Kolumne: Meine Nächte als Gerhard Schröder

ODESSA, UKRAINE Ich will nicht, dass Gerhard Schröder im nächsten Jahr Kanzler wird, ich bin gegen eine dritte Amtszeit des Hannoveraner Hengstes, obwohl ich weiß, dass die Alternative Angela Merkel heißt. Frank-Walter Steinmeier, der sozialdemokratische Außenminister, ist ja bloß ein Strohmann. Noch am Wahlabend, gleich nach seinem Triumph, würde er Schröder vorschlagen und abermals dessen rechte Hand im Kanzleramt werden. Er ist kein Mann für die erste Reihe.

Mir ist Schröder schon jetzt unerträglich allgegenwärtig; es hat gewiss damit zu tun, dass er wieder kräftig mitmischt. Er verteidigt Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin im Kaukasuskonflikt und will im bayerischen Landtagswahlkampf die CSU besiegen. Ich verkrafte das nicht. Ich träume oft von Schröder, ich kann das nicht verhindern. Schröder steht jeden Abend an meinem Traumzaun und schreit, wohl nicht mehr ganz nüchtern: „Ich will hier rein!” Noch unangenehmer ist, dass ich wie Schröder bin. Nachts schlüpfe ich in die Schröderrolle. Das liegt zweifelsohne an den einhundert Tagen, die ich nun als oberster Odessit der Familie im Amt bin. Im Traum verteidige und erkläre ich meine ersten Entscheidungen. Die Schonfrist ist ja vorbei. Jetzt wird abgerechnet. Ich muss mich an meinen Versprechen messen lassen.

“Basta!”

Jedes Mal träume ich mich durch die ersten einhundert Tage in Odessa. Als die zwei anderen Mitglieder der Familie und ich zur ersten Sitzung zusammenkommen, sage ich als Chef der Exekutive: „Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen.” Ich spreche auch unbequeme Wahrheiten aus und kündige Reformen an, ich will verkrustete Strukturen aufbrechen und den Haushalt konsolidieren. Ich erinnere mich an meine Worte genau: „Die Wochenarbeitszeit wird steigen müssen. Den Mittagsschlaf unter der Woche werden wir streichen. Basta!”

In den nächsten Wochen setze ich dies mit meiner Richtlinienkompetenz auch gegen Widerstände in den eigenen Reihen durch, weil es unvermeidlich ist, um nicht auf Kosten der nächsten Generation zu leben. Für so etwas gibt es natürlich keinen Beifall. Mehr als einmal stehe ich vor einem Misstrauensvotum. Mehr als einmal muss ich auch mit Rücktritt drohen.

Gleich am zweiten Tag habe ich einen Kassensturz angeordnet. Alle Ausgaben sollten auf den Prüfstand. Mein Ziel war und ist es, im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Mit dem Schuldenmachen muss Schluss sein; das ist für mich eine Frage der Generationengerechtigkeit. Mich selbst schone ich selbstverständlich nicht, auch mein Budget wird beschnitten. Zum Beispiel senke ich sukzessive die Aufwendungen für Sprit (Auto und Seele). Ich gehe häufiger zu Fuß und trinke mehr Tee.

Keine Glotze

Im Traum halte ich flammende Reden: „Ich weiß, wo ich herkomme”, schreie ich mit heiserer Stimme. „Und wer mich kennt, weiß, dass ich, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, meine ganze Kraft für die soziale Gerechtigkeit einsetze.”

Ich kaufe ein, mache die Wäsche und schütze insgesamt die innere Sicherheit. Ich habe ja auch versprochen, meine Stammwählerin zu entlasten und die Gleichberechtigung von Mann und Frau zu verwirklichen. Natürlich habe ich auch gleich am ersten oder zweiten Tag im Amt ein Investitionsprogramm aufgelegt, um die Infrastruktur zu verbessern. Das neue Ehebett war nur der Anfang. Ich werde das Schlafzimmer weiter modernisieren. Ich bin überzeugt, dass sich das auszahlt. Die Geburtenrate wird steigen. Ich habe auch den Fernseher abgeschafft. Ich brauche nur „Segodnya” und „Argumentü i Faktü”, aber keine Glotze.

Heute Morgen habe ich verschlafen, ich war wohl ein bisschen amtsmüde, ich hätte Oleg zum Frühstück im Café treffen sollen. Stattdessen klingelte er mich aus dem Bett, kochte in der Küche Kaffee, brachte mir eine Tasse und weckte mich. Ich war noch einmal eingeschlafen, gab gerade wieder ein Interview und erzählte von meiner Mutter, die mich in schwerer Zeit groß gezogen hat.
„Trink erst mal den Kolumnistenkaffee, ist extra stark”, flüsterte Oleg.
„Die wollen mich fertig machen”, sagte ich.
„Wer?”
„Alle.”

Oleg als Gutachter

Ich nahm den ersten Schluck, setzte mich hin, war nicht länger verschrödert und sagte: „Oleg, ich bin jetzt einhundert Tage in Odessa. Bist du zufrieden, wie ich die Familie führe? Sei ehrlich.”
Oleg rückte näher, so dass seine Wimpern fast mein Kinn berührten, er drehte den Hals und starrte zu mir hinauf, schwieg einen Augenblick und schüttelte den Kopf. „Ich will mich nicht in deine inneren Angelegenheiten einmischen”, sagte er schließlich. „Aber kann es sein, dass die Kolumnistennasenhaare in Odessa schneller wachsen?”
„Ist das deine Bilanz?”
„Die Kolumnistennase hat den Filter verstärkt”, sagte Oleg. „Der alte Charles Darwin wäre stolz auf dich. Du hast eine absolute Anpassernase, du bist ein Wunder der Evolution. Die Nase schützt dich vor gesundheitlichen Schäden.”

„Was meinst du?”, fragte ich.
„Liest du denn keine Zeitung, die Segodnya zum Beispiel? Odessa ist die zweitschmutzigste Stadt der Ukraine.”
„Das kann nicht sein”, sagte ich.
„Das sagt die Stadtverwaltung auch.”
„Die Messung muss falsch sein”, sagte ich.
„Das sagt die Stadtverwaltung auch.”

Oleg nahm seine Wimpern wieder von meinem Kinn. Er lächelte. Dann sagte er: „Ich gratuliere, du bist ein echter Odessit.”

Nachtrag, 22.05: Mein Kolumnistenkollege Axel Scherm, der nur unwesentlich schlechter golft als Tiger Woods, aber wesentlich witziger ist, hat mich in den Kommentaren darauf hingewiesen, dass zumindest der erste Absatz meiner Kolumne kabarettreif ist. Ich empfehle mal zu schauen, wie sich die “Anstalt” im ZDF gestern Abend Gerhard Schröder gewidmet hat. Danke, lieber Axel.

16 comments

  1. Axel

    Lieber Christoph,
    das ist wieder mal ein ganz ausgezeichneter Text und wirft ein ganz neues Licht auf einen Umstand, den Urban Priol gestern in seiner Sendung Neues aus der Anstalt plastisch dargestellt hat. Er hat nämlich gesagt, dass er nur auf den Augenblick wartet, an dem sich Frank-Walter Steinmeier wie einst Fantomas die Maske vom Gesicht ziehen und darunter Gerhard Schröder zum Vorschein kommen wird.
    Jetzt müssen wir also befürchten dürfen wir also hoffen, dass sich hinter der Maske, die sich schließlich Gerhard Schröder vom Gesicht ziehen wird, Christoph Wesemann verbirgt.
    Eine ganz feine Vorstellung !!

  2. cw

    Lieber Axel, ich schwöre beim Gott der Sozialdemokratie, also Willy Brandt: Ich habe die Sendung nicht gesehen. Ich kenne sie sogar nur dem Namen nach. Tritt dort so ein Mann mit so einer seltsamen Frisur auf? Ich gebe zu, dass ich mit Kabarett nicht so richtig warm werde, vielleicht ist das meine Schuld. Bestimmt bin ich zu jung und habe deshalb die Sozialisationsphase in der Hochphase des Kabaretts nicht erlebt.
    Ich kenne eigentlich nur Richling, wenn er Ulla Schmidt macht(e) – ich glaube: gar nicht so schlecht.
    Aber ich überlege jetzt, ob ich oben zusätzlich zur Kolumnen, Reportagen, Odessa-Blog auch noch Kabarett einfüge.

  3. Axel

    Lieber Christoph,
    wenn Du über eine halbwegs vernünftige DSL-Leitung verfügst, rate ich Dir dringend (trotz, oder vielleicht gerade wegen fehlender Kabarett-Sozialisierung) die Sendung im Internet noch einmal anzusehen.
    Vielleicht kurz zum Hintergrund:
    Der Herr mit der seltsamen Frisur (Urban Priol) tritt als Leiter einer (Irren)Anstalt auf. Der Mann an seiner Seite, mit der künstlichen Hand und dem mürrischen Blick, ist Georg Schramm, seines Zeichens Patientensprecher. Alle anderen Gäste und die Zuschauer sind “normale” Anstalts-Insassen.
    Hier der LINK direkt zum Video.
    Übrigens, Georg Schramm tritt später noch einmal als vertrottelter Sozial-Demokrat auf, der eine eine Interessengruppe gegründet hat: “Sozialdemokraten in der SPD” – herrlich!

  4. cw

    @ Axel: DSL? Keine Ahnung, ich sitze hier im Café und benutze W-Lan.

    Die Fakten für Experten:
    “Übertragungsrate: 11,0 MBit/s”
    “Signalstärke: Hervorragend”

    Ich probiere es mal, danke für den Link.

  5. Doctor Robert

    Ich sehe weitere Parallelen zu Schröder:

    Sie benutzen die Medien. Sie sind ein moderner Medienkanzler, dieses/dieser/diese Blog (welches Geschlecht hat ein/eine Blog?) ist der Beweis.
    Und Oleg sehe ich als Neuauflage Joschka Fischers. Auch Oleg scheint, in der Außenpolitik erfahren zu sein – Spezialgebiet Ukraine.

    Noch nicht überzeugt, dass Sie der neue “Acker” sind?
    Joschka überholte Schröder in Umfragen nach dem beliebtesten Politiker, wenn ich mich recht erinnere. Auch Oleg hat seine Bewunderinnen (siehe z.B. Kolumne vom 25.08.).

    Aber machen Sie sich keine Sorgen, schließlich nahm die Amtszeit von Bundeskanzler Schröder nach 7 Jahren ihr Ende.
    Demnach werden Sie 2015 erlöst.

  6. cw

    @ Doctor Robert: “Der Größere ist der Koch, der Kleinere der Kellner.” (Gerhard Schröder über die angebliche Chefrolle Joschka Fischers.)

  7. cw

    @ Doctor Robert: Wie ich Joschka einschätze, kam auf die Frage, was er von dieser Aussage halte, nur ein langes Knarzen und dann: “Ach, hören Sie doch auf!”

  8. Theobald Tiger

    Beim Kanzler Schröder bekam man Sehnsucht nach dem Kanzler Kohl, bei Frau Merkel kann man sich jetzt nach dem Kanzler Schröder sehnen…
    Es wird also alles immer schlimmer/langweiliger/austauschbarer.

    Aber:
    Wie kann man aus Odessa schreiben ohne “Sex and Crime” Themen?
    DAS wollen die Leute lesen, und keine Schröder-Träume.

  9. cw

    @ Theobald Tiger: Moment! Die Kolumne ist doch Sex and Crime! Der Kolumnist träumt von Schröder, der überdies – nun ja, wie drücke ich mich aus? – als Geschäftsmann in Russland agiert. Denken Sie mal drüber nach. Wollen Sie mehr? Ich werde mich bemühen. Kennen wir uns?

  10. Theobald Tiger

    Nein, wir kennen uns wohl nicht.
    Ich habe aber nachgedacht und schwäche meine Kritik daher auch ab:
    Sie sind junger Familienvater, in dieser Lebenssituation sind explizite “Sex and Crime” Themen wohl nicht erste Wahl, dafür habe ich Verständnis.
    Würde ich in Odessa leben, dann würde ich
    a) anonym oder halbanonym bloggen.
    b) über ausgesprochene “Sex and Crime” Themen schreiben.
    c) ganz bestimmt nicht über Gerhard Schröder schreiben.

    Grüsse
    T.T.

  11. cw

    Lieber Theobald Tiger, Sie müssen Ihre Kritik gar nicht abschwächen. Es ist doch interessant, was Sie sich erhoffen. Ich werde diese Themen auch anpacken, allerdings bin ich auch erst ein paar Wochen in dieser Stadt.
    Ich möchte nicht anonym oder halbanonym bloggen, solange es nicht lebensgefährlich für mich wird. Ich finde, der Leser hat ein Recht zu wissen, wer ihn da unterhält oder belehrt.

    Täuschen Sie sich nicht, was Sex and Crime in Odessa angeht, soll heißen: Erwarten Sie nicht zu viel. Die Zeit der Morde liegt schon ein paar Jahre zurück; ich habe hier erst eine Schießerei erlebt. Mittlerweile macht die Unterwelt lieber Geschäfte miteinander. Und die Korruption ist nicht gerade glitzernd, sondern eher alltäglich und unscheinbar. Jeder besticht jeden.

    Was den Sex betrifft, auch da warne ich vor großen Erwartungen. Die Frauen kleiden sich hier zwar sehr freizügig, aber jeder Odessit wird ihnen erzählen, dass der Tourist das fälschlicherweise mit Prostitution verwechselt oder verwechseln will. Es gibt Prostitution, aber die meisten leicht bekleideten Damen sind eben nur leicht bekleidete (und manchmal zickige) Damen, die auffallen wollen und möglicherweise noch einen reichen Mann suchen. In dem Heft “Aus Politik und Zeitgeschichte” (APUZ, Nr. 35/36 von 2008) hat die Migrationsforscherin Barbara Dietz belegt, dass der angeblich so große ukrainische Exportschlager “Frauen für Geld” eher überschätzt ist.

    Ich zitiere: “Während Menschenhandel, Prostitution und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse die Presseveröffentlichungen zur ukrainischen Migration in die EU dominieren, zeigt eine von der International Organization for Migration initiierte Untersuchung, dass diese Migrationsformen zwar ein Problem darstellen, aber nicht vorherrschend sind.”

    Schade, dass Sie nicht geschrieben haben, welche Odessa-Erfahrungen Sie besitzen.
    Grüße, Christoph Wesemann

    PS: Gerhard Schröder musste sein. Der war fällig.

  12. Theobald Tiger

    Jeder soll und darf seine Obsessionen ausleben (im Rahmen der geltenden Gesetze natürlich), und wenn ihre Obsession G.Schröder heisst..nun,nur drauflos geschrieben.

    In Odessa war ich im Jahre 2004, seitdem hat sich dort sicher viel verändert.
    Ich erinnere mich an eine ungewöhnlich sonnige Stadt, an ungewöhnlich viele schöne Frauen, an ein paar bettelnde Zigeuner, an ein paar Geschichten über Kriminalität, etwa in der Art, dass auch eingeborene Odessiten bestimmte Stadtviertel dort nicht betreten…an viele dort umherstreunende Hunde und an einige dort ebenfalls umherstreunende heiratswillige oder sexsuchende Amerikaner.
    Kurz: Odessa war ein Fest für die Augen… aber in mancher Hinsicht auch beschwerlich, viel kaputtes Trottoir und oft kein warmes Wasser im Zimmer.
    Möglicherweise ist Odessa mehr eine Augenstadt als eine Ich-lebe-da-und-schreib-jeden-Tag-was-drüber Stadt ?!
    Ist aber nur ein destruktiv-pessimistischer Verdacht, der sie nicht vom weiteren Schreiben abbringen soll.

  13. cw

    Lieber Theobald Tiger,

    wenn ich Ihre Erinnerungen mit meinen Eindrücken vergleiche, so hat sich fast nichts verändert – abgesehen von der Kriminalität, die wahrscheinlich nachgelassen hat, seit Präsident Juschtschenko herrscht und zumindest versucht, Gesetze auch durchzusetzen.

    Aber die Hunde und die sexbesessenen Amerikaner streunen immer noch herum. (An die Hunde gewöhnt man sich.) Und die kaputten Bürgersteige sind auch noch da.

    Ich staune bisweilen, welches schöne Bild von Odessa in der Welt herrscht. Ich lese in Reiseführern, die Stadt sei weltoffen und gastfreundlich und humorvoll und wahnsinnig schön. Ich glaube, wer das schreibt, muss blind und taub zugleich sein.

    Lesen Sie meine Kolumne “75 Zeilen Widerstand”.

    Wissen Sie, ich habe aber auch keine Lust, mich jeden Tag als Lokalreporter aufzuspielen und den Finger in die Wunde zu legen, wie das so schön heißt. Das ist auch nicht meine Aufgabe, finde ich, es kann nicht meine Aufgabe sein. Das überlasse ich gern den lieben Kollegen.

    Es regnet übrigens seit Tagen. Es ist eiskalt.

    Sind Sie Sozialdemokrat? Eigentlich mag sich Schröder sogar, das muss aber uns bleiben. Das Raubeinige gefällt mir als Theaterliebhaber. Und verglichen mit Merkels Wischiwaschi-Ideologie war er ja ein Dogmatiker. Dass er jetzt alles zerstört, ist geradezu tragisch. Obwohl mir auch das schon wieder fast gefällt. Erinnert ein bisschen an Zidanes Kopfstoß im WM-Finale 2006.

  14. Ping: Kolumne: Oleg zieht (sich) um : Christoph Wesemann

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