Kolumne: Oleg und die Bayernwahl

ODESSA, UKRAINE Ich verstehe meinen Freund Oleg nicht mehr. Seit Wochen verfolgt er den bayerischen Wahlkampf, er liest jede Meldung, kennt alle Umfragen und weiß sogar, wie der Spitzenkandidat der FDP heißt. Ich weiß gerade noch, dass der sozialdemokratische Herausforderer nicht Magnet heißt. Oleg hat auch die Programme der Parteien studiert und für jede mögliche Regierung ein Kabinett gebildet. Jeder kriegt mindestens ein Ministerium: Frauen, linker Flügel, rechter Flügel, Gewerkschafter, Katholiken, Protestanten, Oberpfalz, Niederbayern. Damit geräuschloser regiert werden kann, hat er selbst dem Querulanten, den es in jeder Partei gibt, ein Pöstchen verschafft. Bei Oleg wird er Landtagspräsident.
Seit einer Woche klingelt jeden Abend um kurz nach zehn mein Telefon. Oleg fragt: „Was meinst du, Kolumnist: 50 plus x oder weniger für die CSU? Weißt du was, was ich nicht weiß?”

Scharf auf die Wählerwanderung

Bis vor einer Stunde hat Oleg geglaubt, wir würden am Sonntag zunächst gemeinsam die erste Prognose in der ARD gucken und danach den Rest genießen: Live-Schalte in die Parteizentralen, Jubel, Tränen, Durchhalteparolen, erste, zweite und dritte Hochrechnung, Rücktritte, Koalitionsgerüchte und vorläufiges amtliches Endergebnis gegen Mitternacht.

In Odessa aber habe ich nicht einmal einen Fernseher. Wie soll ich ein deutsches Programm empfangen? Ich glaube auch nicht, dass irgendeine Kneipe auf einer Großleinwand zufällig die Wahl in Bayern zeigt.

„Es wird nichts, Oleg.”
„Schade, ich hatte mich schon so auf die Elefantenrunde gefreut.”
„Tut mir leid. Du warst ja auch so scharf auf die Wählerwanderung.”
„Erzähl mir jetzt wenigstens von Bayern, eurem herrlichen Freistaat”, sagte er.

Unterwegs im Alkoholfrei-Staat

Ich habe München im Oktober geschildert und Oleg den warmen Wind spüren lassen, der manchmal aus Italien über die Alpen herüberweht und die Schönen auf der Maximilianstraße noch ein bisschen schöner macht, ich habe ihn durch den Englischen Garten geführt und ihm auf dem Viktualienmarkt eine Leberkässemmel spendiert. „München hat übrigens mehr Regentage im Jahr als Hamburg”, habe ich gesagt. „Wusstest du das? In Hamburg schlägt das Wetter nur schneller um.” Am Abend sind wir ins Staatstheater gegangen. Das Oktoberfest und das Hofbräuhaus haben wir nicht mehr geschafft. Mein Bayern für Oleg war ein Alkoholfrei-Staat.

Oleg öffnete die Augen. „Du würdest Günther Beckstein wählen”, sagte er.
„Fragst du oder weißt du?”
„Du bist doch so ein Ordnungsfanatiker. Muss doch immer alles sauber sein in deiner Welt. Du hättest gar keine Wahl. Beckstein wäre dein Mann.”

Ich habe Oleg erzählt, wie mir Günther Beckstein vor fast einem Jahr, am Tag der Deutschen Einheit in Schwerin, ein Interview gegeben hat, es war kein richtiges Interview, er hatte den Mikrofonhaltern vom Fernsehen schon alles erzählt, als ich mich ihm in den Weg stellte. Beckstein kam vom Drachenbootrennen der Ministerpräsidenten, war verschwitzt und schnaufte noch ein bisschen. Ich weiß nicht mehr, was ich in meinen Block gekritzelt habe, ich erinnere mich aber, dass ich Beckstein mochte. Er gab sich nicht betont volksnah und hatte keine vorbereiteten Antworten im Mund, er besaß Selbstironie und nahm sich alle Zeit für diesen Volontär einer mecklenburgischen Zeitung, der lauter seltsame Fragen stellte, aber tat, als sei er der Parlamentskorrespondent der Süddeutschen und immer wieder mit dem Putsch gegen Edmund Stoiber kam. Der Doktor der Juristerei – Promotionsthema: “Der Gewissenstäter im Straf- und Strafprozessrecht” – hätte über mich lachen können. Er lachte lieber über sich selbst. Beckstein war anständig. Sechs Tage später wurde er Landesvater.

„Er war der Sympathischste von allen Ministerpräsidenten”, sagte ich zu Oleg
„Und wer war am unsympathischsten?”
„Das war eindeutig…nein, das kann ich nicht verraten. Der Mann hört sowieso bald auf.”
„Nun sag schon.”
„Du kennst ihn nicht”, sagte ich und flüsterte einen Namen.
„Kenn ich nicht. Sag noch mal. Wie heißt der?”
Ich flüsterte abermals.
„Nie gehört.”
„Geht vielen so”, sagte ich und schwieg.

Der Kolumnistenkumpel als Retter

Ich dachte an Günther Beckstein vor einem Jahr und dann an die Schlagzeilen der vergangenen Wochen, an die Häme für den Wahlkämpfer, an diese Fotos. Manchmal war in den Zeitungen das Bierglas größer als Beckstein. Manchmal spiegelte sich in den Biergläsern mein Gesicht. Ich hätte Beckstein damals in Schwerin warnen müssen. Ich hab’s versaut.
„Ich hab’s”, rief Oleg und riss mich aus den Gedanken. „Frag Axel!”
„Wie bitte?”
Axel Scherm muss uns helfen. Er ist dein Kolumnistenkumpel.”

Wenn ich Oleg richtig verstanden habe, sollen wir Axel zehn Minuten vor der ersten Prognose über Skype anrufen. Wir werden schon erwartet. Herr Scherm hat am Nachmittag eine Kamera an seinen Computer angeschlossen und auf den Fernseher gerichtet. Dank einiger Testanrufe anderer Kolumnisten konnte er in den folgenden eineinhalb bis zwei Stunden das Übertragungsbild Stück für Stück optimieren. Schon seit dem Mittagessen murmelt er unaufhörlich: „Ich darf nicht vergessen: Fernseher um halb acht ganz laut drehen! Oleg will die Elefanten gut verstehen.” Das ist, in groben Zügen, der Plan.

„Meinst du, das klappt, Kolumnist?”
„Ich frag Axel.”
„Du hast was gut bei mir.”

(Diese Kolumne enthält keine Wahlempfehlung.)

8 comments

  1. Doctor Robert

    Mir fällt eine Alternative ein:

    Bieten ARD und ZDF nicht einen Livestream im Internet an?
    Zur Tour de France gab’s jedenfalls mal diese Möglichkeit.

  2. cw

    @ Andreas Solf: Oleg will doch die ARD, er sagt, der BR sei ein Schwarzfunk. Das Erste aber garantiere unabhängigen, kritischen Journalismus.

  3. hhheimat

    Da hatte Oleg ja einen spannenden Abend.
    Und ich auch:
    Den Sozialismus in seinem Lauf, halten weder Ochs’ noch Esel auf.
    Beste Grüße aus der mecklenburgischen Landeshauptstadt.

  4. cw

    @ hh heimat: Spannender Abend? Oleg ist noch bei der Analyse und überlegt gerade, ob Günther Beckstein zurücktreten muss. Er meint, es wird eine lange Nacht für ihn. Er hat sich morgen frei genommen.

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