Bauer vs. Intelligenzija

Markt2
Stadt Kowel, Mai 2008

Wenn man den durchschnittlichen Bauern in der Ukraine nach seiner Nationalität fragt, wird er antworten, er sei griechisch-orthodox; wenn man ihn drängen würde zu sagen, ob er ein Großrusse, ein Pole oder ein Ukrainer sei, wird er wohl antworten, er sei ein Bauer; und wenn man darauf besteht zu erfahren, welche Sprache er spricht, wird er sagen, dass er “die Sprache von hier” spricht. Vielleicht könnte man ihn dazu bringen, sich mit einem richtigen Nationsnamen zu bezeichnen und zu sagen, er sei “russki”, doch das wäre kaum eine Vorentscheidung der Frage nach einer Beziehung zur Ukraine; er denkt über Nationalität einfach nicht in den Begriffen, die der Intelligenzija vertraut sind. Wenn man also herausfinden will, welchem Staat er gerne angehören möchte – ob er von einer allrussischen oder einer besonderen ukrainischen Regierung regiert werden möchte -, wird man erfahren, dass seiner Meinung nach alle Regierungen eine Landplage seien und dass es das beste wäre, wenn das “christliche Bauernvolk” sich selbst überlassen bliebe.

Britischer Diplomat, 1918

zitiert nach Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes, Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924, Berlin 2008, S. 92.

9 comments

  1. Andreas Solf

    @Sebastian

    Fast jeder deutschsprachige Artikel zur Politik der ukrainischen Regierung und zum Wahlverhalten des ukrainischen Volkes enthält den Textbaustein “Die Ukraine ist gespalten…” usw. usf. Dies sollte eigentlich jedem, der sich ein bisschen für die Ukraine interessiert, total nerven.

    Aber nee, – offenbar sind die einfach-strukturierten Textbausteine immer wieder nötig.

    Spätestens seit dem Überfall der Sowjetunion auf Polen – bzw. in anderer Lesart: der Vereinigung der West- mit der Ostukraine – ist jene “Beständigkeit” (wenn es sie überhaupt gibt) nur auf einige Landesteile beschränkt.

  2. Sebastian

    werde das nächste mal ironie extra kennzeichnen müssen…

    (wollte jetzt hier viel mehr schreiben. habe es immer wieder gelöscht und hebe es mir für andere schärfere diskussionen auf)

  3. Andreas Solf

    @Sebastian

    Pfiffig gewunden. Bravo!

    Und ich gebe zu: Mein Kommentar sollte eigentlich stellvertretend eine Spitze gegen das Zitat sein, dass offenbar Herrn Wesemann so gut gefiel, dass er es abschrieb.

    Der erste Stolperstein beim Lesen war für mich der “durchschnittliche Bauer”, aber dies Thema hatten wir schon andernorts und sollte daher nicht wieder aufgewärmt werden.
    Der zweite Stolperstein war wohl die Antwort desselben. Hätte der Diplomat seinerzeit tatsächlich mit einem Bauern gesprochen, hätte er wohl statt dessen erfahren, dass dieser “rechtgläubig” sei, also ein Anhänger der Kirche des rechten Glaubens. Eine ähnliche Antwort – das Zitat soll wohl Aktualität signalisieren, oder? – wäre zumindest bei den Bauern im Umfeld von Odessa noch vor drei Jahren – vielleicht ist es inzwischen anders? – unwahrscheinlich. 70 Jahre Sowjetunion haben mehr Spuren hinterlassen als 40 Jahre Deutsche Teilung.

    Und: Die Charakteristik der lokalen Sprache durch den Diplomaten ist wohl eher für Mitteleuropa kennzeichnend, wo man 1918 anhand er Sprache sogar die Stadtteile von Berlin heraushören konnte. Oder wo man auch heute noch Herkunft zu den einzelnen Dörfern zwischen Halle und Leipzig unterscheiden kann.

    Man hätte auf diesen Diplomaten durchaus verzichten können, – es hätte sich nichts geändert.

  4. cw

    Ich kann gar nicht sagen, ob mir das Zitat gefiel, ich wollte es nur am zur Diskussion stellen. Ich fand das ganz amüsant, weil wir ja immer wieder diese Debatte haben, wohin die Ukrainer gehören.

    @ Andreas Solf: Die Textbausteine sind nötig, weil nicht jeder ein Experte ist. Die meisten Leute in Deutschland verwechseln Juschtschenko und Janukowitsch – trotzdem möchte ich, dass sie bei mir lesen. Auslandsberichterstattung kann nie so komplex sein wie das Leben. Wenn Sie lesen, was eine russische Zeitung über die Bayernwahl schreibt, wird das immer verkürzt sein.

    Ich finde das auch gar nicht schlimm. Für detaillierte Abhandlungen gibt es doch viele, viele andere Medien.

  5. Andreas Solf

    Da sind wir also wieder bei Reich-Ranicki. Wir machen ein Medium doof, weil wir meinen es für jemanden machen zu müssen, der ja – wie wir irrend glauben – genauso doof oder noch vielviel döfer ist. Wie im Filmfilm.

    Was schließlich auf der Strecke bleibt, nennt man “Qualität”.

  6. cw

    Jede Zeitung, die gelesen werden will, macht es so. Was wir über deutsche Politik in der Süddeutschen lesen, ist ein Ausschnitt – aber nicht falsch oder doof. Übrigens ist auch das sehr wohl eine Qualität: Leute für etwas zu interessieren, die wissenschaftliche Abhandlungen nie anfassen würden. Das ist mir im Zweifelsfall wichtiger, als drei Professoren zu beglücken.

  7. Andreas Solf

    Die besten Stadtbilderklärer sind immer die Zugereisten. Hiermit sind wir bei der Definition unseres Tuns.

    Im extremen Gegenzug kann ich mir – nur um ein Beispiel zu nennen – nicht vorstellen, wie sich Goethes Faust lesen würde, wenn der Autor überall erklärende Worte eingebaut hätte. Oder wie schade wäre es um Volker Braun, der sich bei jedem Lesen anders liest.

    Auch innerhalb Ihrer Gilde sind die besseren Schreiber diejenigen, die den Leser ernst nehmen. Und gleichberechtigt behandeln. Harald Jähner kommt ohne Textbausteine aus, auch Osang kann schreiben, ohne zu belehren. Und ist es wirklich wichtig, dass jede Laufkundschaft nach dem Lesen den Unterschied zwischen Juschtschenko und Janukowitsch kennt? Oder nach Betrachtung die Töchter von JT und VAJ?

    Journalisten – so lerne ich immer wieder – halten sich bereits nach etwas Ausbildung und in erster Erkenntnis des eigenen Talents für ein Medium. “Ich und die Süddeutsche” – “Der Spiegel und ich”. Es ist deren Recht, so werden sie offenbar an den Journalistenschulen entsprechend instruiert.

    Da Sie nun – wie zu vermuten ist – nur ein Landbilderklärer sein wollen, bescheinige ich Ihnen, dass sie ein hervorragender sind. Ein wirklich guter.

    Aber das ist zugleich Verschwendung.

    Was zu bedauern wäre, wenn es so bliebe.

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