Dieses Thema passt nicht hierher. Es ist sogar mir egal, obwohl ich sonst zu allem eine Meinung habe.
Da mich aber mein Freund Axel gestern zum Photoshop-Friseur geschickt hat und überdies die Süddeutsche Zeitung heute über die missratene Vodafone-Werbung mit Sascha Lobo berichtet, traue ich mich aus der Deckung. Axel verdanke ich übrigens auch die feine Überschrift.
Schlechte Lobo-Wortspiele werden im Kommentarbereich angenommen. Axel darf nur mitmachen, wenn er nicht meine drei klaut, die ich ihm gestern Abend per Mail geschickt hatte: LoboXXXe, LoboXXp und Lobo sXXXXXs.
ODESSA/SANJEJKA, UKRAINE Vielleicht könnte mir jemand, der sich im Slawentum ein bisschen auskennt, erklären, warum diese kurzen Strohbesen so ungemein populär sind, obwohl es absolut unbequem ist, damit zu fegen. Tradition allein kann es doch nicht sein.
ODESSA/ILLITSCHOWSK/SANJEJKA, UKRAINE Ich brauche einen Termin bei Günter Gaus. Es ist dringend. Mein Sohn will ihn kennen lernen. Ich weiß schon, dass Gaus vor ein paar Jahren gestorben ist, mein Sohn weiß es auch, sogar von mir. Trotzdem habe ich versprochen, ein Treffen zu arrangieren.
Günter Gaus (1929-2004) war Journalist, Publizist, Fernseh-Interviewer und vor allem erster Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR. Er arbeitete zwar als Botschafter, musste aber anders heißen, weil Bonn die Souveränität des bösen Nachbarn nicht anerkannte. Seit einer Weile lese ich „Widersprüche”, seine Autobiografie. Gleich am ersten Tag – Günter war noch ein Gausbub – fragte mein dreijähriger Sohn, wer der Mann auf dem Titelbild des Buches sei. Er lauschte, was mir einfiel, und betrachtete die Fotos der Männer mit den schweren wie schwarzen Sechziger-Jahre-Hornbrillen: Gaus und Henry Kissinger, Gaus und Rudolf Augstein, Gaus und Gustav Heinemann. Von Kanzler Willy Brandt war mein Sohn fasziniert – wahrscheinlich, weil der keine Sechziger-Jahre-Hornbrille trug. Es vergingen ein paar Tage. Mein Gaus erzählte mir vom Zweiten Weltkrieg, machte Abitur und studierte.
Am Sonnabend, am Strand von Sanjejka, unterbrach mich mein Sohn plötzlich, zeigte auf das Gaussche Gesicht und sagte: „Schon tot!”
„Ja.”
„Willy Brandt ist auch schon tot.”
„Stimmt”, sagte ich.
„Wollen wir ihn mal besuchen?”
„Willy Brandt?”
„Ja.”
„Der hat bestimmt keine Zeit für uns”, sagte ich. „Er hat viel zu tun.”
„Und der andere, hat der Zeit?”
„Günter Gaus?”
„Ja, hat der auch viel zu tun?”, fragte mein Sohn.
„Nö, ich glaube nicht.”
„Dann fahren wir zu ihm, ja?”
„Wie denn?”, fragte ich.
„Na, mit der Marschrutka“, sagte mein Sohn. „Geht das?”
„Klar, aber ich muss erst noch herauskriegen, wo er jetzt wohnt.”
Ich war nicht in der Stimmung, ihm zu erklären, was der Tod für ein Leben bedeutet, vielleicht hatte ich auch Angst, dass er noch zu wenig versteht oder schon zu viel. Das Thema verlangt, dass ich mir meine Worte erst zurechtlege. Hätte ich ihm erklären sollen, was ein Leichenschmaus ist oder ein Friedhof? Und was ist mit dem Wort „Trauerfeier” – gibt es einen größeren Widerspruch für einen Dreijährigen?
Natürlich sind mir Gedanken an den Tod nicht fremd. Seit ich in der Ukraine lebe, kann ich sie auch schlecht verdrängen. Gelegentlich rechne ich mit meinem frühzeitigen Ableben. Gestern, auf dem Rückweg von Sanjejka, war wieder so ein Augenblick. Ich fuhr durch Illitschowsk, ich war neugierig auf die Hafenstadt in der Nähe Odessas, ich hatte schon viel Gutes über sie gehört. Illitschowsk hat außer vielen schrecklichen Plattenbauten auch nette Ecken. Mancherorts leuchtet es sogar grün, und die Mülleimer sehen aus wie Pinguine.
Irgendwo dort bedrängte mich ein anderes Auto, es verfolgte mich und fuhr dicht auf. Ich drehte die Musik lauter, so etwas beruhigt mich sonst immer, klappte den Rückspiegel um, um den Verfolger leichter ignorieren zu können, und beschleunigte schließlich. Nun wusste ich wenigstens, dass ich mir nichts eingebildet hatte – es war jemand hinter mir her. Am Hafen wurde ich dann geschnitten, der Wagen bremste mich aus, und heraus sprang eine Frau. Sie lief heran, klopfte gegen die Scheibe und fragte, ob ich gerade auf der Suche nach einem Urlaubsquartier in Illitschowsk sei. Ich verneinte, klappte den Rückspiegel zurück und vergewisserte mich, dass ich noch am Leben sei. Die Frau verabschiedete und schaute noch einmal auf mein deutsches Autokennzeichen.
Auf der Krim hatte ich einen jungen Deutschen kennen gelernt und mich mit ihm – nach ein paar Bieren – amüsiert über die Art, wie Ukrainer Ferienwohnungen zu vermieten versuchen. Sie sitzen den ganzen Tag unter einem Sonnenschirm und warten, dass sie um eine Ferienwohnung gebeten werden. Wir fanden diese Art der Geschäftsführung, vorsichtig ausgedrückt, ein bisschen unproduktiv, ja passiv. Die Dame in Illitschowsk war wiederum eindeutig zu aktiv.
Wenn Günter Gaus in seiner Autobiografie nicht ganz geflunkert hat, müsste er im Himmel gelandet sein. Mir scheint, er war ein guter Mensch. Klar, er lobt sich ein bisschen zu oft in seinen Memoiren – aber wer nimmt sich denn nicht ernst, wenn er „ich” ist? Ich werde Gaus finden. In der Hölle lebt er allenfalls zeitweilig – als Ständiger Vertreter des Himmels. Er arbeitet zwar als Botschafter, darf sich aber natürlich auch diesmal nicht so nennen. Der Himmel hat die Souveränität der Hölle bislang nicht anerkannt.
MISHOR/JALTA, UKRAINE Manchmal bin ich auch nach einem Jahr in der Ukraine so naiv, dass es mich erschreckt. Ich hatte mich auf ein Mittagessen gefreut in Hütte Nummer 14, auf Schaschlik in 1200 Metern Höhe, die Augen aufs Gipfelkreuz mit der schönen Legende gerichtet. Es war mir vom Budenboss zugesagt worden. Ich geriet in ein Verkaufsverließ. Kaum dass ich bestellt hatte, betrat ein Weinhändler – der Titel mag ein bisschen hochgegriffen sein – das Speisezimmer im zweiten Stock. Er trug einen Karton mit sechs Flaschen bei sich und und stellte Plastikbecher auf die Tische, begann zu reden und hörte lange nicht mehr auf. Er verteilte Kostproben, indem er unaufhörlich rote Flüssigkeit in die Becher spritzte. Der Inhalt schmeckte süß wie Portwein – aber das war auch die einzige Gemeinsamkeit. Ich bekam schon vom Riechen Kopfweh. Der Mann verkaufte allerhand.
Schon vorher war ich auf dem Ai-Petri (Heiliger Petrus), einem der berühmtesten Berge der Krim, vor allem damit beschäftigt gewesen, die Angebote der Taxifahrer, Kellnerinnen und Schaschlikgriller auszuschlagen. Auch den Adlern, die unbedingt auf meine Schulter wollten, um sich mit mir auf meine Kosten fotografieren zu lassen, musste ich absagen. Sogar dem Kamel, das ich besteigen sollte, habe ich aus Zeitgründen einen Korb gegeben. Wenn mich meine Wahrnehmung nicht getäuscht hat, sind auf dem Ai-Petri in diesem Sommer mehr Verkäufer als Käufer. Die Krise ist eine Klettertante Bergsteigerin.
Nachdem der Weinhändler gegangen war, erzählte eine Babuschka Schnurren über die Krim. Das Gipfelkreuz auf 1234 Metern, berichtete sie, hätten einst italienische Filmleute bezahlt, um Ai-Petri in eine Alpenkulisse zu verwandeln. Die Leute, typisch Italiener, seien jedoch zu faul gewesen, das Kreuz nach dem Ende der Dreharbeiten wieder abzubauen, weshalb es noch immer dort stehe. “Wer nicht auf dem Ai-Petri war, war nicht auf der Krim”, sagte sie noch und bot plötzlich grünen Tee zum Kauf an. Mein Rinderschaschlik schmeckte trotzdem und war nicht mal sehr teuer.
Die Seilbahn, die am Urlaubsstädtchen Mischor – mit dem Taxi 20 Minuten entfernt von Jaltas Zentrum – beginnt, wurde in nur 20 Jahren gebaut. Es gab da ein paar klitzekleine Probleme:
Der erste Stein im Bau der Drahtseilbahn wurde im Jahre 1967 gelegt, aber, als der einzigartige Bau schon praktisch fertig war,wurde es die Tatsache des Fehlers in den Rechnungen offensichtlich: Gehangene Seilen haben auf die Felsen gelegen. Es konnte man den Teil des Felsens entfernt beseitigen, aber es wurde nicht entschieden,die Schönheit der Landschaft zu verletzen . Man mußte das Projek ändern, von neuem alle Rechnungen hervorbringen. Und nur in einigen Jahren wurden die Arbeiten erneuert.
In meinem Krim-Reiseführer, veröffentlicht 2006, kostet die Fahrt hinauf und herunter noch 36 Griwna. Bezahlt habe ich 100 Griwna. Beschenkt wird man dafür mit einem herrlichen Ausblick und einem Film, den man selbst gedreht hat: Das Leben läuft noch einmal ab. Im Reiseführer steht sinngemäß, man könne sowohl mit dem Taxi als auch mit der Gondel den Berg bereisen – atemberaubend gefährlich sei das eine wie das andere, die Serpentinenkurverei im Auto genauso wie die drei Kilometer lange Schaukelei durch die Luft im Vertrauen auf die sowjetische Technik. Sterben sei nicht unwahrscheinlich.
Es ist dann aber auf der Rücktour nur eine Frau umgekippt.
JALTA, UKRAINE Wenn ich richtig rechne, hat mich jeder der 86,5 Kilometer im Trolleybus von Simferopol nach Jalta 0,1387283236994219653179190751445 Griwna gekostet. Das sind 13,87283236994219653179190751445 Kopeken, also nach heutigem Wechselkurs 0,0131irgendwas Euro oder 1,3 Cent und ein paar Zerquetschte. Das Ticket für die längste Trolleybusstrecke der Welt kostete zwölf Griwna, und die Fahrt dauerte etwas mehr als zweieinhalb Stunden. Vielleicht wären wir unter 150 Minuten geblieben, wäre nicht alle 20 Kilometer das Kabel vom Bus hinauf zur Stromleitung abgerissen. So aber musste der Fahrer viermal hinausklettern, mit einem Läppchen, das er sich vom Armaturenbrett gegriffen hatte, und den Schaden beheben. Ich müsste mir das Abenteuer, diese Berg-und-Talfahrt entlang herrlicher Natur im Nachhinein also gar nicht schönrechnen.
Ein paar Kilometer vor Jalta gab es überdies noch einen Stau: Vier Trolleybusse standen Schlange, weil auf diesem Abschnitt der Strom ganz ausgefallen war. Es ging aber so schnell weiter, dass ich kein Zeit hatte, ein Foto zu machen. Unter der Hitze, dem Gebrumme und Geklapper ächzten alle. Besonders die Kinder hatten sich irgendwann nicht mehr unter Kontrolle, sie schrien und nervten die Passagiere – dummerweise waren es meine Kinder. Sie können mich einen Rabenvater und Egoisten nennen – aber ohne diese Tour wäre mein Leben ärmer. Und zurück von Jalta habe ich auch ein Taxi gewählt, was die Fahrzeit halbierte. Da kostete der Kilometer übrigens 3,4682080924855491329479768786127 Griwna.
Als viel unbequemer sind mir die zwei zwölfstündigen Fahrten mit dem Nachtzug in Erinnerung. Von Odessa nach Simferopol gab es auf keiner Toilette Wasser, und zurück stampfte dann eine eindeutig zu schwere Schaffnerin fortwährend den schmalen Gang des Abteils entlang und brüllte, was sie den Reisenden anzubieten hatte: “Чай, кофе, холодное пиво!”* Sie brüllte es abends um elf, morgens um sieben und sogar noch 20 Minuten vor der Ankunft in Odessa. Wasserflaschen hatte sie natürlich nicht in ihrem Kämmerchen.
JALTA/ODESSA, UKRAINE Mag sein, dass mich der Vollmond über Jalta und die vorbeidefilierenden Urlaubsschönheiten ein bisschen unkritisch gemacht haben. Möglicherweise war ich auch so überwältigt, weil mein Wissen über russische Rockmusik mit Wiktor Zoi beginnt und mit der Gruppe “Kino” aufhört. (Experten dürften die Größe meiner Ahnungslosigkeit ermessen.) Ich bestreite all das jedoch. Es war ein wundervolles Konzert an Jaltas Strandpromenade. Die fünf jungen Leute um den Apfelsaft schlürfenden Sänger spielten fast zwei Stunden vor einem zunehmend betrunkener werdenden Publikum. Sie sangen Lieder, die ich nicht kannte, über Sachen, die ich nicht verstand. Mein Russisch rockt einfach noch nicht.
Und jetzt kommt es: keine CD, die ich hätte kaufen können, keine Homepage, auf die ich jetzt verweisen könnte – die Gruppe hat noch nicht mal einen Namen. Alles, was ich weiß, ist, dass die vier Männer und die hübsche, etwas schüchterne Keyboarderin Jaltaer¹ sind. Erzählt hat es mir der Manager, der natürlich gar kein Manager ist, sondern bloß ein Freund, der auf die Schachtel aufpasst, in die Zuhörer Geld werfen können. Abend für Abend, außer montags, spielen sie dort, das Schwarze Meer als Backstagebereich, und werden wahrscheinlich nie berühmt und reich. Es ist ein Jammer.
¹ Nein, es heißt nicht Jalteser.
(Hiermit eröffne ich die Krim-Woche dieses Blogs.)
Ich werde bis Dienstagmittag auf der Krim sein. Bitte werfen Sie ruhig ein paar Scheine in den Kommentarbereich – denn bei den Preisen auf der Halbinsel werde ich voraussichtlich pleite zurückkommen. Falls Sie Sehnsucht nach mir haben und mich in Jalta besuchen wollen, finden Sie mich hier. Ich empfehle, mit dem Nachtzug nach Simferopol zu fahren und von dort auf der längsten Trolleybusstrecke der Welt weiter zu düsen. Für die 86 Kilometer bis Jalta brauchen diese Uraltbusse angeblich kaum mehr als zweieinhalb Stunden.
Zur Sicherheit wird mein Freund Axel alle Kommentare von Leuten freischalten, die hier zum ersten Mal vorbeischauen. (Er wird sich also nicht überarbeiten.) Bis zu meiner Rückkehr können Sie vielleicht raten, aus welchem Land der Besitzer dieses schönen Flitzers kommt. Ich habe mir sagen lassen, er sei vor zwei Jahren schon einmal in Odessa gewesen.
ODESSA/KUJALNIK, UKRAINE Ich habe mir mal ein Schlammbad im Kujalnik-Liman gegönnt. Es soll angeblich heilen und Wunder bewirken – das ist bewiesen, seit 1829 unter Leitung von Fürst Michail Semjonowitsch Woronzow eifrig geforscht wurde. Die Heilanstalt eröffnete fünf Jahre später. Heute gibt es im Kurort Kujalnik (курорт Куяльник) einige Sanatorien. Der gute Schlamm, den man sich auf die Haut schmiert, stinkt allerdings so bestialisch, dass einen die Wohnung auch nach zwei Tagen noch an den Ausflug erinnert. Und das gute Salzwasser, mit dem man den Schlamm hernach abwäscht, brennt so furchtbar in den Augen, dass man zu Tränen gerührt ist.
Auf der Fahrt nach Kujalnik, nicht einmal 20 Kilometer entfernt von Odessas Zentrum, gerät man jedoch zunächst, offenbar unvermeidlich, in einen Stau, der niedrigste menschliche Instinkte weckt. Immer wieder ziehen nämlich Fahrer nach rechts, überholen auf der staubigen Piste und drängeln sich dann in eine Lücke. Überholte ertappen sich gelegentlich beim Gedanken, eine Bürgerinitiative zur Wiedereinführung der Prügelstrafe zu gründen.
Die Gegend hat links und rechts durchaus einige Reize zu bieten:
Nach der Ankunft entkleidet man sich am Auto, das nur ein paar Schritte entfernt vom See parkt, durchquert einige Benzinpfützen und geht 100 Meter hinein ins Wasser, um nach dem Schlamm zu graben. Gräbt man weiter vorn und ziemlich erfolglos, zeigt also offenkundig seine Blödheit, kann es passieren, dass eine neunmalkluge Neunjährige ankommt, zwei Hände voller Schlamm, Richtung Horizont weist und dabei ruft: “Von dooooooooooooort!”