ODESSA, UKRAINE Ich zeige heute, unter welch schwierigen Bedingungen Tag für Tag dieses Hochglanzprodukt namens Blog entsteht. Meine Internetverbindung – man surft über das TV-Kabel – fällt zunächst vom Dach an der Fassade zwei Stockwerke hinunter, gelangt dann durch ein Loch an meinem Balkon in den Hausflur und krabbelt an der Wand sehr elegant hinauf zur Wohnungstür.
Bevor es gleich dunkel wird, sollten Sie noch wissen, dass das Licht im Hausflur immer brennt und meine Klingel nie klingelt. Achten Sie besonders auf das orange Sandhügelchen im Fernster über dem Heizkörper – das haben die Handwerker nach dem Bohren zurückgelassen. Der Hund, der gleich bellt, ist übrigens ein Traditionalist. Er liebt Zeitungen und hasst Blogs. Film ab!
Vielleicht erinnert Sie das Kabelwirrwarr auch an einem berühmten Katastrophenfilm mit Steve McQueen und Paul Newman von 1974. Ich sag nur: Duncan Enterprises. Leider kann mein Katastrophenfilmchen den Geruch nicht wiedergeben, der einem im Treppenhaus entgegenschlägt. Es riecht nach Katzen und Katzenpfützen.
Die Antwort auf die Frage, warum ich im Video nicht zu sehen bin, lautet übrigens nicht Kameramann, sondern Friseur. Von dem komme ich gerade. Diesmal habe ihn machen lassen. Manche sagen, ich sähe jetzt ein bisschen deutschnational aus. Ich antworte, ich hätte mir als Bewunderer des Theaterregisseurs Claus Peymann dessen Frisur verpassen lassen. Und ehe jetzt Anwälte aus Berlin kommen, erkläre ich hiermit: Wese- und Peymann sind nicht deutschnational.
ODESSA, UKRAINE Odessa bekommt eine U-Bahn. Endlich. Also bald. In 40 Jahren. Falls ein Wunder geschieht.
Der neue Generalplan zum Stadtumbau soll im November 2008 vorgestellt werden. Der alte Plan stammt von 1989. Über den Bau einer Metro in Odessa wird seit Ende der sechziger Jahren diskutiert. Entstehen soll überdies ein Odessitisches Venedig auf 700 Hektar mit Kanälen, Vergnügungs- und Glückspielviertel, Spaßbädern, Wasserpark und Sportkomplex.
ODESSA, UKRAINE Irina Jewdokimowa aus Sankt Petersburg lebt seit drei Jahren in einer deutschen Kleinstadt. Angekommen ist sie nie. „Ich fühle mich sehr fremd hier”, erzählt sie. “Ich habe seit Beginn meiner Ehe Heimweh.” Die russische Großfamilie fehlt ihr. In Sankt Petersburg hat die Kauffrau in einer Bank gearbeitet, jetzt sitzt sie zu Hause, weil ihre Ausbildung nicht anerkannt wird. Die Chancen, Arbeit zu finden, stünden „eins zu einer Million”. Irina Jewdokimowa hat kurzes, dunkles Haar, aber kein Gesicht. Sie hat es der Kamera abgewendet.
„Abenteuer Ehe – Heiratsemigrantinnen gestern und heute” heißt die Wanderausstellung, die am Sonntag – als Teil der Deutschen Kulturwochen in der Ukraine – in Odessas Literaturmuseum eröffnet worden ist. Noch ein bisschen sperriger ist der Titel der Macher: Frauen in der Einen Welt – Zentrum für interkulturelle Frauenalltagsforschung und internationalen Austausch e. V. (FidEW). Bislang ist die Schau, 1998 zum ersten Mal, nur in Deutschland zu sehen gewesen. Jetzt soll sie auch in der Ukraine und später vielleicht in Russland gezeigt werden.
„Abenteuer Ehe” erzählt die Geschichte weiblicher Auswanderer von Theophanu aus Konstantinopel, die 972 nach Rom reiste, um den späteren Kaiser Otto II. zu heiraten, bis in die Gegenwart. Die Besucher sollen erkennen, dass Frauen zu allen Zeiten Heimat gegen Heirat getauscht haben, auch wenn Schlagzeilen und Fernsehreportagen bisweilen unterstellen, es handele sich um ein neues Phänomen. Der Ruf dieser Liebe, die Grenzen überwindet, ist entsprechend schlecht: Männer kaufen sich in Osteuropa und Asien eine Unterwürfige, die sie in Deutschland längst nicht mehr finden; die Frauen sind entweder Opfer und landen im Ehegefängnis oder werden als Täter gehandelt, die den Mann nur ausnehmen wollen. Oder sie gelangen als Prostituierte in die rosa beleuchteten Fleischtheken zwischen Hamburg und Rom. Dass sie sich tatsächlich verlieben und freiwillig heiraten, wird ungern wahrgenommen. „Wir wollen diese Diskriminierung reduzieren”, sagt die Soziologin Meral Akkent vom Verein mit dem langen Namen. „Wir erhoffen uns einen Aha-Effekt.”
Kriegsbräute als deutscher Exportschlager
Zwischen 1850 und 1900 suchten mehr als fünf Millionen Deutsche anderswo ihr Glück. Keineswegs nur Männer zog es in die Welt hinaus, mehr als 40 Prozent der Auswanderer waren Frauen. Wenngleich in Australien, Afrika und Mittel- und Südamerika deutsche Kolonien entstanden, lebten fortan neun von zehn Deutschen in den USA und holten Freunde, Verwandte und Nachbarn nach. Die Sehnsucht nach der Heimat war schon in dieser Zeit ein ständiger Begleiter in der Fremde.
Oftmals abgeschreckt von den selbstbewussten Amerikanerinnen mit ihrem Freiheitsdrang, ließen deutsche Männer zu Hause eine Braut suchen. Sie fanden vor allem Abenteurerinnen. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA das begehrte Ziel deutscher Frauen. Sie folgten, als Amibräute nicht gerade freundlich verabschiedet, Besatzern und wurden als Kriegsbräute auch nicht gerade freundlich empfangen, weil sie den amerikanischen Frauen die siegreichen Soldaten nahmen.
Vieles, was die in der Ausstellung Porträtierten ein halbes Jahrhundert später erzählen, klingt deshalb vertraut. „Ich werde im Innern immer eine Ukrainerin bleiben”, sagt Natasha Shevchenko. Dabei ist ihre Geschichte eine der besseren. Die Frau mit dem blonden Haar und den braunen Augen besuchte eine ehemalige Schulfreundin in Deutschland, als sie ein Mann zum Bier einlud. Mit ihm wechselte sie E-Mails, bis er sie eines Tages den Verwandten vorstellte. „Du bist schön”, sagte die Oma des jungen Deutschen.
Andere Frauen haben nur einen Vornamen oder lassen sich erst gar nicht fotografieren. Aus Angst, Vater und Mutter könnten erfahren, wie unglücklich und traurig die Tochter in Deutschland sei, hätten sie auf ein Stück Anonymität bestanden, sagt Meral Akkent.
Ewige Liebe mit dem Rucksacktouristen
Die Heiratsemigration, meint die Soziologin, habe sich über die Jahrhunderte nicht verändert. Damals wie heute suchten Auswanderinnen wirtschaftliche und politische Sicherheit, hätten sich verliebt oder seien einfach abenteuerlustig. „Frauen lassen sich auf Abenteuer übrigens eher ein als Männer”, sagt Akkent. Man muss das erfragen, weil die Männer nur passive Figuren sind in dieser Schau. Über sie erfährt der Besucher alles aus zweiter Hand: von verliebten, verheirateten und verbitterten Frauen. Sie selbst kommen nicht zu Wort.
Die Ausstellung – das ist ihre Leistung – vergisst niemanden. Sie lässt Dalisay Braun erzählen, die für Konrad die Philippinen verließ und bald erfuhr, dass sie seine sechste Frau ist. Besser erging es ihrer Landsfrau Ana, in die sich Mitte der siebziger Jahre ein deutscher Rucksacktourist verliebte. Die Krankenschwester aus Manila wagte erst 1980 die Heirat. Heute sagt sie: „Er war meine erste Liebe und mein erster Mann…bis heute.”
Das große Leiden der Porträtierten ist die Einsamkeit. Sie vermissen die Freunde, die Familie und die Geborgenheit, die sie in der Heimat erlebt haben. Die Macher der Schau deuten zumindest an, dass sich Gesellschaft und Staat mehr kümmern müssten. “Es gibt keine adäquate soziale Hilfe für diese Frauen in Deutschland”, sagt Akkent. “Sprachkurse allein reichen nicht.”
Die Ausstellung schenkt dem abstrakten Thema der Emigration Gesichter und liefert so einprägsame wie intime und oft bestürzende Zitate. Zugleich jedoch bleibt sie, sich den Einzelschicksalen ganz hingebend, an der Oberfläche, weil die Lebensberichte, so ehrlich sie formuliert werden, ohne die Zügel der Wissenschaft davon galoppieren. Am Ende klingen sie erschreckend austauschbar. So bleibt auch offen, ob die Ukrainerin Natasha Shevchenko oder Irina Jewdokimowa aus Sankt Petersburg stellvertretend für viele andere Frauen stehen. Man darf das vermuten, erfährt es allerdings nicht.
Was bedeutet es etwa, wenn Nicole Borisyuk, die als Deutsche einen Ukrainer geheiratet hat und in Odessa lebt, erzählt, sie habe nie Heimweh? Ist die umgekehrte Auswanderung – aus dem Westen in den Osten – leichter? Und wenn das so ist, woran liegt das? Hat der Deutsche weniger Bindung an die Heimat? Ist er, als Mitglied einer modernen Gesellschaft, die Flexibilität verlangt, an Aufbrüche und Abschiede gewöhnt? Oder kann er, wohlhabend und selbstbewusst, mehr Rechte verlangen und freier leben? Mit solchen Fragen lässt einen die Schau allein.
„Abenteuer Ehe – Heiratsmigrantinnen gestern und heute” (deutsch und russisch), Literaturmuseum Odessa, Lanzheronskaya 2, 5. bis 30. Oktober, Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr
Wenn jetzt die Sonne scheint, dann ist das nicht mehr selbstverständlich,
Und du nimmst jeden Strahl einzeln und dankbar hin. Nichts ist mehr so wie‘s war, und du kannst spür‘n: Alles ist endlich.
Auch wenn du‘s nicht verstehst, ahnst du doch: Es hat seinen Sinn.
Du brauchst nicht mehr über die Gehsteigzuparker zu meckern:
Die Autoschickimickis sind schon längst auf und davon
Mit ihr‘n Pelzdamen, deren Hunde die Wege vollkleckern –
Ich liebe das Ende der Saison.
Reinhard Mey: “Ich liebe das Ende der Saison”, aus: “Alles geht!”, 1992
ODESSA, UKRAINE Darf so einer Präsident der USA werden? Barack Obama, Kandidat der Demokraten, entzaubert sich schon seit Monaten – behaupten zumindest seine Gegner. Jetzt kommt’s ganz Dicke, festhalten, anschnallen, dieser Fehler haut Sie sonst um. Ich bringe es den Barackisten so schonend wie möglich bei: Mister Obama hat “the Ukraine” gesagt, und das sei falsch, sagt der hier.
Ich gebe zu: Ich habe es auch nicht gewusst. Ein Grund könnte sein, dass ich mit Amerikanern, Briten, Maltesern, Australiern und Neuseeländern selten über die Ukraine spreche. Ich gebe weiterhin zu: Würde ich auf Englisch schreiben, hätte ich wegen zu viel “the Ukraine” längst von meinem Amt als Blogger zurücktreten müssen. Überdies gebe ich bekannt, dass in Odessa gerade ein Sack Sonnenblumenkerne umkippt. Ich melde mich gleich vom Ort des Geschehens mit Breaking News. So lange lauschen Sie doch dieser spannenden Debatte zwischen Obama und John McCain. Bei vier Minuten und 42 44 Sekunden geschieht das Unfassbare.
Das Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit 1991 war für die Ukraine eine verlorene Zeit. Die Wirtschaft brach ohne die Absatzmärkte im Osten zusammen, der Staat versagte, betrog seine Bürger und verkaufte seine profitabelsten Betriebe zu Schnäppchenpreisen an Oligarchen. Bis heute leidet das Land an den Folgen. Eine Geschichte über den skandalösen Räumungsverkauf.
„The Great Giveaway Revisited”, titelt die Kyiv Post in ihrer jüngsten Ausgabe und schickt ihre Leser zurück in die neunziger Jahre, in jene Zeit, als der ukrainische Staat sein Eigentum für immer verscherbelt hat. Den „schrecklichen Preis” für den Ausverkauf zahle das Land bis heute, schreibt Mark Rachkevych. Wer will, kann seinen Text als Kriminalstück lesen, genug zwielichtige Personen lässt der Autor jedenfalls auftreten: vor allem Politiker und Unternehmer, wobei die Hauptfiguren oft beides zugleich sind.
Auf dem Titelfoto der Kyiv Post lodern Flammen aus dem Bauch nicht irgendeines Stahlunternehmens. Kriworischstal gehörte lange dem Staat, dann für kurze Zeit zwei Clan-Brüdern – einem Multimilliardär, der seine Karriere als „Gewaltunternehmer” begonnen hatte, und einem Schwiegersohn mit guten Kontakten nach oben -, schließlich wieder dem Staat. Später mehr.
Schlimmer als unter den Kommunisten nach Stalin
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hatten westliche Experten die Privatisierung der Staatsbetriebe als Abschied von der Sowjetära und als Ankunft in der Marktwirtschaft begrüßt. Doch der Aufschwung nach dem Niedergang des Sozialismus war ein Privileg Weniger. Bis Mitte der neunziger Jahre wurde in der Ukraine vielerorts – auch in Großstädten wie Odessa – gar gehungert und gefroren. Die Inflation stieg von Sommer 1993 bis Mitte 1994 auf 1000 Prozent.
„Der Durchschnittslohn eines Fabrikarbeiters reicht nicht mehr für den Mindestbedarf an Lebensmitteln”, schrieb der Spiegel im Juni 1994. „Ins Krankenhaus muss ein Patient Essen, Bettwäsche, Medizin und gleich auch noch den Röntgenfilm selbst mitbringen. So schlimm war es nicht einmal unter den Kommunisten nach Stalin.” Im Buch „Ukraine” des Historikers Ernst Lüdemann heißt es über diese Zeit: „Viele Familien, auch kinderreiche, hausten in so beengten Verhältnissen, wie sie in Deutschland zuletzt in der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Krieg einige Jahre herrschten.”
Der noch heute ungerecht verteilte Wohlstand und die riesigen Einkommensunterschiede sind ein Überbleibsel dieser Krisenjahre. Die Ukraine hat mehr Milliardäre pro Einwohner als Russland, das Land mit den drittmeisten Milliardären der Welt nach den USA und Deutschland. Oligarchen beherrschen die wichtigsten Betriebe und besitzen somit auch politische Macht.
Ein Name fällt dabei immer wieder: Rinat Achmetow. Er ist mit einem Vermögen von – aktueller Stand – 31 Milliarden Dollar der reichste Mann der Ukraine. In den neunziger Jahren gründete er eine Bank, machte Unternehmen über Kredite von sich abhängig und kaufte Staatsbetriebe. Als Spielzeug und Nachweis seiner Seriosität leistet er sich den Fußballklub Schachtjor Donezk im Osten des Landes. Im Skandal-Wahlkampf von 2004 soll er den pro-russischen Präsidentschaftskandidaten Wiktor Janukowitsch unterstützt haben, für dessen Partei der Regionen er auch im Kiewer Parlament sitzt. Achmetow gehören – unter anderem – der Fernsehsender Ukraina und die Zeitung Segodnya. Für den Spiegel war er 2005 „der mächtigste Mann” des Landes.
Das Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit war für die Ukraine eine verlorene Zeit. Die Wirtschaft brach ohne die Absatzmärkte im Osten zusammen, der Staat versagte und ließ seine Bürger allein. Blühende Landschaften gab es – es waren allerdings Sumpfwiesen der Korruption. Dass westliche Errungenschaften – ein funktionierendes Rechtssystem, freie Medien, staatliche Fürsorge, subventionierte Kultur, ehrenamtliches Engagement – bis heute fehlen und nicht geschätzt werden, lässt sich so teilweise erklären. Der schlechte Ruf von Politikern ist ein Produkt von damals, als die Herrschenden die Korruption nicht verfolgten, sondern förderten und von ihr profitierten.
So setzte sich der ehemalige Ministerpräsident Juchym Swjahilskyj im November 1994 nach Israel ab, nachdem er Hunderte Millionen Dollar aus der Staatskasse geplündert hatte. Im Februar 1997 kehrte er zurück, da gegen ihn keine Anklage erhoben worden war. Er wurde wieder Direktor der wichtigsten Kohlegrube im Dombass und saß wie vor seiner Flucht als Abgeordneter im Parlament.
Der große Deal des Hütchenspielers
Im Juni 2004 wurde Kriworischstal, das größte und profitabelste Stahlunternehmen des Landes, für 800 Millionen Dollar verkauft, obwohl internationale Investoren fast das Doppelte geboten hatten. Bis heute gilt dieser Deal als eines der schlimmsten Beispiele für Korruption und Vetternwirtschaft. Die neuen Besitzer des Konzerns waren Achmetow und Viktor Pinchuk. Achmetov hatte seine Karriere als „Gewaltunternehmer” in Donezk begonnen, was konkreter bedeutet: Er erpresste Schutzgeld, boxte und betrog als Hütchenspieler. Achmetow steuert den „Donezker Clan”.
Pinchuk wiederum, Anführer des “Dnjepropetrowsker Clans”, ist mit neun Milliarden Dollar Vermögen der zweitreichste Mann des Landes und Schwiegersohn von Leonid Kutschma. Als Kriworischstal veräußert wurde, saß Kutschma auf einem nicht ganz unwichtigen Posten: Er war Präsident der Ukraine – und ihr Diktator.
Nach der Orangen Revolution im Winter 2004 und dem demokratischen Machtwechsel zu Präsident Wiktor Juschtschenko erklärte ein Kiewer Gericht das Geschäft für ungültig. Der Stahlkonzern wurde abermals verkauft, diesmal für 4,8 Milliarden Dollar, und brachte der Ukraine auf einen Schlag mehr Geld als alle früheren Privatisierungen zusammen. Für kurze Zeit schien ein großes Reinemachen möglich. Die neue Ministerpräsidentin Julia Timoscheno versprach, sie werde den Verkauf von 3000 Staatsunternehmen überprüfen. Auch sechs Konzerne, die Achmetow erworben hatte, standen auf ihrer Liste, die es vielleicht tatsächlich gab.
Dass ausgerechnet die einstige „Gasprinzessin” die Betrügereien aufdecken wollte, hatte Charme. Der Buchautor Matthew Brzezinski nannte sie die „Elf-Milliarden-Dollar-Frau”, weil die Oligarchin Timoschenko – damals in den wilden neunziger Jahren natürlich – fast ein Viertel des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts kontrolliert habe. Zudem stand sie Pawel Lasarenko nahe. Der frühere Ministerpräsident, der in seiner Amtszeit (1996 bis 1997) 200 Millionen Dollar veruntreut haben soll, wurde 2006 in den USA zu neun Jahren Haft verurteilt. Die Weltbank zählt ihn zu den zehn besonders korrumpierten Menschen der Welt.
“Die Elf-Milliarden-Dollar-Frau” als Reinigungskraft
Zu einer Reprivatisierungswelle ist es nicht gekommen. Der Machtkampf zwischen Timoschenko und Präsident Juschtschenko, der schon Monate nach der Revolution ausbrach und bis heute andauert, hat die Aufklärung verhindert. Geblieben sind auch viele Zeugen und Akteure dieser Skandalzeit. Bisweilen dienen sie dem Staat in ziemlich hohen Positionen.
Wie viele Milliarden Dollar der ukrainische Staat bei der Trennung von seinem Besitz verbrannt hat, ist nicht bekannt. Auch Mark Rachkevych von der Kyiv Post weiß es nicht. Er schreibt, genauso ungewiss sei, um wie viel besser es den Ukrainern heute ginge, wenn die wichtigsten nationalen Unternehmen transparent verkauft worden wären. Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow nennt das, was der Westen für Kiewer Chaos hält, “ein gut kontrolliertes Schachspiel: Die Politiker sind die Figuren, die Oligarchen die Spieler”. Kurkow, ein eleganter Zyniker, sieht in Achmetow und Pinchuk sogar Stützen der Ukraine, weil Oligarchen wie sie “Stabilität für ihre Geschäfte brauchen. Solange die Ökonomie in deren Händen liegt, wird das politische Theater im Lande keine ernsthaften Auswirkungen haben”.
ODESSA, UKRAINE Seit heute habe ich einen Internetzugang zu Hause – ich nehme also Abschied von einigen Kneipen, die mir morgens, mittags und abends als Arbeitsplatz gedient haben. Am meisten tut es mir leid um Mick O’Neill’s Irish Pub in der Deribasowskaja. Ich werde in Zukunft häufiger dieses Video von jaytyler1973 anschauen, wenn mich die Sehnsucht überkommt. Achten Sie vor allem auf den radikalen Kameraschwenk, den jaytyler1973 bei ungefähr einer Minute wagt. Ist nichts für schwache Nerven.
ODESSA, UKRAINE Auf die großen Meister ist eben Verlass: Kaum habe ich den Kolumnistenkollegen Axel Scherm gefragt, ob mein Freund Oleg bei ihm am Sonntag über Skype die bayerische Landtagswahl schauen darf, ist die Antwort schon da. Natürlich hat Axel kolumnistisch geantwortet, ist schließlich ein Profi, der Mann. Ich muss allerdings gestehen, dass ich den Text noch nicht gelesen habe, ich kenne weder Überschrift noch Pointendichte, noch die Geschichte. Ich vertraue.
Jetzt besuche ich Axel, fotografiere in der guten Stube ein bisschen herum und überrede den Kollegen zur Blogsbrüderschaft. Würden Sie mir bitte folgen. Ich geh vor.
(Ich bin gleich zurück.)
Ich bin wieder da. Es war sehr schön bei und mit Axel. Natürlich hat er mich nicht enttäuscht. Sein Text “Wer die Wahl hat…” ist toll. Allerdings müsste einer von uns beiden vor dem nächsten Blogsperiment noch mal neu tapezieren, wie der Schnappschuss beweist, den ich mitgebracht habe den Axel mir gerade geschickt hat, weil meine Aufnahme von abscheulicher Qualität ist.
Und falls Sie immer noch nicht bei Axel Scherm waren, dieser Auszug dürfte das ändern.
Jetzt stöpsel ich schon eine Stunde an dieser verfluchten Kamera herum und es will und will kein Bild auf dem Bildschirm erscheinen. Wahrscheinlich bastel ich das ganze Wochenende und am Sonntag um 18:10 Uhr stell’ ich fest, dass ich vergessen habe, zur Wahl zu gehen. So weit kommt es noch. Mehr
ODESSA, UKRAINE Ich verstehe meinen Freund Oleg nicht mehr. Seit Wochen verfolgt er den bayerischen Wahlkampf, er liest jede Meldung, kennt alle Umfragen und weiß sogar, wie der Spitzenkandidat der FDP heißt. Ich weiß gerade noch, dass der sozialdemokratische Herausforderer nicht Magnet heißt. Oleg hat auch die Programme der Parteien studiert und für jede mögliche Regierung ein Kabinett gebildet. Jeder kriegt mindestens ein Ministerium: Frauen, linker Flügel, rechter Flügel, Gewerkschafter, Katholiken, Protestanten, Oberpfalz, Niederbayern. Damit geräuschloser regiert werden kann, hat er selbst dem Querulanten, den es in jeder Partei gibt, ein Pöstchen verschafft. Bei Oleg wird er Landtagspräsident.
Seit einer Woche klingelt jeden Abend um kurz nach zehn mein Telefon. Oleg fragt: „Was meinst du, Kolumnist: 50 plus x oder weniger für die CSU? Weißt du was, was ich nicht weiß?”
Scharf auf die Wählerwanderung
Bis vor einer Stunde hat Oleg geglaubt, wir würden am Sonntag zunächst gemeinsam die erste Prognose in der ARD gucken und danach den Rest genießen: Live-Schalte in die Parteizentralen, Jubel, Tränen, Durchhalteparolen, erste, zweite und dritte Hochrechnung, Rücktritte, Koalitionsgerüchte und vorläufiges amtliches Endergebnis gegen Mitternacht.
In Odessa aber habe ich nicht einmal einen Fernseher. Wie soll ich ein deutsches Programm empfangen? Ich glaube auch nicht, dass irgendeine Kneipe auf einer Großleinwand zufällig die Wahl in Bayern zeigt.
„Es wird nichts, Oleg.”
„Schade, ich hatte mich schon so auf die Elefantenrunde gefreut.”
„Tut mir leid. Du warst ja auch so scharf auf die Wählerwanderung.”
„Erzähl mir jetzt wenigstens von Bayern, eurem herrlichen Freistaat”, sagte er.
Unterwegs im Alkoholfrei-Staat
Ich habe München im Oktober geschildert und Oleg den warmen Wind spüren lassen, der manchmal aus Italien über die Alpen herüberweht und die Schönen auf der Maximilianstraße noch ein bisschen schöner macht, ich habe ihn durch den Englischen Garten geführt und ihm auf dem Viktualienmarkt eine Leberkässemmel spendiert. „München hat übrigens mehr Regentage im Jahr als Hamburg”, habe ich gesagt. „Wusstest du das? In Hamburg schlägt das Wetter nur schneller um.” Am Abend sind wir ins Staatstheater gegangen. Das Oktoberfest und das Hofbräuhaus haben wir nicht mehr geschafft. Mein Bayern für Oleg war ein Alkoholfrei-Staat.
Oleg öffnete die Augen. „Du würdest Günther Beckstein wählen”, sagte er.
„Fragst du oder weißt du?”
„Du bist doch so ein Ordnungsfanatiker. Muss doch immer alles sauber sein in deiner Welt. Du hättest gar keine Wahl. Beckstein wäre dein Mann.”
Ich habe Oleg erzählt, wie mir Günther Beckstein vor fast einem Jahr, am Tag der Deutschen Einheit in Schwerin, ein Interview gegeben hat, es war kein richtiges Interview, er hatte den Mikrofonhaltern vom Fernsehen schon alles erzählt, als ich mich ihm in den Weg stellte. Beckstein kam vom Drachenbootrennen der Ministerpräsidenten, war verschwitzt und schnaufte noch ein bisschen. Ich weiß nicht mehr, was ich in meinen Block gekritzelt habe, ich erinnere mich aber, dass ich Beckstein mochte. Er gab sich nicht betont volksnah und hatte keine vorbereiteten Antworten im Mund, er besaß Selbstironie und nahm sich alle Zeit für diesen Volontär einer mecklenburgischen Zeitung, der lauter seltsame Fragen stellte, aber tat, als sei er der Parlamentskorrespondent der Süddeutschen und immer wieder mit dem Putsch gegen Edmund Stoiber kam. Der Doktor der Juristerei – Promotionsthema: “Der Gewissenstäter im Straf- und Strafprozessrecht” – hätte über mich lachen können. Er lachte lieber über sich selbst. Beckstein war anständig. Sechs Tage später wurde er Landesvater.
„Er war der Sympathischste von allen Ministerpräsidenten”, sagte ich zu Oleg
„Und wer war am unsympathischsten?”
„Das war eindeutig…nein, das kann ich nicht verraten. Der Mann hört sowieso bald auf.”
„Nun sag schon.”
„Du kennst ihn nicht”, sagte ich und flüsterte einen Namen.
„Kenn ich nicht. Sag noch mal. Wie heißt der?”
Ich flüsterte abermals.
„Nie gehört.”
„Geht vielen so”, sagte ich und schwieg.
Der Kolumnistenkumpel als Retter
Ich dachte an Günther Beckstein vor einem Jahr und dann an die Schlagzeilen der vergangenen Wochen, an die Häme für den Wahlkämpfer, an diese Fotos. Manchmal war in den Zeitungen das Bierglas größer als Beckstein. Manchmal spiegelte sich in den Biergläsern mein Gesicht. Ich hätte Beckstein damals in Schwerin warnen müssen. Ich hab’s versaut.
„Ich hab’s”, rief Oleg und riss mich aus den Gedanken. „Frag Axel!”
„Wie bitte?”
„Axel Scherm muss uns helfen. Er ist dein Kolumnistenkumpel.”
Wenn ich Oleg richtig verstanden habe, sollen wir Axel zehn Minuten vor der ersten Prognose über Skype anrufen. Wir werden schon erwartet. Herr Scherm hat am Nachmittag eine Kamera an seinen Computer angeschlossen und auf den Fernseher gerichtet. Dank einiger Testanrufe anderer Kolumnisten konnte er in den folgenden eineinhalb bis zwei Stunden das Übertragungsbild Stück für Stück optimieren. Schon seit dem Mittagessen murmelt er unaufhörlich: „Ich darf nicht vergessen: Fernseher um halb acht ganz laut drehen! Oleg will die Elefanten gut verstehen.” Das ist, in groben Zügen, der Plan.
„Meinst du, das klappt, Kolumnist?”
„Ich frag Axel.”
„Du hast was gut bei mir.”