Kolumne: Über Schurkenblogs

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg hat mich vorhin umarmt, ziemlich lange und innig sogar, ich glaube aber, dass es ihm ein bisschen unangenehm war, er musste sich bestimmt überwinden. In der Öffentlichkeit umarmen sich Männer eigentlich nur, wenn sie nicht mehr nüchtern sind oder im Fußballstadion stehen. Meistens kommt beides zusammen. Die Ausnahmen sind älter und haben einen Bauch als Panzer. Oleg aber ist sportlich. Er war also sehr tapfer.

„Und wegen der Nudeln rückst du mir so auf die Pelle?”, fragte er danach.

20 Blogger, 20 Meinungen

Wir hatten uns am Strand verabredet, ich brauchte Ruhe und wollte das Rauschen der Wellen hören. Ich bin mit den Nerven runter, seit ich mich zu lange mit der Blogosphäre beschäftigt habe, es ist alles zu viel für mich. Bei jedem Thema, das ich im Internet nachschlage, stoße ich auf mindestens 20 Meinungen und 20 Blogger, manchmal gibt es sogar mehr Meinungen als Blogger. Ich würde nicht unbedingt sagen, dass sich die Stimmen sinnvoll ergänzen, aber vielleicht darf man das auch nicht erwarten, wenn Oberlehrer aufeinander treffen. Der eine manipuliert, der andere kopiert, noch ein anderer spioniert, recherchiert und ejakuliert, was der eine manipuliert und der andere kopiert. Solche Sachen lese ich jeden Tag. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch glauben kann.

Ich bin beim Arzt gewesen, ich wollte mich krankschreiben lassen und den Schein bei WordPress Deutschland abgeben, ich kann ja nicht einfach unentschuldigt am Arbeitsplatz fehlen – jedenfalls nicht länger als drei Tage. Ich kenne doch die Kollegen. Nehmen wir nur mal Axel. Klar, Axel ist ein feiner Kerl, er hat Oleg bei der Bayernwahl geholfen, er vergisst nie meinen Geburtstag und hilft mir auch, wenn ich die Technik nicht begreife. Trotzdem würde er bei den Kollegen rumerzählen: „Unser Kolumnist in Odessa macht gerade blau, also, wenn ihr mich fragt: Der ist ausgebrannt, klassisches Burn-out-Syndrom, der bringt’s nicht mehr. Bis zur Rente schafft es unser Sensibelchen nie und nimmer.”

Ärzte und die Ehrfurcht vor Durchfall

Ich habe dem Arzt in Odessa natürlich nichts von den Nerven erzählt. Er ist Allgemeinmediziner. Männern dieser Fachrichtung kommt man besser nicht mit den Nerven. Einem Allgemeinarzt hatte ich vor vielen Jahren etwas von Schlafstörungen erzählt, um eine Krankschreibung für die Prüfung zu erhalten. „Sie müssen die Augen zumachen”, hatte er gesagt und gelacht. Seitdem habe ich Durchfall, wenn ich eigentlich etwas mit den Nerven habe. Allgemeinmediziner haben eine tiefe Ehrfurcht vor dem Durchfall, ich glaube, sie diagnostizieren nichts so gern wie Magen-Darm-Infektionen.

Mein Arzt sagte: „Sie haben sich irgendwo was eingefangen, eine Magen-Darm-Infektion ist unangenehm. Aber ich kann Sie trotzdem nicht krankschreiben, Sie sind kein Ukrainer.” Kaum hatte ich die Praxis verlassen, rief ich Oleg an und bat ihn, mit mir am Strand zu spazieren.

„Oleg, du weißt, ich bin Pazifist”, sagte ich und warf einen Stein ins Schwarze Meer. Plopp. „Ich habe den Dienst an der Waffe verweigert, bin aber auch nicht ausgemustert worden, wie mancher vermutet, wenn er mich sieht. Ich respektiere die Meinungsfreiheit, obschon sie bisweilen Gesülze produziert, ich verurteile Zensur und lasse mich auch beschimpfen, wenn ich so jemanden befriedigen kann. Das Internet ist eine tolle Errungenschaft. Sie bricht die Meinungshoheit einer Clique von Journalisten.”
„Komm zur Sache, Kolumnist”, sagte Oleg.
„Mein Pazifismus stößt an Grenzen. Schurkenblogs müssen besetzt werden. Wenn ich die Macht hätte, würde ich den Einmarsch befehlen. ”
„Wenn die Schurken in Odessa sind, könnte ich vielleicht was machen. Was brauchst du?”
“Humor”, sagte ich. “Wenigstens Selbstironie sollte der Sünder haben – also jedermann. Stammt von Wilhelm Busch.”
“Die Kunst des Zitierens ist die Kunst derer, welche unfähig sind, selbst nachzudenken”, sagte Oleg. “Voltaire.”

Der Nudels Kern

Ich habe Oleg erzählt, was geschähe, wenn ich an dieser Stelle schriebe, Nudeln seien das scheußlichste Gericht der Welt, ganz gleich, auf welche Weise man sie esse. Spätestens am nächsten Tag, vermutlich aber schon früher, würde mich der Blogger von http://der-nudels-kern.de mehr als al dente kochen und mir vorwerfen, dass die Wahrheit viel komplizierter sei: „Es gibt nicht die Nudel.” Die einzige Möglichkeit, angemessen zu reagieren, wäre Schweigen. Nichts wäre verheerender als der Kommentar: „Ich schreibe nun mal nicht für Nudelisten, sondern für Menschen.” Eine solche Verteidigung würde eine Diskussion auslösen, an deren Ende ich den Spitznamen „Ulknudel” verliehen bekäme und fortan ein Lieblingsfeind im Blog wäre. Würde ich mich zwei Wochen später in irgendeiner Form, vielleicht nur am Rande, über Strudel äußern, stünde Minuten später im Nudel-Blog: „Guckt mal, Ulknudel, äußert sich heute über Strudel.”

Dann umarmte mich Oleg.

„Du brauchst dringend Urlaub, Kolumnist”, sagte er. „Ich empfehle eine halbwegs einsame Insel, auf der es keine Nudeln gibt.”
„Was hältst du von Rügen?”, fragte ich.
„Keine Nudeln?”
„Ich glaube, keine Nudeln.”
“Dann fahren wir morgen los.”
“Du kommst mit, Oleg?”
“Nein, nein, du setzt mich bei Axel ab. Wir müssen doch die Bayernwahl auswerten”, sagte er. “Lass uns deinen Kolumnistenklamottenkoffer packen. Ich borge mir alles von Axel.”

4 comments

  1. Axel

    Kolumnistenkoffer, vor allem, wenn sie aus der Ukraine kommen, sollen sehr begehrt sein. Vom subversiven Textmaterial über diffamierende Kanzler-Matroschkas bis hin zur Kolumnistenunterwäsche ist in solchen Gepäckstücken schon alles gefunden worden. Das ist doch ein gefundenes Fressen für jeden Gepäcktransportbandhilfsarbeiter.

  2. cw

    Das sind die üblichen Klischees. Nichts kommt weg, alles findet sich wieder an. Ich dulde hier keine Gepäcktransportbandhilfsarbeiterschelte.

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