“Straf” muss sein: Mit voller Hose im Wilden Osten (Erster Teil)

Von der Ostsee ans Schwarze Meer in 52 Stunden

Diese Reisereportage ist meine Weihnachtsgeschichte. Ich weise aber darauf hin, dass sie im Mai spielt. Mitte Mai bin ich nämlich mit dem Auto von Schwerin nach Odessa gefahren, um den Umzug der Familie vorzubereiten. Lesen Sie heute den ersten Teil. Am Heiligen Abend ersten Weihnachtsfeiertag folgt die Fortsetzung.

Erster Teil: Langsamer als die Polizei es will

Auf der Autobahn zwischen Kiew und Odessa: Erlaubt sind 110 Kilometer pro Stunde.

So viel Glück ist nicht ukrainisch. Die Autobahn von Kiew hinunter ans Schwarze Meer hat vier Spuren und keine Schlaglöcher. Auf einmal ist nichts mehr zu spüren von jener Krankheit, mit der sich das Auto auf der ersten Holperpiste hinter der Grenze angesteckt hatte. Das Symptom war, unüberhörbar, ein Klappergeschwür unter der Haube, das sich später bis zum Heck auswuchs. Im Deutschland der schönen Straßen hätte der ADAC einen Engel schicken müssen, der am Motor nachsieht und Muttern nachzieht. In der Ukraine aber, wo Täler und Hügel schon im Asphalt beginnen, wird jedes Auto zum Hypochonder. Der Patient, ein vierjähriger Skoda Octavia, ist nach dem Abbiegen auf die Autobahn bei Uman augenblicklich gesund. Bis Odessa sind es nur noch 270 Kilometer.

Von Schwerin nach Odessa: 2100 Kilometer Screenshot: ViaMichelin.de

In zweieinhalb Stunden werden mein Beifahrer und ich aussteigen, einen Teller Borschtsch bestellen und – wie es sich gehört – Wodka trinken: sto gramm, 100 Gramm. Müssten wir nicht vor dem Umzugswagen in Odessa ankommen und die Wohnung einrichten, wir könnten weiterfahren bis Usbekistan, Turkmenistan oder Sibirien; niemand könnte das verhindern. Dann springt ein Polizist vors Auto und dirigiert mit seinem schwarz-weißen Stock. Das Glücksgefühl ist wieder verschwunden. Seit wir im Land unterwegs sind, haben wir nie mehr als 65 Kilometer in der Stunde geschafft. Die Angst ist immer mitgefahren.

Ternopil: Blick aus dem Hotelzimmer

Früh am Morgen in Ternopil, dreihundert Meter entfernt vom Hotel, bin ich falsch in eine Einbahnstraße gebogen. Die vier Ukrainer vor mir übersah der Polizist. Für uns machte er keine Ausnahme. „Man darf dort nicht lang”, sagte er auf Russisch. „Komm mit.” In seinem Lada blätterte er im Pass, fragte nach dem Ziel der Reise und nuschelte etwas. Am Anfang bat ich ihn, den Satz zu wiederholen, irgendwann ließ ich es sein. Ein Ukrainer, der von einem Ausländer nicht verstanden wird, spricht gewöhnlich nicht langsamer, sondern lauter. Nachdem er mich drei Minuten über die Schwere meines Vergehens belehrt hatte, was ich allerdings eher seinem Blick als seiner Stimme entnahm, redete er solange an mir vorbei, bis ich wieder ein Wort verstand: „Straf”. Wenigstens war ich noch nicht verurteilt. Als ich mich nach dem Preis erkundigte, wurde aus der Faust unter dem Lenkrad eine Hand mit fünf Fingern. Die Geldübergabe scheiterte jedoch. Ich reichte ihm fünf Euro, er rührte sie nicht an. Erst als der Schein auf der Handbremse lag, winkte er mich weg vom Beifahrersitz, als würde er eine Fliege vom Oberschenkel verscheuchen.

Der Ternopiler See

Im vergangenen Jahr hat der neue Präsident Viktor Juschtschenko, der sich vom Westen lieben lässt und wegen dieser Nähe Russland ständig das Herz bricht, viele korrupte Beamte ausgewechselt. Seitdem fürchten die Überlebenden, so bestochen zu werden, dass es auffällt. „Wo geht es nach Odessa?”, fragte ich zum Abschied den Ternopiler Polizisten. „Priamo, priamo”, sagte er. Ich fuhr davon wie empfohlen oder besser: befohlen – immer geradeaus. Ich hätte viel mehr bezahlt, um freizukommen.

Nach fünf Minuten auf der Autobahn, kurz hinter Uman, stehen wir. Mein Beifahrer sieht, wie der Mann in Uniform den Kopf hereinsteckt und den Mund für einen Vortrag öffnet, erbleicht sogleich und flüstert, während ich noch an meiner Verteidigung bastele, die die Schuld widerlegt: „Gib zu, dass du 124 gefahren bist, und vergiss deine 105. Er weiß selbst, dass 110 erlaubt sind. Ihr habt beide Recht, aber er eben ein bisschen mehr.” Für 280 Griwen, umgerechnet 40 Euro, verkauft uns der Polizist die Freiheit, lächelt und wünscht eine gute Fahrt.

Kurz nach Mitternacht hatte in Ternopil das Telefon geklingelt. Der Möbeltransporteur ließ die schlechte Nachricht von einem ukrainischen Zöllner überbringen. Ich wollte weiterschlafen. Die erste Nacht hatten wir in Polen zwischen Breslau und Krakau an einer Tankstelle verbracht, was kaum zu empfehlen ist. Nach fünf Stunden im Auto fühlt man sich morgens wie die eigene Oma – und sieht auch noch so aus. In der Mittagshitze hatten wir dann erst am Grenzübergang Przemysl drei Stunden auf Einlass gewartet und hernach den Ukrainern nur die Frage beantworten müssen, ob Drogen im Gepäck seien. Kopfschütteln genügte.

Auf der Autobahn: Marktfrauen verkaufen Obst und Gemüse.

Der Zöllner am Telefon stellte sich eine halbe Minute vor und erzählte von einem neuen Gesetz, das mich verpflichte, für alles Quittungen vorzulegen: das Spielzeug des Kindes, für Bücher, Kleider und die Hausapotheke. Ich hätte gern erwidert, dieses Gesetz sei seit höchstens fünf Minuten in Kraft, weil er allein es beschlossen habe. Stattdessen stotterte ich auf Russisch: „Bitte Sie verstehen, äh, dass nicht in Deutschland, äh, äh, Entschuldigung, jeder seine Zettel von das Einkaufen aufbewahren. Verstehen Sie?” Mehr konnte ich zu unserer Rettung im Halbschlaf nicht ausdrücken. Es war zu wenig. Der Transporteur fuhr zurück nach Polen – allerdings ohne die bereits gezahlten 500 Euro Bestechungsgeld. Er war zum zweiten Mal gescheitert, versprach aber, es später wieder zu versuchen.

Die Tachonadel klebt an der 90. Das ist unser Tempolimit auf der Autobahn. Werden wir überholt, wirkt es, als würden wir parken, so schnell sind die anderen weg. Hunde eilen von links nach rechts. Wo die Leitplanke fehlt, ziehen Busse auf die Gegenspur. Es gibt Zebrastreifen, Bushäuschen und Basare. Mein Beifahrer könnte Ziegen und Kühe und Pferde streicheln, wenn er die Hand aus dem Fenster hielte. Wir werden von einem Motorrad überholt, auf dem drei Männer sitzen; keiner trägt einen Helm. Auf dem Standstreifen wird getrunken und gegessen, geredet, geradelt und getorkelt. Wären wir Ukrainer, könnten wir dort ein Zelt aufbauen und den Grill anmachen, ohne dass es irgendwen stören würde. Als Deutsche aber müssten wir sicher noch dafür bezahlen, dass wir zu laut Verkehrsfunk hören. Mit unserem Kennzeichen ist es unmöglich, den Wilden Osten unbemerkt zu durchqueren. Es ist ein Makel, der jede Tarnung auffliegen lässt.

Marktfrauen irgendwo in der Ukraine

„Sie sind 128 gefahren”, sagt der Polizist an der nächsten Ausfahrt. Er hat uns herausgewinkt, aber danach erst einmal zwei Minuten warten lassen, schließlich hatte auch er warten müssen. Sicher hatte sein Kollege per Funk gemeldet, dass gleich zwei etwas einfältige Mecklenburger vorbeikämen – mit vollen Portmonees und noch volleren Hosen. Nur waren wir wegen der Bummelei spät dran. Trotzdem spendiert er uns diese schöne Zahl 128.

„Das muss ein Irrtum sein”, sage ich. Ich wehre mich. Ich klopfe auf das Tachometer. Ich überhöre die Ratschläge des Beifahrers. Ich errege mich, so stark es der Mut zulässt. Ich muss aussteigen. Der Polizist führt seine Laserpistole vor und schießt zweimal auf Autos. „Charrascho?”, fragt er und präsentiert das Ergebnis. Nichts ist gut! Ich, mäßig überzeugt, erzähle, was mein russischer Wortschatz hergibt, um ihn gnädig zu stimmen: dass ich Journalist sei und eine Dienstreise machte, dass mein Sohn keine Windeln mehr brauche und überhaupt ein Wunderkind sei. Es fehlt nicht viel, dass ich aus Verehrung für die Klitschko-Brüder, seine Landsleute, ein bisschen boxe.
Der Polizist, mäßig begeistert, schreibt auf der Motorhaube das Protokoll. „Straf kommt mit der Post nach Odessa”, sagt er und verlangt drei Unterschriften. Meine Adresse habe ich mir ausgedacht, ich denke, er weiß es. „Spasiba”, sage ich. Unterwegs muss mein Stolz ausgestiegen sein, sonst hätte ich mich nicht bedankt.

12 comments

  1. Natalija

    lieber Christoph,
    aller Anfang ist schwer :)
    Ihre Geschichte habe ich gerne gelesen. Und kann behaupten, das war doch von Ihnen mutig in dem Land zu bleiben nach solchem Umzug.

    Man wird behauptet, die Straßenpolizisten findem IMMER was, um das Geld von den Fahrern zu bekommen. Deswegen liegt es nicht an Ihnen und nicht daran, wie Sie fahren, wie Sie schnell fahren… Leider haben die Polizisten riesige Geldhunger und sind sehr korrupt wie das Land insgesammt. Oft leiden sie Ausländer darunter. Man wird Russisch bzw Ukrainisch nicht verstanden und die Polizisten nützen das sowie man hat keine Lust, Zeit mit denen die Sache zu klären, es sei schneller und billger ihnen mit Geldschein zu winken…
    Das traurigste davon finde ich in dem, dass die Straßenpolizisten sehr oft einfache Leute bestrafen und die reichen, die richtige Fehler auf der Straßen machen, kommen mit einem blauen Auge davon. Die Straßenpolizisten haben Angst oder dürfen diese reichen Leute nicht bestrafen!!!!!

    Vorgestern wurde 3 Leute in einem untererdischen Übergang in der Nähe von Donezk überfahren worden. Eine Frau ist tot. Der Fahrer am Steuer war ein Polzist. Er ist die Treppe mit dem Auto runter gerutscht bzw gefahren. (In dem untererdischem Übergang laufen NUR die Leute) Danach wollte er die Treppe nach oben…über die Leute… Gestern zeigte man eine von diesen Frauen sie liegt im Krankenhaus, weint und sagt… der Fahrer ist doch Polzist, ich vermute, er wird aus der Geschichte mit einem blauen Auge davon kommen, d.h. es passiert nichts… Was für ein Land!!!!
    Trotz all diesen traurigen Zeilen wünsche ich Ihnen und Ihrer Familie viel Spass in der Ukraine. Das Land hat was anzubieten. Man muss nur diese traurigen Geschicht nicht so nah an sich selbt nehmen. )))))
    N.

  2. cw

    @Nataliya: Ich höre auch immer, dass bestimmte Autos nicht angehalten werden, weil sich die Polizisten vor den Reichen fürchten, die darin sitzen.

    Übrigens: Wir duzen uns doch schon eine ganze Weile.

    @Anderl: Danke für den Link. Besonders gefällt mir der Hinweis: Remember: Traffic police do not give change!

  3. Anderl

    Man könnt ganz melancholisch werden…

    Der zweite Kommentator auf Neeklas oben verlinkter Webseite beginnt sich dann drüber auszulassen, wie Korruption die ganze Gesellschaft durchzieht – denn nicht nur kleine Polizisten lassen schmieren, sondern ebenso Professoren, Richter, Politiker, und so in einem fort. Eine Freundin berichtete mir kürzlich von einem Richter in Lviv, der auf die Frage wie er denn urplötzlich kurz nach seiner Ernennung zu einer kleinen Million (ich nehme an, es waren Dollar) gekommen sei, es wäre doch alter Brauch, bei der Einweihung einer neuen Wohnung durch das wahllose Verstreuen von Geldscheinen zukünftiges Glück heraufzubeschwören. Eben das habe er gemacht. Noch Fragen?

    Der Fisch beginnt eben immer noch am Kopf zu stinken.
    http://www.ariva.de/Der_Fisch_beginnt_am_Kopf_zu_stinken_t319597

    Immerhin kommen die Deutschen da im diesjährigen Internationalen Korruptionsindex noch ganz gut weg (Platz 14):
    http://www.transparency.org/policy_research/surveys_indices/cpi/2008

    Die Ukraine dagegen findet sich auf Platz 134 (von 180) zwischen Pakistan und Liberia wieder (beides Länder, die einst als Zufluchtsort für unterdrückte Minderheiten gegründet wurden – und dieses Ideal nie erreicht haben…). Seit 2002 gab’s da keine nennenswerte Änderung.
    http://en.wikipedia.org/wiki/Corruption_perception_index

    Wie meine Freundin schon sagte: Zum Lachen ist das nicht mehr.

  4. hhheimat

    Ich weiss nicht so recht warum, aber bei all diesen Geschichten fällt mir das Märchen vom Tode des Hühnchens ein:

    Von dem Tode des Hühnchens.

    Auf eine Zeit gieng das Hühnchen mit dem Hähnchen in den Nußberg, und sie machten miteinander aus wer einen Nußkern fände, sollte ihn mit den andern theilen. Nun fand das Hühnchen eine große große Nuß, sagte aber nichts davon, und wollte den Kern allein essen. Der Kern war aber so dick, daß es ihn nicht hinunter schlucken konnte, und er ihm im Hals stecken blieb, daß ihm angst wurde es müßte ersticken. Da schrie das Hühnchen „Hähnchen, ich bitte dich lauf, was du kannst, und hol mir Wasser, sonst ersticke ich.“ Das Hähnchen lief, was es konnte, zum Brunnen, und sprach „Born, du sollst mir Wasser geben; das Hühnchen liegt auf dem Nußberg, hat einen großen Nußkern geschluckt, und will ersticken.“ Der Brunnen antwortete „lauf erst hin zur Braut, und laß dir rothe Seide geben.“ Das Hähnchen lief zur Braut, „Braut, du sollst mir rothe Seide geben; rothe Seide will ich dem Brunnen geben, der Brunnen soll mir Wasser geben, das Wasser will ich dem Hühnchen bringen, das liegt auf dem Nußberg, hat einen großen Nußkern geschluckt, und will ersticken.“ Die Braut antwortete „lauf erst, und hol mir mein Kränzlein, das blieb an einer Weide hängen.“ Da lief das Hähnchen zur Weide [475] und zog das Kränzlein von dem Ast, und brachte es der Braut, und die Braut gab ihm rothe Seide dafür, die brachte es dem Brunnen, der gab ihm Wasser dafür. Da brachte das Hähnchen das Wasser zum Hühnchen, wie es aber hinkam, war dieweil das Hühnchen erstickt, und lag da todt, und regte sich nicht. Da war das Hähnchen so traurig, daß es laut schrie, und kamen alle Thiere, und beklagten das Hühnchen; und sechs Mäuse bauten einen kleinen Wagen, das Hühnchen darin zum Grabe zu fahren; und als der Wagen fertig war, spannten sie sich davor, und das Hähnchen fuhr. Auf dem Wege aber kam der Fuchs, „wo willst du hin, Hähnchen?“ „Ich will mein Hühnchen begraben.“ „Darf ich mitfahren?“

    „Ja, aber setz dich hinten auf den Wagen,
    vorn könnens meine Pferdchen nicht vertragen.“

    Da setzte sich der Fuchs hinten auf, dann der Wolf, der Bär, der Hirsch, der Löwe und alle Thiere in dem Wald. So gieng die Fahrt fort, da kamen sie an einen Bach. „Wie sollen wir nun hinüber?“ sagte das Hähnchen. Da war ein Strohhalm, der sagte „ich will mich queer drüber legen, so könnt ihr über mich fahren.“ Wie aber die sechs Mäuse auf die Brücke kamen, rutschte der Strohhalm, und fiel ins Wasser, und die sechs Mäuse fielen alle hinein, und ertranken. Da gieng die Noth von neuem an, und kam eine Kohle, und sagte „ich bin groß genug, ich will mich darüber legen, und ihr sollt über mich fahren.“ Die Kohle legte sich auch an das Wasser, aber sie berührte es unglücklicher Weise ein wenig, da zischte sie, verlöschte, und war todt. Wie das [476] ein Stein sah, erbarmte er sich und wollte dem Hähnchen helfen, und legte sich über das Wasser. Da zog nun das Hähnchen den Wagen selber, wie es ihn aber bald drüben hatte, und war mit dem todten Hühnchen auf dem Land, und wollte die andern, die hinten auf saßen, auch heran ziehen; da waren ihrer zu viel geworden, und der Wagen fiel zurück, und alles fiel mit einander in das Wasser, und ertrank. Da war das Hähnchen noch allein mit dem todten Hühnchen, und grub ihm da ein Grab, und legte es hinein, und machte einen Hügel darüber, auf den setzte es sich, und grämte sich so lang bis es auch starb; und da war alles todt.

    Möge das Licht der Welt uns alle erreichen.
    Gesegnete Weihnachten.

  5. Natalija

    vom ganzen Harzen möchte ich alle zum Weihnachten gratulieren!
    Vom besten das Beste, vom schönsten das Schönste.
    wünsche uns allen ein wunderschönes Weihnachtsfest sowie ein fröhliches, glückliches, erfolgreiches und vor allen Dingen gesundes Jahr 2009. Wenn wir alle mit einer positiven Grundeinstellung die Dinge in Angriff nehmen, wird die Welt ein kleines bischen besser. In diesem Sinne ganz liebe Grüße von
    N.

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