Kolumne: 75 Zeilen Widerstand

ODESSA, UKRAINE Ich weiß nicht, wie lange ich es in dieser Stadt noch aushalte, ewig jedenfalls schaue ich mir nicht mehr an, wie ich unterdrückt werde. Ich mache nicht mehr mit, ich kann das meinem Sohn und mir nicht antun. Ich werde nach Kiew fahren und den deutschen Botschafter um einen Termin bitten. Notfalls zelte ich dort im Garten und warte, bis sich der Außenminister, müde von langen diplomatischen Verhandlungen über meine Zukunft, auf dem Balkon zeigt und spricht. „Liebe Landsleute, äh, Pardon, lieber Landsmann, ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen…” Dann werde ich jubeln. Außenminister steigen ja seit Hans-Dietrich Genscher 1989 in Prag nur noch auf Balkone, wenn sie eine gute Nachricht haben.

Irgendwas wird Frank-Walter Steinmeier schon einfallen. Es geht schließlich um meinen Sohn, der mir entgleitet. Ich verlasse mich auf Steinmeier, denn ich bin kein Revolutionär, der sich auf die Straße wagt. Demonstrieren will ich nicht. „Ich – bin – der – Vater!” – ich meine, das ist doch Mist, das ist doch kein Ruf, der um die Welt geht, das klingt doch nicht. Damit lande ich in einer Talkshow am Nachmittag statt in der Tagesschau um 20 Uhr. Die Leute sehen mich und denken: plemplem, vollkommen gaga, der Typ.

Die Neugierde meines Sohnes wird allmählich für mich eine größere Herausforderung als ein Streitgespräch über den Umgang mit dem Islamismus oder die Kultur des Abendlandes. Er fragt zum Beispiel, wenn wir vom Kindergarten nach Hause gehen: „Papa, dürfen hier Autos fahren und parken?” Als Reporter, der vor allem beobachtet und sich der Meinung langsam nähert, prüfe ich zunächst. Ich schaue und denke: Bordstein plus Hauswand plus Kiosk plus Mülleimer plus Bettler mit Pappbecher ergibt Bürgersteig. Also sage ich: „Das ist ein Bürgersteig, hier dürfen Autos nicht fahren und nicht parken.” Sekunden später rast auf uns ein Jeep zu und hält vor meiner Nase und seinem Näschen. Gestern ist der Bus an der Haltestelle und an uns vorbei gerauscht. Einfach so. Ich hatte ihn großspurig angekündigt, weil es regnete, als hätte der Himmel den schlimmsten Liebeskummer aller Zeiten. Ich glaube nicht mehr an Zufälle, man will mich kaputtmachen und klein kriegen.

Vor einer Woche sind wir umgezogen. Die Vermieter hatten uns wegen meiner Spiegel-Affäre und der zwei Polizisten am Küchentisch rausgeworfen. Im August hat man als Wohnungssuchender nicht sehr viel Auswahl in Odessa. Urlauber, die tageweise einquartiert werden, bringen mehr Geld. Wir sind also gewissermaßen umgesiedelt worden. Wir haben die Heimat verloren! Ich bin ein Vertriebener! Wo wir jetzt wohnen, ist es laut. Es gibt zu wenige Parkplätze. Die Luft ist schlechter.

Und dann ist da die Sache mit dem Kabel. Ich kann meinem Sohn nicht erklären, was es auf unserem Balkon zu suchen hat. Es kommt von oben, augenscheinlich aus einer Wohnung, es führt nirgendwo hin und schwingt, wenn der Wind weht; hin und wieder trete ich aus Experimentierlust darauf herum, manchmal werfe ich es über das Geländer, dann wieder ziehe ich daran und warte, als müsste eine Glocke läuten, eine Lampe umkippen oder ein Fön herunterfallen, und wenn ich genug habe, binde ich es fest. Dann weht wieder der Wind, und alles beginnt aufs Neue.
„Was ist das?”, fragt mein Sohn.
„Das ist ein Kabel”, sage ich.
„Was macht das?”

Was weiß ich denn, bin ich Hellseher? Kann ich durch die Decke gucken? Ich verstehe doch das Land mit jedem Tag weniger. Ich durchschaue nicht einmal die Waschmaschine, die zuweilen wäscht und sich dann verweigert, und die habe ich vier Stunden studiert vor dem Kauf. Ich begreife nicht, warum das Bad eine Dusche mit Radio hat und keine Tür, die sich schließen lässt. Ich habe keine Ahnung, warum die Männer vormittags vier Stunden ihr Auto waschen und nachmittags klagen, sie hätten keine Zeit für die Familie. Mir leuchtet nicht ein, warum die schönsten Frauen auf die widerlichste Weise ihren Speichel absondern. Vielleicht schaue ich in der Fremde auch nur sorgfältiger hin. Nicht einmal das weiß ich.

„Was macht das, Papa?”
„Das ist die Klospülung”, sage ich. „Und bevor du jetzt fragst, warum die Leute so etwas tun: Es ist einfach so, mein Liebling.”

Eines Tages wird er wissen wollen, wie Odessa war, und dann hole ich das Bild, auf dem er als Tatarenherrscher verkleidet ist. In Wahrheit hat der Kindergartenfotograf nur das Gesicht hineinmontiert. Man soll das nicht sehen, eigentlich, aber wenn das Kind plötzlich keinen Hals mehr hat, weil der die Montage am Computer erschwert hätte, fällt das einem Vater eben auf. Ich werde auf dieses Meisterwerk der zeitgenössischen ukrainischen Lichtbildkunst tippen und sagen: „So war diese Stadt, genau so und nicht anders.”
„Du meinst: nicht schön, aber ungewöhnlich?”
„Sag ich doch.”

Ich muss mich jetzt wehren gegen die Zustände in dieser Stadt. Später würde mir mein Sohn sonst vorwerfen, ich sei ein Ahnungsloser gewesen, ein Träumer, ein Theoriedussel, der vor der Wirklichkeit die Augen verschlossen hat. Und ich hätte keine Antworten, um mich zu rechtfertigen, ich müsste mich herausreden und sagen: „Es war nicht alles schlecht, weißt du, Odessa hatte auch gute Seiten. Denk nur mal an die sonnige Sicherheit: Alle hatten schönes Wetter.”

Mein Sohn wird diese Kolumne irgendwann googeln und dann sagen: „Ich bin stolz auf dich, Alter, weil du nicht geschwiegen hast.” Diese Kolumne ist: mein Akt des Widerstands. Kürzer ging es nicht.

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