Kolumne: Arztgeheimnis

ODESSA, UKRAINE Ich schwöre, ich werde nie wieder über das deutsche Gesundheitssystem klagen, über keine Praxisgebühr und keine Vorzugsbehandlung von Privatpatienten. In Odessa, wo ich seit einem Jahr lebe, gibt es keine offizielle Praxisgebühr – aber ein Vorteil ist das auch nicht. Neulich habe ich mit meiner Tochter die Kinderpoliklinik in der Jüdischen Straße besuchen müssen. Ich war dort schon öfters gewesen, ich glaubte, mich auszukennen, und wartete vor dem Zimmer, vor dem ich früher mit meinem erkälteten oder fiebernden Sohn gewartet hatte. In der Ukraine ist es üblich, dass Ärzte in Polikliniken für bestimmte Straßen zuständig sind. Das wird spätestens dann unpraktisch, wenn die Familie umzieht und den Hausarzt verliert, der die Kinder immer behandelt hat. Leider steht nirgends, welcher Mediziner für welche Straße zuständig ist, man muss sich erkundigen und sollte dies in jedem Fall tun. Dass man eineinhalb Stunden vor der falschen Tür gesessen hat, erfährt man sonst im schlimmsten Fall erst, wenn der Arzt fragt: „Wo wohnen Sie?”

Stellt sich heraus, dass er für die Straße, in der man wohnt, nicht zuständig ist, bieten sich drei Strategien an. Erstens kann man den Paragrafenreiter spielen und erklären, Ausländer hätten in der Ukraine freie Arztwahl. Die zweite Möglichkeit ist, irgendwie, aber bitte ohne Prahlerei durchblicken zu lassen, dass man dem Arzt, der nicht zuständig ist, trotz der abgeschlossenen Krankenversicherung ein überdurchschnittliches Schmiergeld zahlen wird, was ganz nebenbei auch dessen Erinnerungsvermögen für spätere Besuche steigert. Anderenfalls neigen die schlecht verdienenden Doktoren zu Vergesslichkeit. Und dann kann man sich, drittens, noch dumm stellen. Ich würde eine Kombination aus zweitens und drittens empfehlen. Als Paragrafenreiter liefe man Gefahr, dass man von einem neuen Gesetz überrascht wird, das die freie Arztwahl für Ausländer aufhebt. Es werden in der Ukraine ständig neue Gesetze erlassen, die niemand kennt – außer demjenigen, der sie gerade verkündet.

Ich wähnte mich mit meiner Tochter beim richtigen Arzt und landete beim falschen. Der Mann erinnerte sich zwar an mich und fragte auch, wie es meinem Sohn gehe, es stellte sich aber heraus, dass ihm die Poliklinik die Zuständigkeit für Krankheitsfälle in meiner Straße entzogen hatte. Ich holte unauffällig mein Portmonee hervor und spielte den dummen Deutschen.

© Schweriner Volkszeitung

9 comments

  1. iris

    Na Gott sei Dank war es nichts Ernstes! Hier in Moskau wird Ausländern geraten, sofort zur “platnoje Otdelenie” zu gehen und diese 2 Worte auswendig zu lernen, falls mal die SMH kommen muß. Soll wichtiger sein, als “Bitte” und “Danke” ;(

  2. Doctor Robert

    @iris: Ich muss jetzt hier mal den Part des Dummen übernehmen. Was ist denn die “SMH”? Bin wirklich überfragt, würde es aber gerne wissen.

    Danke schon mal.

  3. cw

    Was bist Du denn für ein Quacksalber und Kurpfuscher, Doctor Robert?

    “SMH” steht für Schnelle Medizinische Hilfe – Mensch, Mensch, Mensch. In der DDR hieß das wohl auch mal “DMH”, wenn ich mich richtig erinnere. Und wofür stand das “D”, hä?

  4. Doctor Robert

    Woher soll ich denn sowas wissen?
    Mein Personalausweis sagt, ich sei Westfale. Da ist die DDR sehr weit weg. Habe mich aber durch den Artikel auf Wikipedia informiert. Dort steht übrigens auch DMH: Dringliche Med…

  5. iris

    @Doctor Robert ,
    trösten Sie sich, ich wußte auch nicht, wie die SMH in der damaligen BRD hieß, weil mein Personalausweis klein und blau war und ich andere “Sorgen” hatte ;)

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