Unterirdisch

Ein dringender Anruf

ODESSA/NERUBAISKOJE, UKRAINE Ich hatte kurz überlegt, ob ich in den Untergrund gehe und ein neues Leben beginne: als Katakombenkolumnist, der hin und wieder einen der Eindringlinge mit Touristenmarschgepäck überfällt, um Nahrung, Geld, Ausweise und natürlich Anekdotenstoff zu erbeuten. Es ist ja alles da: Werkstatt, Küche, Brunnen, Spiegel, Betten und andere Schlafplätze. Es gibt jedoch in Odessas Katakomben leider kein W-Lan. Ich hätte meine Texte also in den Muschelkalk kratzen müssen – ohne zu wissen, ob irgendwer kommentieren würde. Überdies wollte mich niemand aus meiner Besuchergruppe in die Illegalität begleiten – ich nehme das natürlich nicht persönlich.

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Definitiv kein Partisanen-Müll

Odessas Katakomben sind mehr als 2000 Kilometer lang und – über drei Ebenen – mehr als 70 Meter tief. Das Labyrinth aus Gängen, Tunneln und Höhlen, eines der größten der Welt, ist im Zuge der Stadtgründung Odessas vor 215 Jahren entstanden. Da in der südukrainischen Steppe ohne Wälder und Berge weder Holz noch Stein zu finden waren, griff man zum Muschelkalk unter der Erde, der beim Zurückweichen des Meeres übriggeblieben war.

Hernach boten die Katakomben immer wieder allerhand mehr oder weniger zwielichtigen Gestalten Unterschlupf: Gaunern, Piraten, Freimaurern und Revolutionären. Im Zweiten Weltkrieg verbargen sich dort die Partisanen, um gegen die rumänischen und deutschen Besatzer zu kämpfen. In dem Abschnitt, der für die Öffentlichkeit als “Partisanenmuseum” zugänglich ist, waren es 35 Widerständler, darunter acht Frauen. Auch Paare, getarnte und echte, lebten in diesem Versteck. Das jüngste Mitglied war zwölf Jahre alt. Die meisten dieser Partisanen starben – nach mutmaßlich heldenhaftem Kampf – hinter den Mauern der Gestapo.

Doch was hatten sie bis dahin getan? Hatten sie Anschläge auf Stützpunkte der Besatzer verübt? Wie sah der Widerstand konkret aus? Was machten die Partisanen in den anderen Teilen der riesigen Katakomben? Das Museum – vor 40 Jahren erschaffen von Leuten, die Museen hassen müssen – beantwortet solche Fragen nicht. Der Besucher kann das Partisanenleben kaum nachempfinden, weil nichts mehr ist, wie es war. Odessas Katakomben sind unzugänglich für Museumspädagogik: Pfannen, Töpfe, Lampen, Telefone, Funkgeräte, Bademantel, Lötkolben und Betten stehen und hängen offenkundig seit vier Jahrzehnten unverändert und unerklärt herum. Dies als Ursprünglichkeit und Authentizität zu deuten fällt schwer, wenn selbst in der Werkstatt frischer Sonnenhut steht und nahezu alles nachträglich angelegt worden ist. Wo 1941 oder 1942 nur Finsternis war, leuchten heute Glühbirnen den Weg, und die Hauptgänge sind touristenfreundlich – doppelt so hoch wie einst. Aber das steht – wie so vieles andere – nirgends, das erzählt nur die Führerin, die freilich auch nicht alles weiß:

“Wie viele Partisanen versteckten sich denn insgesamt in den Katakomben?”
“Das weiß man nicht.”
“Ungefähr?”
“Wie gesagt: Das weiß man nicht.”
“Wie viele Leute besuchen die Katakomben jedes Jahr?”
“Da gibt es keine Zahlen.”
“Ungefähr?”
“Tut mir leid.”

(Ich formuliere es so freundlich wie möglich: Mir scheint, dass es größere Publikumsmagneten gibt und man nicht unbedingt ein Statistikbüro brauchte, um die Besucher der Katakomben zu zählen.)

Viele Wege und auch die Brunnen sind mittlerweile verschlossen, weil sich in der Vergangenheit immer wieder Besucher und zuvor auch der eine oder andere Museumsplaner verirrt haben. Wer seine Gruppe verloren habe, erzählte die Führerin, werde kaum mehr herausfinden aus dieser konstant acht Grad kalten Unterwelt. Das Abenteuer beginnt freilich schon über der Erde. Im vergangenen Sommer hatte ich zweimal versucht, die Katakomben zu besichtigen. Doch beide Male stand der Bus auch zwei Stunden nach der geplanten Abfahrtszeit vor dem Bahnhof, ohne dass sich der Fahrer entschuldigt hätte. Beschwerden gab es allerdings auch nicht. Diesmal fuhr ich mit dem eigenen Auto und einer vorher gebuchten Reiseführerin. Es gibt auf dem Weg ins Dorf Nerubaiskoje keine Schilder, die auf diese Sehenswürdigkeit hinweisen. Eine solche Verschwiegenheit kenne ich sonst nur aus dem oberösterreichischen Ohlsdorf, wo das Haus des Schriftstellers Thomas Bernhard steht. Aber dort ist die Weigerung, Besuchern bei der Anreise zu helfen, natürlich eine posthume Rache an dem genialen Österreichbeschimpfer.

Am Ende der ein Kilometer langen Wanderung entschuldigte sich die Reiseführerin für die brutalen antideutschen Propaganda-Plakate am Ausgang des Museums. “Heute ist eine andere Zeit, wir denken nicht mehr so”, sagte sie. “Die Deutschen sind mit ihrer Vergangenheit viel weiter als die Russen und wir.”

Eingang im Dorf Nerubaiskoje, 15 Kilometer entfernt von Odessa
Die einzige Information bis zum Ausgang
Die einzige Information bis zum Ausgang
Werkstatt
Wäscherei
Wäscherei
Irgendein Plan
Irgendein Plan
"Blut für Blut, Tod für Tod"
"Blut für Blut, Tod für Tod"
Waffenkammer
Waffenkammer
Küche
Küche
Vorraum der Kommandozentrale
Vorraum der Kommandozentrale
Zentrale des Stabs
Kommandozentrale
Schlafplatz der weiblichen Partisanen
Schlafplatz der weiblichen Partisanen
Stalin lässt grüßen
Stalin lässt grüßen
Nachträglich angelegt: Eine Partisanin weint um ihren getöteten Mann.
Denkmal am Ausgang
Denkmal am Ausgang

5 comments

  1. Nataliya

    hallo Christoph,
    ich habe mal gelesen, dass die Länge der Katakomben in Odessa sogar bis 3000 Km sind und an einigen Stellen ist die Tiefe 100 m. und es gibt keinen Plan von diesen Katakomben.
    Wie fühlt sich man unter der Erde?
    wurde Euch auch Geschichte über das Gold in Katakomben erzählt? Es gibt 2 Legeneden…

  2. cw

    Liebe Nataliya,

    was die Länge betrifft, sind die Angaben – wie so oft in der Ukraine – nicht sehr genau. Es sollen mehr als 2000 Kilometer sein. Manche Quellen sprechen auch von 2500. Vielleicht sind es auch 3000. So genau weiß man das bislang wohl noch nicht, da meines Wissens auch erst 60 Prozent der Katakomben kartographiert oder überhaupt erfasst sind.

    Ein Deutscher hat mir erzählt, dass sich sein Freund mal darin verlaufen und beinahe eine Nacht in den Katakomben verbracht hätte. Er war allerdings durch einen der Eingänge in der Stadt hineingeraten.

    Gold? Welches Gold? Ich weiß nur, dass der offizielle Katakombenführer Alexander vor falschen Legenden warnt. Da werde auch viel “Seemannsgarn gesponnen”, sagt er. Falls Du weißt, wo Gold liegt, schick mir bitte den Plan. Wir teilen dann die Beute.

  3. Nataliya

    hallo Jungs…
    Plan habe ich leider nicht. Ich werde aber googeln… )))
    wir sollen doch endlich mal reich werden, oder???
    und im September kann ich nicht nach Odessa, um da Gold zu suchen. Ich bin in Deutschland (HurrrrRRRRRaa!!!)
    was mir mal erzählt wurde. es gäbe 2 Legenden
    1. Ein Seeman hat das goldene Schiff (komplett aus Gold) in katakomben vergraben. Der Mann musste zum Krieg und er wollte das goldene Schiff verstecken, bis er zurück sei. Aus dem Krieg war der Seeman nicht zurück. Und… Das goldene Schiff muss DA sein!!!!!!!!

    Jungs… hilfe… wo ist das Schiff aus Gold?????

    2. Der zweiten Legende nach sollte ein Kapitän aus Odessa helfen die Leute von “Titanik” zu retten. Dankbare Leute hatten ihm das kleine goldene Schiff (die goldene Kopie von “Titanik” ) geschenkt. der Kapitän versteckte das goldene Schiff da, in Katakomben…

    die beiden Legenden klingen verrückt, aber in jedem Fall soll in Katakomben entweder das Schiff von Seemann oder das goldenen Schiff von Kapitän sein….

    ich muss meine Freunde aus Odessa fragen, vielleicht haben sie eine Idee, wo das Gold stecken soll. Ich kann mir gut vorstellen, dass die das schon gesucht haben. SIe können mir dann wenigstens sagen, wo das Gold NICHT ist ( da wo sie schon geschaufelt haben :) )

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