Kolumne: Gasperletheater

ODESSA, UKRAINE Dies könnte meine letzte Kolumne sein. Ich kann nichts versprechen, aber es sieht ein bisschen so aus, als würde ich mich bald verabschieden. Dabei habe ich viele Ideen, ich plane zum Beispiel eine Orgasmuskolumne, um den Mangel an Leserinnen in diesem Blog zu beheben. Leider hat die Familie das Stück bislang nicht zur Veröffentlichung freigegeben, ich werde ein paar Stellen, die ich für Höhepunkte meines Schaffens halte, streichen – falls es dazu überhaupt noch kommt.

An der schweren Stahltür hängt seit gestern ein Schreiben von Odessas Gasgesellschaft. Unser Haus hat Schulden in Höhe von 1400 Griwen, also weniger als 200 Euro. Ich finde, bei einem solchen Betrag muss man nicht gleich drohen, schon morgen könne das Gas abgestellt werden. Ich gerate doch so leicht in Panik. In der Wohnung stehen drei Eimer mit Wasser für den Fall einer Dürre, ich besitze 104 Kerzen und 33 Streichholzschachteln, aber ich werde cool bleiben können, wenn die Sonne zwei Wochen am Stück nicht aufgeht, ich besitze auch so viele Spritzen, Mullbinden, Pflaster, Kompressen, Plastikhandschuhe und Vitamintabletten, dass ich halb Odessa Erste Hilfe leisten könnte, ich übe zweimal in der Woche, dienstags und freitags, an mir selbst die stabile Seitenlage und wiederbelebe gleich danach mit Mund-zu-Maul-Beatmung irgendein Kuscheltier.

Aber dieses Schreiben der Gasgesellschaft macht mich fertig. Ich fühle mich machtlos, ich habe gedacht, ein Sack Grillkohle könnte mich beruhigen. Nein, der Sack beruhigt mich nicht, der nimmt nur Platz weg. Wahrscheinlich werde ich mich von einem Wassereimer trennen müssen.

Dr. Frost oder Frieren als Studienfach

Es gibt in Odessa eine Nationale Frostakademie. Das ist kein Scherz, ich habe alles selbst gesehen: den Stempel des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft der Ukraine, den Dreizack, den Code, die Unterschrift eines vereidigten Übersetzers für Deutsch und Ukrainisch, die Unterschrift eines stadtbekannten Notars. Ganz oben auf dem Abschlusszeugnis stand: Nationale Frostakademie Odessa. Der vereidigte Übersetzer hat mir versichert, dies sei die korrekte Übersetzung. Ich habe mir das Foto des Absolventen zeigen lassen. Das Gesicht des Absolventen der Nationalen Frostakademie Odessa sah aus, als wäre es, nun ja, gerade aufgetaut.

Ich weiß nicht, wie lange ich in einer Wohnung ohne funktionierende Heizung Kolumnen schreiben kann. Meine Form ist extrem temperaturabhängig. Mir fällt ja schon nichts mehr ein, wenn ich an den Klimawandel auch nur denke. Ohne regelmäßige Wärmezufuhr wird die Witzefabrik in meinem Gehirn irgendwann schließen, schon jetzt läuft ja die Produktion ziemlich schleppend, weil es draußen so kalt ist und ich kein Mützengesicht habe.

Mein Freund Oleg hat kein Mitleid. „Hör mal, Gasputin, hast du eine Ahnung, wie kalt es im Winter 2004 auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz war, als wir die Orange Revolution gemacht haben?”, hat er vorhin gefragt.
„Woher soll ich das wissen?”
„Es war kutschmakalt. Aber ein Revolutionär kennt keinen Schmerz. Reiß dich zusammen.”

Die Klack-klack-klack-Königin und die Wau-wau-wau-Witwe

Ich würde gern wissen, wer bei mir im Haus ein Gasdieb ist. Ich verdächtige zunächst einmal jeden und lasse mich von der langbeinigen Schönheit unterm Dach, deren Stöckelschuhe so herrlich klackern, wenn sie die Treppe hinabsteigt, genauso wenig blenden wie von der hundelieben Babuschka im ersten Stock. Ich verurteile auch niemanden – weder die Klack-klack-klack-Königin noch die Wau-wau-wau-Witwe.

Einmal im Monat klingelt bei mir eine Frau, zeigt ihren Ausweis, tritt ein, liest den Stromverbrauch ab und kassiert nichts. Zwei Tage später klingelt die Vermieterin, zeigt ihren Ausweis nicht, tritt ein, lässt mich den Stromverbrauch ablesen und kassiert die Miete. Einmal im Monat erzählt mir die Untermieterin der Hundehütte irgendetwas vom Wasser, das ich bezahlen muss. Einmal im Monat finde ich an der Tür einen Brief der ukrainischen Telekom, dabei habe ich nur ein Handy, das ich selbst auflade. Einmal im Monat, meist an jedem Dritten, bringe ich einer Telefongesellschaft, deren Namen ich gar nicht kenne, 150 Griwen vorbei, damit ich weiter Internet habe. Einmal im Monat gebe ich außer meinem Sohn auch noch einen nicht ganz kleinen Geldbetrag im Kindergarten ab.

Bisweilen, erst vorgestern wieder, spende ich dem Kindergarten Geld, weiß aber nicht mal ungefähr, wofür. Während mir die Erzieherin erklärt, was wem wann und warum gekauft werden soll, rechne ich meine Spende in Dollar und Euro um. Bisweilen, erst heute wieder, pumpt mich Oleg an. „Ich brauche was von der Kolumnistenkreditbank“, hat er gesagt. „Aber ich unterschreibe nichts. Ich habe sowieso keine Sicherheiten.” Bisweilen, wahrscheinlich schon morgen wieder, guckt mich die Frau, die den Hausflur wischt, an, als erwarte sie, dass ich mich an ihrem Lohn beteilige.

Das doppelte Ländchen

Sehr oft verlasse ich morgens mit 50 Griwen die Wohnung und komme abends mit ein paar Kopeken heim, ohne dass ich irgendeine Quittung in der Tasche habe. Nachts träume ich, dass Kolumnistenkollege Axel die Zugangsdaten meines Blogs ändert und das neue Passwort erst herausrückt, nachdem ich ihm ein Lösegeld überwiesen habe. Ich besteche Polizisten, Ärzte und Krankenschwestern, um entweder weniger scharf oder viel schärfer kontrolliert zu werden. Sollte noch irgendjemand von mir verlangen, geschmiert, bespendet, bezahlt, belohnt oder bekreditiert zu werden, verliere ich endgültig den Überblick über meine Finanzen.

Ich bin auch erschöpft, weil es in der Ukraine alles doppelt gibt. Es gibt zwei dominierende Konfessionen – die Ukrainisch-orthodoxe Kirche und die Ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patronats -, zwei Sprachen, zwei russische Verben für eine Tätigkeit, zwei Klitschkos. Nichts von alledem kann ich auseinanderhalten.

Trotzdem weiß ich ganz sicher, dass ich meine Gasrechnung bezahlt habe, ich könnte es sogar beweisen, wenn ich nur die Quittung hätte, ich erinnere mich, es war an dem Tag, als es so stark geregnet hat oder die Sonne brannte, ich habe ein gutes Gedächtnis, ich sehe geradezu vor mir, wie ich das Geld übergeben habe – an Oleg oder die Kindergärtnerin, an die Putzfrau oder den Verkehrspolizisten, an meinen Arzt oder eine Krankenschwester, an die Stöckelschuhträgerin von oben oder die Hundehalterin von unten, an die Vermieterin, die Stromableserin oder an Axel.

4 comments

  1. cw

    Lieber Doctor Robert,

    ich sehe, Du verstehst Gas. Ja, ein Wortspiel in Richtung “Verstehen Sie Gas?” habe ich erst in letzter Sekunde gestrichen.

  2. Sebastian

    Lieber Christoph,

    besser alles doppelt als gar nichts. habe auch mal einen ukrainischen grenzbeamten nach einer quittung für einen zu konfiszierenden fotoapparat gefragt. sehr lustig. übelmeinende menschen nennen das ja auch diebstahl ;-)

  3. Ping: Experte im Informationskrieg : Christoph Wesemann

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