Kolumne: Oleg in der Sinnkrise

ODESSA, UKRAINE Ich weiß nicht, ob mein Freund Oleg von eher schlichtem Gemüt ist oder nur ein Meister im Verdrängen unangenehmer Gedanken. Er beschäftigt sich jetzt zum ersten Mal im Leben mit dem Tod und ist mittlerweile so weit vorgedrungen, dass er ahnt: Alles ist endlich, und – mutig zu Ende gedacht – man selbst auch. Es wäre übertrieben zu sagen, Oleg würde plötzlich alles in Frage stellen, die Karriere, die Liebe, Besitz, Gott und was sonst noch festen Glauben verlangt, aber seine Gedanken bewegen sich durchaus langsam in Richtung Erkenntnis: Das letzte Hemd hat keine Taschen.

Es ist wegen Natalia. Die beiden Damen, die Oleg noch immer verehren, Gott weiß, warum, können sich wieder beruhigen. Nein, er hat keine neue Freundin, er übernachtet nach wie vor manchmal bei Maria, ich weiß nicht, wie fest es ist. Ich tippe mal, er hat sich noch nicht endgültig festgelegt.
Natalia ist eine Schildkröte, Oleg hat sie vor ein paar Tagen am Strand aus einem Wassereimer mit – vorsichtig geschätzt – 90 anderen gefischt. Der Verkäufer kassierte 80 Griwen, also 11,50 Euro, und sagte zum Abschied: „Sie kann 150 Jahre alt werden. Wenn sie schon nach 20 Jahren stirbt, war sie unglücklich bei Ihnen.”

Deshalb ist Oleg ein bisschen durcheinander, es stürmt viel auf ihn. Natalia – er hat sie so getauft – ist drei Jahre alt, schläft die meiste Zeit und isst fast nichts. Sie bewegt sich noch langsamer als Olegs Gehirn, als es auf dem Weg zum Gedanken an den Tod war. Oleg steht nachts auf und kontrolliert, ob Natalia noch atmet. Egal, was sie tut oder nicht, er macht sich Sorgen. Es liegt bestimmt daran, dass er Natalia zu wenig kennt, er weiß nicht einmal, zu welcher Art sie gehört. Wir haben im Internet gesucht, aber statt eines Namens nur den Warnhinweis gefunden, dass man Schildkröten gar nicht halten darf, wenn sie jünger als acht Jahre und kleiner als acht Zentimeter sind. Ich sage es mal so: Der Besitz der dreijährigen und vier Zentimeter großen Natalia kann in Deutschland härter bestraft werden als Autodiebstahl, Volksverhetzung und Beamtenbeleidigung zusammen, es hängt natürlich vom Richter ab. Ich stelle es nur fest, ich bewerte es nicht.

„Natalia wird mich wahrscheinlich überleben”, sagte Oleg gestern Abend und verkündete, er werde sofort aufhören zu rauchen, er zerbröselte alle Zigaretten, bestellte sich einen Kamillentee und war nicht ansprechbar. Zehn Minuten später rauchte er wieder und war noch deprimierter. „Wahrscheinlich werden sogar meine Kinder früher sterben als Natalia.”
Ich sagte: „Erstens hast du keine Kinder, soweit ich weiß. Zweitens gehört der Tod zum Leben, wer geboren wird, muss auch sterben. Und drittens: Heb die Zigarettenschachtel auf, da passt Natalia gut rein, wenn ihr zwei Süßen tanzen geht.”
Ich wollte ihn trösten oder wenigstens aufheitern. Danach war auch ich deprimiert. Oleg und ich stiegen von Kamillentee und Milchkaffee auf Bier um, eine Stunde später von Bier auf Wein, eine weitere Stunde später von Wein auf Wodka und schließlich von Wodka auf … nein: Nach Wodka kann man auf nichts mehr umsteigen.

Ich habe Odessiten, seit ich hier lebe, immer ein wenig unsensibel eingestuft und sie deshalb auch bisweilen so charakterisiert. Ich hatte gewisse Anhaltspunkte, keine Beweise, aber Indizien, die in meinen Augen diesen Verdacht rechtfertigten. Ein Indiz war: Es gibt nirgends Papiertaschentücher in Vorratspackungen zu kaufen. So was regelt doch der Markt, oder nicht? Ich meine, ein Volk, das nah am Wasser gebaut hat oder wenigstens schwermütig ist und folglich einen gewissen Verbrauch hat, würde danach verlangen. Wenn ich in Odessa 200 Taschentücher für die Familie brauche, kaufe ich 20 Zehnerpäckchen, die in der Wohnung nach und nach verschwinden.

Seit gestern Abend zweifele ich an diesem Indiz und der unterstellten Gefühlskälte von Odessiten.

„Wenn ich sie streichele, zieht sie den Kopf ein”, flüsterte Oleg und trank den letzten Schluck Wodka.
„Wer?”
„Natalia! Wer denn sonst, Kolumnist?”
„Sie hat Migräne”, flüsterte ich.
„Ich will nicht, dass sie nach mir einen anderen hat. Was ist, wenn er sie schlecht behandelt? Ich kann Natalia das Leben eigentlich nur zur Hölle machen, um ihr das zu ersparen. Dabei hab ich sie so lieb”, flüsterte Oleg.
„Ich verstehe deine Gefühle”, flüsterte ich. „Sprich dich aus.”

Ich denke, alles wäre halb so schlimm, wenn Oleg aus dem Wassereimer am Strand ein Schildkrötenmännchen gegriffen hätte, irgendeinen dreijährigen und vier Zentimeter großen Iwan oder Igor. Warum kauft er auch ein Weibchen?

3 comments

  1. Silvergirl

    Natalia ist, zugegeben, noch recht klein. Warum um Himmels Willen gibt Oleg ihr aber so viel zum Abendbrot. Eine Kartoffel, ein kraeftiges Stück Fisch. Will Oleg, dass Natalia dick wird und sich dann keinen anderen mehr anlachen kann? Weiß Oleg, dass Natalia so große Stücke gar nicht runterbekommt. Ein Liebesbeweis – lieber Kolumnist, teilen Sie Ihrem Freund das doch bitte mit – wären mundgerechte Happen, garniert mit einem kleinen Salatblatt. So wie das die reichen Männer der Ukraine mit ihren Frauen im Restaurant vielleicht auch machen. Oder warum sonst haben diese keine Probleme, ihre Modelmaße zu halten?

  2. cw

    @ Silvergirl: Ich werde es Oleg ausrichten. Als aufmerksame Leserin werden Sie aber sicher wissen, dass Oleg sehr eigensinnig ist. Ich denke, zu einem Salatblatt werde ich meinen Freund überredet kriegen.

  3. Zucker

    Ist Natalia der Hosenknopf auf dem Video, der die Plastikpalme abschnuffelt?
    Ganz schön futuristisch aufgepimpt, das ‘Gehege’.
    Also wenn das Natalia ist, dann hoffe ich, daß im off des Kamera-Geschehens noch irgendwo ein Gewässer ist, denn als Wasserschildkröte dürfte Natalia diese Wasserpfütze nicht ausreichen.

    Ein Männchen hätte die Situation definitiv nicht verbessert, die benehmen sich genauso bescheuert.

    Beste Grüße,
    Zucker

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