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Kolumne: Mein Sohn und der Sandalismus

ODESSA, UKRAINE Ich habe die Kindergärtnerin meines Sohnes sehr, sehr glücklich gemacht. Um zu verstehen, wie viel mir das bedeutet, sollte ich vielleicht gestehen, dass sie meinetwegen gewöhnlich sehr, sehr unglücklich ist. Zuletzt haben ihr alle Schuhe meines Sohnes missfallen, sie fand sie mal zu klein, mal zu groß, dann zu warm oder zu ausgeleiert. Zwei Wochen lang beklagte sie sich bei mir. Ich stopfte Watte in die zu großen Blauen meines Sohnes und band die zu kleinen Braunen etwas lockerer. Doch dann hatte sie endgültig genug von meiner Schuhmelei, gab mir ihre Rabattkarte und schickte mich in das dazu passende Geschäft. Ich kann nicht sagen, dass ich erfreut gewesen wäre, es war eher so, dass ich gehorchte. Jeder Vater, ganz gleich welcher Nationalität, Religion oder sozialen Schicht, wird vor der Kindergärtnerin seines Sohnes zum Zwerg. Nachdem die Verkäuferin den Kolumnistenkinderfuß vermessen hatte, kaufte ich schöne, nicht gerade billige Sandalen und brachte meinen Sohn am nächsten Morgen mit einem beschwingten Gefühl in den Kindergarten.

Am Nachmittag hätte mich die Erzieherin fast erwürgt. Sie sagte, die Sandalen seien nicht nur viel zu groß, sondern auch viel zu schwer. Als ich Zwergenpapa, mich verteidigend, einwarf, wir seien in dem Laden gewesen, den sie mir empfohlen habe, schüttelte sie ihren Kindergärtnerinnenkopf und schwor, sie werde sich bei der Verkäuferin beschweren. Dann zeigte sie auf alle Kinderfüße, die gerade herumliefen, und sagte: „Sehen Sie, solche Schuhe müssen Sie kaufen! Solche, sehen Sie? Oder solche, die sind perfekt.”
„Und wo?”, fragte ich.
„Auf dem Priwos.”

Zwischen Irrgarten und Irrglauben

Dazu muss man wissen, dass Odessiten, wann immer man sie fragt, wo es etwas zu kaufen gebe, einen immer zuerst zum Priwos schicken, auf den Riesenmarkt in der Nähe des Bahnhofs. Dort braucht man ungefähr einen halben Tag, um drei Tomaten, ein Kilogramm Kartoffeln und ein paar Socken zu kaufen, weil man zuerst in diesem Irrgarten die Orientierung verliert und danach dem Irrglauben verfällt, Schnäppchen zu finden, in diesem konkreten Fall: besonders günstige Tomaten, Kartoffeln und Socken. Und derweil beginnen schon die Ohren zu schmerzen, weil die Marktfrauen pausenlos brüllen – je älter, umso lauter – und mit jedem zweiten Kunden in Streit geraten, wenn nicht gerade halbnackte Männer rumpelnde Handwagen durch die engsten Gänge schieben und sich mit dem Ruf „Осторожно! Ноги!”* den Weg freikrakeelen.

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(* „Vorsichtig! Füße!”)

Der Glaube der Odessiten an diese Marktwirtschaft ist durch nicht zu erschüttern. Neulich war die Dusche in meiner Wohnung undicht. Das Wasser sickerte unten hinaus und überschwemmte die Fliesen. Ich rief den Klempner, der eigentlich Elektroingenieur ist und die Dusche erst im März repariert hatte. Woher ich weiß, dass er eigentlich Elektromonteur ist? Nun, ich kenne ihn schon länger. Er war ein paar Tage vor Silvester 2008 in meiner Wohnung, um die Heizung zu reparieren. Zunächst hatte ich die Vermieterin angerufen, die wiederum ihren Sohn anrief, der dann aber nur kurz vorbeischaute, weil er 40 Minuten später seinen Zug in den Skiurlaub nach Slowenien besteigen musste. Wenigstens brachte er einen Mann mit, der nicht auf dem Weg in den Skiurlaub war: jenen Elektromonteur, der später mein Klempner werden sollte. Seitdem rufe ich ihn an, wenn ich Probleme habe in der Wohnung. Seine Visitenkarte ist die einzige, die am Kühlschrank klebt. Ich kenne auch keinen anderen Klempner oder Elektromonteur in Odessa.

Mein Klempner kam am nächsten Tag, sagte, er wisse schon, warum die Dusche diesmal kaputt sei, und brauche sich deshalb den Schaden gar nicht anzuschauen, er habe auch schon mit der Vermieterin telefoniert, dann pumpte er sich 65 Griwna von mir, sechs Euro umgerechnet, und verabschiedete sich mit den Worten: „Ich fahre jetzt zum Basar, bin in eineinhalb Stunden zurück.” Zweieinhalb Stunden später klopfte er, schloss sich mit einer kleinen Tüte, aber ohne Werkzeug im Bad ein und kam nach einer 25 Minuten wieder heraus. Als Nachweis seiner Klempnerkunst ließ er den alten Abfluss vor der Toilette zurück. Dann verschwand er, um sich, wie er sagte, von meiner Vermieterin seinen Lohn zu holen, von der ich mir jetzt noch die 65 Griwna für den neuen Priwosabfluss holen muss. Der ist wirklich schick. Nur leider kann die Dusche noch immer nicht das Wasser halten.

Pumps für Einbeiner

Gestern war ich auf dem Priwos, um abermals Sandalen zu kaufen. Beim Anprobieren saß mein Sohn auf Pappkartons und schaute, wie eine obdachlose und offenbar alleinerziehende Katzenmutter ihr Baby stillte. Am Stand gegenüber lagen einzelne Hochhackige. Als ich die Verkäuferin fragte, ob sie davon leben könne, ob es also viele modebewusste Einbeinige in Odessa gebe, lachte sie laut und sagte: „Sie sind bestimmt Deutscher. Natürlich habe ich unterm Tisch auch den zweiten.  Ich will bloß nicht bestohlen werden.” In diesem Augenblick wäre ich vor Scham über meine Blödheit gern von einem dieser Handwagen überrollt worden. Ich überließ dann meinem Sohn die Wahl der Sandalen.

Die Sprache des Fußvolks

„Das sind die richtigen, endlich, absolut perfekt”, rief die Kindergärtnerin am nächsten Morgen und hätte mich beinahe umarmt. Bis zum Nachmittag hatte sie ein bisschen Deutsch gelernt, vielleicht sprach sie auch bloß Shoesperanto mit mir, so eine internationale Plansprache des Fußvolks, sie rief jedenfalls dreimal: „Suuuper-duuuper!” Mein Sohn strahlte.

Ein paar Deutsche, die in Odessa leben, haben mir bestätigt, dass die Sandalen unmöglich perfekt sein können, wenn der große Onkel vorne rausguckt und beim Gehen im Staub popelt. Aber gut, es ist ja nicht mein Onkel. Alles wäre schön, hätte die Kindergärtnerin mir nicht noch zum Abschied die Visitenkarte eines Sandalenhändlers vom Priwos gegeben und auf meine Füße gezeigt.

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ODESSA, UKRAINE Mein Sohn hat seine Kindergärtnerin enttäuscht, er ist bei ihr unten durch. Allerdings dürfte er jetzt ahnen, wie ich mich fühle, wenn ich dieser Frau begegne. Die Erzieherin mag mich nicht, und zwar aus drei Gründen: Erstens verstehe ich selten, was sie auf Russisch erzählt, weshalb sie mit mir in einer Babysprache reden muss, die ins Deutsche übersetzt ungefähr so klingt: „Er kein Breichen happahappa, obwohl sehr mmmmhhhh, Papa dududu machen, ja?” Zweitens spreche ich noch schlechter, als ich verstehe, weshalb sich meine russischen Rechtfertigungssätze anhören, als spräche ich mit einem Ausländer: „Du mit ihm müssen haben Geduld.” Drittens finde ich erstens und zweitens amüsant.

Mein Sohn hatte heute Fasching. Er sollte ein Gedicht aufsagen und wie eine Katze aussehen. Alle Kinder sollten sich als Katze verkleiden, ich finde ja, der Fasching war früher demokratischer. Als ich klein war, durften wir uns anziehen und anmalen, wie wir wollten, und ich bin in der DDR aufgewachsen. Ich weiß nicht, wie Leute darauf kommen, eine solide Diktatur, ohne allzu viel Gewalt also, sei weniger anstrengend als die Demokratie. Ich treffe zum Beispiel dauernd Taxifahrer, die sagen: „Die Weißrussen haben Lukaschenko. Die Russen haben Putin. Und wir? Warum haben wir Juschtschenko?”

Ich bin in drei Geschäften gewesen, nirgends gab es ein Katzenkostüm. Die Kindergärtnerin steckte mir daraufhin die Telefonnummer eines Verleihs zu. Dort gab es noch Katzenkostüme, nur leider hätte ich eine Stunde mit der Marschrutka in einen Vorort von Odessa fahren müssen. Ich tue ja viel für meinen Sohn, ich bin kein schlechter Vater, ich würde, falls von so etwas die Rede sein könnte, auch auf meine Karriere verzichten, wenn er das verlangte. Aber ich sitze nicht zwei Stunden in einem schaukelnden Bus wegen eines Katzenkostüms.

Zettel von der blöden Kuh

Die Proben für das Faschingsprogramm heute hatten vor drei Wochen begonnen. Mein Sohn brachte einen Zettel mit nach Hause, auf dem ein Gedicht stand, besser gesagt, ich vermutete, es sei ein Gedicht, es reimte sich ja. Den Inhalt verstand ich nicht. Jedes Mal, wenn ich meinen Sohn abholte, sagte die Kindergärtnerin: „Er kann seinen Text noch nicht.” Jedes Mal dachte ich: „Blöde Kuh, wenn es so wichtig ist, dass er den Text auswendig kann, dann lern halt mit ihm. Er verbringt täglich acht Stunden mit dir. Ich sehe ihn nicht mehr als drei.” Jedes Mal versprach ich, wir würden zu Hause üben.

Wir haben natürlich nicht geübt. Mein Sohn weigerte sich, er hatte überhaupt keine Lust – und ich noch viel weniger.
„Will ich nicht”, sagte er. „Merk ich mir sowieso nicht.”
„Willst du nicht?”, fragte ich. „Merkst du dir sowieso nicht, oder?”
„Nee.”
„Gut.”

Zwischendurch war der Zettel mit dem Vierzeiler verschwunden. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn versteckt hatte oder mein Sohn. Jedenfalls wurde er nicht vermisst.
Ich habe früher auch keine Gedichte lernen können. Von meiner Schulzeit sind mir nur drei sehr zerfetzte Gedichtfetzen geblieben:

Noch da, John Maynard?
„Ja, Herr, ich bin’s!”

Und er wirft ihr den Handschuh ins Gesicht:
„Den Dank, Dame, begehr ich nicht!”

Walle! walle

Mehr ist da nicht. Und übrigens bin ich froh, dass mein Sohn einen starken Willen hat.

Vor ein paar Tagen hatte sein Kindergartenkumpel Kolja Geburtstag. Kolja ist schon ein ziemlich robuster Kerl für seine vier Jahre, er lässt sich nichts gefallen, er steht auch nicht so auf Diskussionen. Als Geburtstagskind durfte er sich etwas wünschen. Kolja wünschte sich, dass jedes Kind einen Panzer malt. So kam es auch. Der Kindergartengruppenspielzeugpanzer stand Aktmodel. Mein Sohn machte nicht mit.

Ungefähr in jeder zweiten Stunde erzählt mir meine Russischlehrerin, ich müsse unbedingt mit meinem Sohn diese und jene Militärausstellung besuchen. Als ich mich einmal beklagte, es fehle in Odessa an intellektuellen Genüssen und Kultur im öffentlichen Raum, stritten wir uns. Am nächsten Tag brachte sie triumphierend eine Zeitungsseite mit. Auf der Seite waren Messen angekündigt – eine Yachtmesse, eine Schmuckmesse, eine Pelzmodenmesse, eine Fliesenmesse und eine Messe für Autozubehör.

Oscar vs. Fasching

Ich habe meinem Sohn ein Tigerkostüm gekauft, ich dachte, das sei schon in Ordnung, eine Raubkatze ist schließlich auch eine Katze. Leider war ich der einzige, der so dachte. In der Ukraine hat der  Kindergartenfasching einen höheren Stellenwert als die Oscar-Verleihung in den USA. Die anderen Eltern sprachen kein Wort mit mir und schauten durch mich hindurch. Die Erzieherin sagte: „Katze miau, Tiger krrrrrr – großer Unterschied.”

Alle Kinder trugen nacheinander ihren Vers vor. Mein Sohn stand ganz hinten, er kam als letzter dran. Ich habe das Unheil also kommen sehen. Als er an der Reihe war, schwieg er. Ich sah, wie er überlegte, er zupfte aus Verlegenheit an seiner Hose herum, wie ich es früher auch getan hatte, er zog sie hoch, obwohl sie perfekt saß, er gab sich alle Mühe, irgendwo in seinem Gehirn ein Stück des Vierzeilers zu finden. Aber dort war ja nichts. Nachdem er das eingesehen hatte, gähnte er, spielte mit seinem Schwanz und grinste auch noch frech. Souflieren und helfen konnte ich natürlich nicht. Dafür hätte ich das Gedicht lernen müssen.

Aber er sang wie Tom Jones und tanzte wie Fred Astaire. Niemand tanzte wie mein Sohn!

Mich hat er nicht enttäuscht. Ich bin stolz, denn er kommt nach mir. Wahrscheinlich wird er seinem Vater die Schuld geben für das Gedichtdesaster, wenn die Kindergärtnerin ihn verhört. Ich habe es früher nicht anders gemacht.

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