mich augenblicklich.
„Und, Kolumnist, wie geht’s weiter?”, fragte Oleg.
„Wir warten. Hast du eine bessere Idee?”
Oleg sah sich um, trat dem Hyundai gegen das rechte Vorderrad und löste die Alarmanlage aus. Dann hockte er sich zu mir, während der Hyundai jaulte, und sagte: „Jetzt können wir warten.” Vierzig Sekunden später eilte ein Mann herbei, legte demütig zwei Hände auf die Brust und fuhr davon.
“Danke, Oleg.”
“Gern geschehen.”
Kein Bock auf Kolumnistencamping
Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn Oleg und ich gemeinsam ein Haus bauen würden. Ich wäre – vor dem ersten Spatenstich – ausschließlich damit beschäftigt, Kacheln für die Küche auszusuchen. Oleg würde an Zement denken – und an den Spaten natürlich.
“Oleg, versprich mir, dass wir nie ein Haus bauen werden”, sagte ich.
“Mit dir würde ich nicht mal zelten”, sagte Oleg. “Kolumnistencamping ist nichts für mich.”
Manchmal habe ich Angst, dass mein Freund sein Revier verlieren könnte, es geschieht nämlich Seltsames. Überall in Odessa werden die Bäume beschnitten. Noch im Juli hatte ein nächtlicher Sturm die schönen und üppigen Kastanien und Akazien umgerissen und auf Autos gezerrt. Es wird auch sehr viel abgeschleppt, ich sehe neuerdings mehr schwebende Hyundai als schlafende Hunde.
Überdies hat das Parlament in Kiew gerade die Strafen für Verstöße im Verkehr deutlich erhöht. Im Auto ohne Freisprecheinrichtung zu telefonieren kostet bis zu 850 Griwen, also fast 120 Euro. Bislang zahlte man nur seine Telefoneinheiten. Wer eine rote Ampel übersieht, kann wählen: 510 bis 680 Griwen oder 30 bis 40 Stunden gemeinnützige Arbeit. Bislang war dieses Vergehen ein Schnäppchen, vier Schachteln Zigaretten waren teurer.
Dass die Polizisten dank der höheren Strafen auch mehr Bestechungsgeld bekommen, wie die Zeitungen vermelden, stört mich nicht. Das ist in meinen Augen Mitarbeiterbeteiligung und motiviert doch, zumal die neue Härte bereits Wirkung zeigt. Heute Morgen, Punkt halb neun, haben zwei Autofahrer die Rotphase an der Ecke Jekaterinskaja und Troizkaja nicht ignoriert. Sie nutzten die Zeit effektiv und prügelten sich. Ich halte mich als Zeuge bereit, sage aber an dieser Stelle gleich: Ich weiß nicht, wer angefangen hat.
Der Arzt im Hausmeisterkittel
“Halt mal kurz an”, sagte Oleg gestern auf dem Weg zum Strand. “Da ist irgendwas passiert.”
Wir stiegen aus und sahen auf dem Bürgersteig einen Ohnmächtigen. Sein Gesicht war schon ein bisschen gelb. Fünf Männer stellten Diagnosen. Alkohol als Ursache der Ohnmacht wurde ausgeschlossen. Man nahm sich wirklich sehr viel Zeit für den Patienten.
“Ist denn irgendjemand in dieser netten Runde Arzt?”, fragte Oleg nach einer Weile. Die Blicke der fünf Männer wanderten zu mir, wahrscheinlich weil ich als einziger eine Brille trug.
“Ach, der ist nur Kolumnist”, sagte Oleg. Es folgte ein lautes Gelächter. Oleg lieh sich mein Telefon und rief einen Arzt.
Nach zehn Minuten kam der Krankenwagen. Ein Mann brachte eine Trage und steckte sich eine Zigarette an. Er trug einen Hausmeisterkittel. Nachdem er aufgeraucht hatte, bat er Oleg und mich, den Ohnmächtigen auf die Trage zu heben. Zu dritt brachten wir ihn in den Krankenwagen. Darin war nichts: keine medizinische Technik, keine Sauerstoffanlage, keine Absaugpumpe, kein Defibrillator, nicht mal ein Verbandskasten.
“Sind Sie Arzt?”, fragte ich.
“Sehe ich so aus?”, fragte der Mann zurück und rieb sich die Hände an seinem Hausmeisterkittel, holte aus der Brusttasche eine Zigarette, drehte dem bewusstlosen Gelben den Rücken zu, rauchte und fragte, was ich in Odessa machte, erzählte, dass seine Kinder auch viel im Internet unterwegs seien und in meinem Blog kommentieren könnten, kramte einen Kugelschreiber hervor und notierte sich meine Domain auf einem alten Kassenzettel.
“Ich muss los, hat mich gefreut”, sagte er und kletterte, eine frisch entzündete Zigarette zwischen den Lippen, in seinen Krankenwagen.
“Kolumnist, bleib bei deinen Streichen”, sagte Oleg am Strand. “Und mach dir um mich keine Sorgen. Erstens werden die Bäumen in jedem Herbst geschnitten. Und wie du vielleicht gesehen hast, liegen die Äste, Zweige und Blätter jetzt auch schon eine Woche herum. Zweitens wird viel abgeschleppt, weil wahrscheinlich irgendein Politiker in der Stadt ein Abschleppunternehmen aufgemacht hat.”
“Und was ist mit den Strafen für Raser?”, fragte ich.
“Ich nehme an, dass einige Politikersöhne gerade eine Ausbildung zum Polizisten machen.”
Das Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit 1991 war für die Ukraine eine verlorene Zeit. Die Wirtschaft brach ohne die Absatzmärkte im Osten zusammen, der Staat versagte, betrog seine Bürger und verkaufte seine profitabelsten Betriebe zu Schnäppchenpreisen an Oligarchen. Bis heute leidet das Land an den Folgen. Eine Geschichte über den skandalösen Räumungsverkauf.
„The Great Giveaway Revisited”, titelt die Kyiv Post in ihrer jüngsten Ausgabe und schickt ihre Leser zurück in die neunziger Jahre, in jene Zeit, als der ukrainische Staat sein Eigentum für immer verscherbelt hat. Den „schrecklichen Preis” für den Ausverkauf zahle das Land bis heute, schreibt Mark Rachkevych. Wer will, kann seinen Text als Kriminalstück lesen, genug zwielichtige Personen lässt der Autor jedenfalls auftreten: vor allem Politiker und Unternehmer, wobei die Hauptfiguren oft beides zugleich sind.
Auf dem Titelfoto der Kyiv Post lodern Flammen aus dem Bauch nicht irgendeines Stahlunternehmens. Kriworischstal gehörte lange dem Staat, dann für kurze Zeit zwei Clan-Brüdern – einem Multimilliardär, der seine Karriere als „Gewaltunternehmer” begonnen hatte, und einem Schwiegersohn mit guten Kontakten nach oben -, schließlich wieder dem Staat. Später mehr.
Schlimmer als unter den Kommunisten nach Stalin
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hatten westliche Experten die Privatisierung der Staatsbetriebe als Abschied von der Sowjetära und als Ankunft in der Marktwirtschaft begrüßt. Doch der Aufschwung nach dem Niedergang des Sozialismus war ein Privileg Weniger. Bis Mitte der neunziger Jahre wurde in der Ukraine vielerorts – auch in Großstädten wie Odessa – gar gehungert und gefroren. Die Inflation stieg von Sommer 1993 bis Mitte 1994 auf 1000 Prozent.
„Der Durchschnittslohn eines Fabrikarbeiters reicht nicht mehr für den Mindestbedarf an Lebensmitteln”, schrieb der Spiegel im Juni 1994. „Ins Krankenhaus muss ein Patient Essen, Bettwäsche, Medizin und gleich auch noch den Röntgenfilm selbst mitbringen. So schlimm war es nicht einmal unter den Kommunisten nach Stalin.” Im Buch „Ukraine” des Historikers Ernst Lüdemann heißt es über diese Zeit: „Viele Familien, auch kinderreiche, hausten in so beengten Verhältnissen, wie sie in Deutschland zuletzt in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg einige Jahre herrschten.”
Der noch heute ungerecht verteilte Wohlstand und die riesigen Einkommensunterschiede sind ein Überbleibsel dieser Krisenjahre. Die Ukraine hat mehr Milliardäre pro Einwohner als Russland, das Land mit den drittmeisten Milliardären der Welt nach den USA und Deutschland. Oligarchen beherrschen die wichtigsten Betriebe und besitzen somit auch politische Macht.
Ein Name fällt dabei immer wieder: Rinat Achmetow. Er ist mit einem Vermögen von – aktueller Stand – 31 Milliarden Dollar der reichste Mann der Ukraine. In den neunziger Jahren gründete er eine Bank, machte Unternehmen über Kredite von sich abhängig und kaufte Staatsbetriebe. Als Spielzeug und Nachweis seiner Seriosität leistet er sich den Fußballklub Schachtjor Donezk im Osten des Landes. Im Skandal-Wahlkampf von 2004 soll er den pro-russischen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch unterstützt haben, für dessen Partei der Regionen er auch im Kiewer Parlament sitzt. Achmetow gehören – unter anderem – der Fernsehsender Ukraina und die Zeitung Segodnya. Für den Spiegel war er 2005 „der mächtigste Mann” des Landes.
Das Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit war für die Ukraine eine verlorene Zeit. Die Wirtschaft brach ohne die Absatzmärkte im Osten zusammen, der Staat versagte und ließ seine Bürger allein. Blühende Landschaften gab es – es waren allerdings Sumpfwiesen der Korruption. Dass westliche Errungenschaften – ein funktionierendes Rechtssystem, freie Medien, staatliche Fürsorge, subventionierte Kultur, ehrenamtliches Engagement – bis heute fehlen und nicht geschätzt werden, lässt sich so teilweise erklären. Der schlechte Ruf von Politikern ist ein Produkt von damals, als die Herrschenden die Korruption nicht verfolgten, sondern förderten und von ihr profitierten.
So setzte sich der ehemalige Ministerpräsident Juchym Swjahilskyj im November 1994 nach Israel ab, nachdem er Hunderte Millionen Dollar aus der Staatskasse geplündert hatte. Im Februar 1997 kehrte er zurück, da gegen ihn keine Anklage erhoben worden war. Er wurde wieder Direktor der wichtigsten Kohlegrube im Dombass und saß wie vor seiner Flucht als Abgeordneter im Parlament.
Der große Deal des Hütchenspielers
Im Juni 2004 wurde Kriworischstal, das größte und profitabelste Stahlunternehmen des Landes, für 800 Millionen Dollar verkauft, obwohl internationale Investoren fast das Doppelte geboten hatten. Bis heute gilt dieser Deal als eines der schlimmsten Beispiele für Korruption und Vetternwirtschaft. Die neuen Besitzer des Konzerns waren Achmetow und Viktor Pinchuk. Achmetov hatte seine Karriere als „Gewaltunternehmer” in Donezk begonnen, was konkreter bedeutet: Er erpresste Schutzgeld, boxte und betrog als Hütchenspieler. Achmetow steuert den „Donezker Clan”.
Pinchuk wiederum, Anführer des “Dnjepropetrowsker Clans”, ist mit neun Milliarden Dollar Vermögen der zweitreichste Mann des Landes und Schwiegersohn von Leonid Kutschma. Als Kriworischstal veräußert wurde, saß Kutschma auf einem nicht ganz unwichtigen Posten: Er war Präsident der Ukraine – und ihr Diktator.
Nach der Orangen Revolution im Winter 2004 und dem demokratischen Machtwechsel zu Präsident Wiktor Juschtschenko erklärte ein Kiewer Gericht das Geschäft für ungültig. Der Stahlkonzern wurde abermals verkauft, diesmal für 4,8 Milliarden Dollar, und brachte der Ukraine auf einen Schlag mehr Geld als alle früheren Privatisierungen zusammen. Für kurze Zeit schien ein großes Reinemachen möglich. Die neue Ministerpräsidentin Julia Timoscheno versprach, sie werde den Verkauf von 3000 Staatsunternehmen überprüfen. Auch sechs Konzerne, die Achmetow erworben hatte, standen auf ihrer Liste, die es vielleicht tatsächlich gab.
Dass ausgerechnet die einstige „Gasprinzessin” die Betrügereien aufdecken wollte, hatte Charme. Der Buchautor Matthew Brzezinski nannte sie die „Elf-Milliarden-Dollar-Frau”, weil die Oligarchin Timoschenko – damals in den wilden neunziger Jahren natürlich – fast ein Viertel des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts kontrolliert habe. Zudem stand sie Pawel Lasarenko nahe. Der frühere Ministerpräsident, der in seiner Amtszeit (1996 bis 1997) 200 Millionen Dollar veruntreut haben soll, wurde 2006 in den USA zu neun Jahren Haft verurteilt. Die Weltbank zählt ihn zu den zehn besonders korrumpierten Menschen der Welt.
“Die Elf-Milliarden-Dollar-Frau” als Reinigungskraft
Zu einer Reprivatisierungswelle ist es nicht gekommen. Der Machtkampf zwischen Timoschenko und Präsident Juschtschenko, der schon Monate nach der Revolution ausbrach und bis heute andauert, hat die Aufklärung verhindert. Geblieben sind auch viele Zeugen und Akteure dieser Skandalzeit. Bisweilen dienen sie dem Staat in ziemlich hohen Positionen.
Wie viele Milliarden Dollar der ukrainische Staat bei der Trennung von seinem Besitz verbrannt hat, ist nicht bekannt. Auch Mark Rachkevych von der Kyiv Post weiß es nicht. Er schreibt, genauso ungewiss sei, um wie viel besser es den Ukrainern heute ginge, wenn die wichtigsten nationalen Unternehmen transparent verkauft worden wären. Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow nennt das, was der Westen für Kiewer Chaos hält, “ein gut kontrolliertes Schachspiel: Die Politiker sind die Figuren, die Oligarchen die Spieler”. Kurkow, ein eleganter Zyniker, sieht in Achmetow und Pinchuk sogar Stützen der Ukraine, weil Oligarchen wie sie “Stabilität für ihre Geschäfte brauchen. Solange die Ökonomie in deren Händen liegt, wird das politische Theater im Lande keine ernsthaften Auswirkungen haben”.
ODESSA, UKRAINE Ich glaube, mein Freund Oleg ist korrupt, ein bisschen jedenfalls, man könnte dieses Problem vermutlich auch anders nennen. Bestimmt ist er nur ein sympathischer Kerl, der hilft, wenn im Büro Hilfe gebraucht wird, und dafür entlohnt wird. Ich kann ohnehin noch nichts beweisen, obwohl ich ihm allmählich auf die Schliche komme. Oleg macht Fehler, schwere Fehler.
Vor drei Tagen hat er mir das größte Honigglas geschenkt, das ich je gesehen habe, es ist unheimlich riesig. Die Bärenfamilie in Odessas Zoo könnte die Freunde aus dem Kiewer Gehege einladen, eine dreitägige Honigparty feiern und den Rest als Kleister zum Tapezieren der Wände nehmen. Danach müsste allen Bären wegen Honigvergiftung der Magen ausgepumpt werden.
Ich musste erfahren, woher das Glas stammt.
„Ist von Mama höchstpersönlich”, sagte Oleg.
„Schon wieder ein Geschenk von ihr?”, fragte ich.
“Das ist Kolumnistenköder, du sollst sie mal besuchen.”
Keine Angst vor fünf sibirischen Wintern
Olegs Mama muss fabelhaft sein. Sie ist eine bienenfleißige Imkerin, die überdies CDs presst oder sogar Boss einer Plattenfirma ist, eine Dickestrümpfestrickfabrik besitzt und immer ein paar Whiskyfässer im Keller hat. Hin und wieder schenkt sie mir eine CD. Die Strümpfe, die mir Oleg in ihrem Namen überreicht hat, brächten mich durch fünf sibirische Winter. Den Whisky habe ich noch nicht probiert. Erst muss der Honig alle werden. Natürlich leugnet Oleg, dass er sich bestechen lässt.
Ich habe überlegt, was man mir bieten müsste, dass ich korrupt würde. Viel ist mir nicht eingefallen. Geld interessiert mich nicht. Die Spielzeuge der Männer besitze ich schon. Ich habe ein Auto, das ich eigentlich nicht brauche, eine Uhr, die ich wegen ihrer Kostbarkeit kaum trage, und ein Handy, an dem ich nicht hänge. Es klingelt zweimal, dann verliere ich es schon wieder. Wer mein Telefon findet, hat praktisch ein neues Modell. Und wenn ich Eisenbahn spielen will, gehe ich zwischen 8 und 16 Uhr in das Zimmer meines Sohnes, dann ist er im Kindergarten, und stelle ein paar Weichen seiner Briobahn um. Die Dampflokomotive schnauft sogar.
Sehnsucht nach Pesto
Bis gestern hätte ich trotzdem gewusst, wie man mich verführen kann. Wäre ein Mann gekommen und hätte mir versprochen, jeden Montag zwei Gläschen Pesto, eingewickelt in Zeitungspapier, im Morgengrauen vor meine Tür zu legen, ich wäre schwach geworden. Pesto ist Mangelware in Odessa. An einem guten Tag fragt mich die Verkäuferin, was Pesto sei, nachdem ich sie gefragt habe, wo Pesto im Regal stehe. Ich stottere und sage: „So etwas Ähnliches wie das hier, nur in Grün und für Nudeln.” Dabei zeige ich auf Senf.
An einem schlechten Tag finde ich Pesto und überlege, ob der Marktleiter oder die Marktwirtschaft bekloppt ist, weil zwei Teelöffel dieser Paste umgerechnet zehn Euro kosten. Käme in einem solchen Augenblick dieser Mann und verspräche eine montägliche Lieferung ohne jedes Risiko für mich, ich würde wahrscheinlich einiges tun, das sich für einen Journalisten außerhalb der Lokalberichterstattung nicht gehört.
Bis gestern war ich in Gefahr. Als präventiven Schlag gegen meine Verführbarkeit habe ich mir heute einen Mixer gekauft. Jetzt mache ich Pesto selbst und bin nicht mehr korrumpierbar.
“Tribut an die Tradition”
Ich würde Oleg gern helfen, diesem Korruptionssumpf aus Honig, Whisky, dicken Socken und CDs zu entsteigen. Er ist doch bloß ein Opfer des ukrainischen Systems. Wahrscheinlich lassen sich die Kollegen auch beschenken für eine kleine Gefälligkeit und üben einen Gruppenzwang aus. Andrej Kurkow, einer der großen Schriftsteller des Landes in der Gegenwart, schreibt in seinem Buch „Die letzte Liebe des Präsidenten”, manche Korruption in der Ukraine könne gar nicht verboten werden. Sie sei „ein Tribut an die Tradition”.
Ich muss Oleg da trotzdem rausholen, ich bin Journalist, ich habe sogar einen internationalen Presseausweis, der mich vor Übergriffen schützen soll, ich kann doch nicht zuschauen, wie in meinem unmittelbaren Umfeld der Filz wächst. Ich könnte Oleg eine neue Identität verschaffen, ich habe ganz gute Kontakte in die Schweiz: Der Chef von Krusenstern.ch, ein Experte für Russland, Belarus und die Ukraine, hat mein Odessa-Blog verlinkt.
Andererseits, wie fülle ich meine Kolumnen, wenn Oleg in der Schweiz untergetaucht ist?
ODESSA, UKRAINE Meinem treuen Leser Theobald Tiger und natürlich allen anderen, die sich auch fragen, wie es um den Wirtschaftsstandort Ukraine bestellt ist, empfehle ich den Beitrag von Harald Meyer auf Handelsblatt.com. Meyer erzählt, wie die Korruption im kleinen – etwa in Personalabteilungen – aussieht und was deutsche Unternehmer erwartet, wenn sie in der Ukraine investieren wollen. Kurze Kostprobe:
Ein allgegenwärtiges Problem für Unternehmen in der Ukraine ist auch die Korruption. Sie hat in der Ukraine gleichsam systemischen Charakter. Überall werden Schmiergelder verlangt. Bei jedem Lkw, der an der Grenze entzollt wird, muss mit Bakschisch-Forderungen des Zöllners gerechnet werden. Es empfiehlt sich aber, eine harte Linie “keine Zahlungen” zu verfolgen. Man sollte stattdessen versuchen, vorgesetzte Stellen zu mobilisieren oder Verbindungen zu nutzen. Jedoch – nicht jeder Mittelständler wird diese Linie durchhalten können, wenn es seinem Zweigbetrieb in der Ukraine schon an der schieren Größe fehlt. Kleine Unternehmen haben in der Regel größere Probleme als große Unternehmen, die ihre politischen Kontakte und ihre Steuerzahlungen als Hebel einsetzen können, um Korruptionsversuche staatlicher oder kommunaler Stellen abzuwehren.
In jedem Falle ratsam ist es,
sich strikt ans Gesetz zu halten und dies auch dann zu versuchen, wenn die ukrainischen Gesetze, Verordnungen usw. nicht selten unklar oder in sich widersprüchlich sind;
die Steuer- und Lohnzahlungen pünktlich zu leisten, um Erpressbarkeit zu vermeiden;
den bürokratischen Instanzenwegen zu folgen, auch wenn diese oft entsetzlich lang und zeitaufwändig sind. (…)
Ein heikles Thema ist in der Ukraine auch die weit verbreitete betriebsinterne Korruption, wenn zum Beispiel in den Personalabteilungen “kleine Königreiche” entstehen und bei Neueinstellungen unter Umgehung von Wartelisten Schmiergelder oder sogar zeitlich unbefristete Royalties verlangt und gezahlt werden. Das ukrainische Arbeitsrecht erschwert fristlose Kündigungen wegen Fehlverhaltens. Von den restriktiven Kündigungsklauseln, was die Lösung des Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitgeber anbetrifft, gehen Zwänge aus, welche die Umsetzung der Unternehmenskultur im Betrieb behindern.
Hier geht es zum Beitrag “Welche Fallstricke in der Ukraine lauern”.
Mehr kann ich heute leider nicht bieten: Ich bin gedanklich schon im Fußballstadion. Dynamo Kiew spielt um 20.30 Uhr gegen Odessa – es sei denn, das Spiel wird noch abgesagt. Es regnet seit Tagen.