Kolumne: Kolumnist unter Verdacht

ODESSA, UKRAINE Ich hasse Wodka. Ich mag Bier. Bier ist gut. Bei Bier merke ich, wann es Zeit wird, den letzten Schluck zu trinken und nach Hause zu gehen. Wenn ich das Gesicht im Spiegel zum vierten Mal mitleidig anlächele und es mir zum vierten Mal zunickt, ist dieser Augenblick gekommen. Bier ist so sympathisch, weil es – mit eingebrautem Harndrang – diese Selbstkontrolle erlaubt: Alle Wege führen zum Klo.

Oleg und die zweite Leber

Von Wodka tut mir nach dem Aufwachen immer alles weh, so sehr, als steckte der Körper, von der Stirn bis zu den Zehen, in einem Schraubstock – ganz gemeiner Wodkater. Wenn ich mit meinem Freund Oleg Wodka trinke, weiß ich, dass ich mir für den nächsten Tag wenig vorzunehmen brauche. Ums Überleben, um nichts sonst, geht es dann. Ich weiß nicht, wie Oleg das macht, dass er fit ist. Vielleicht trinkt er, heimlich, vor dem Einschlafen einen Eimer Sprudel-Aspirin auf Ex. Vielleicht bekommt er nachts frisches Blut. Vielleicht besitzt er eine zweite Leber.

„Prost!”, sagte ich und schlug mein Wodkaglas an seins. „Freust du dich eigentlich über mein Weihnachtsgeschenk?”
„Bist du komplett bescheuert?”, schrie Oleg. „Beim Leichenschmaus stößt man nicht an.”
„Oleg, ich verstehe kein Wort. Welcher Leichenschmaus?”
„Natascha ist tot!”
„Welche Natascha?”, fragte ich.
„Natascha! Natalia!”
„Oh, entschuldige bitte. Mein Beileid.”

[youtube]http://de.youtube.com/watch?v=5Rt5Glaeaus[/youtube]

Oleg hatte mich in seine Stammkneipe bestellt. Nun tranken wir auf Natalia, die am Freitag plötzlich gestorben war. Oleg vermisst sie. Seine Augen stierten ins Nichts, seine Nase war wundrot. Er schwieg oft und trug schwarz. Aus den Lautsprechern an der Wand kam „Last Christmas” von Wham. Es war der 11. Januar. Seit einem Monat höre ich ununterbrochen irgendwo Weihnachtslieder.

Reine Routine

„Wo warst du eigentlich am Freitag zwischen eins und drei?”, fragte Oleg plötzlich.
„Zu Hause.”
„Zeugen?”
„Wie bitte?”, fragte ich.
„Kann jemand bestätigen, dass du zur Tatzeit zu Hause warst?”, fragte Oleg.
„Willst du behaupten, dass ich…”
„Ich behaupte gar nichts.”
„Verdächtigst du mich, dass ich Natalia umgebracht habe?”
„Reine Routine, ich muss das fragen”, sagte Oleg und hielt mir die Kerze ganz dicht vors Gesicht. „Ich hab Zeit, ich kann warten. Ein Geständnis wirkt sich übrigens strafmildernd aus.

Ausblick nach Sibirien

Olegs Drohungen lassen mich inzwischen kalt. Ich habe schon genug Ängste als Deutscher in Odessa. Ich habe Angst, dass der Ukraine das Gas ausgeht. Ich habe Angst, wenn ich an dem Gebäude vorbeigehe, in dem einst der sowjetische Geheimdienst KGB saß, ich erinnere mich jedes Mal an diesen Spruch: „Die KGB-Zentrale ist das höchste Haus Odessas – von dort kann man Sibirien sehen.” In der Süddeutschen Zeitung stand vor ein paar Tagen – es ging mal wieder um den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine – etwas über die „Rohstoffoligarchen, die vor allem am Zwischenhandel verdienen, die oft gleichzeitig auch Besitzer von Zeitungen und Sendern sind”. Bei „einigen dieser Oligarchen” handele es sich „um ehemalige Geheimdienstler, die nach wie vor gute Beziehungen zu früheren Arbeitsgebern unterhalten”.

Ich habe auch Angst vor den Polizisten, die neuerdings Bürger nach dem Ausweis fragen, um illegale Ausländer in Odessa aufzuspüren. Ich nehme nie irgendwelche Dokumente mit, wenn ich das Haus verlasse – natürlich aus Angst, bestohlen zu werden. Ich habe sogar Angst vor den Apothekerinnen. Sie hassen mich offenbar. Gestern brauchte ich unbedingt Nasenspray, ich hätte auch Tropfen genommen. Die Verkäuferin sagte, es gebe nichts. Ich versuchte alles, ich flehte sie an, ich röchelte sogar ein bisschen herum, ich schnappte mit weit aufgerissenem Mund nach Luft, und wenn mir auf die Schnelle eingefallen wäre, was „unterlassene Hilfeleistung” auf Russisch heißt, hätte ich auch diesen Vorwurf angebracht.

Eine Nacht mit Natalia

Ja, ich habe mit Natalia eine Nacht verbracht. Oleg war verreist. Er hatte mir den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben, ich sollte ihr eigentlich bloß Frühstück bringen, weil sie gerade etwas geschwächt war, aber, mein Gott, sie ist dann abends mit zu mir gekommen. Wir schliefen in getrennten Zimmern. Da war nichts.

„Also kein Alibi von eins bis drei”, sagte Oleg.
„Ich habe Natalia nicht umgebracht. Ich habe sie geliebt wie du…wie dich…ach, was weiß ich.”
Mord aus Eifersucht“, sagte Oleg, sprang auf und schmiss dabei seinen Stuhl um. „Ich hab schon schlechtere Motive gesehen, originellere natürlich auch. Aber von einem Kolumnisten kann man wahrscheinlich nicht mehr erwarten.”

Dem Dieb brennt die Mütze

Ich schwieg und trank meinen Wodka weiter. Mir wurde schlecht.
„Du kann jetzt deinen Anwalt verständigen”, sagte Oleg.
„Dreckskerl.”
„Na vore shapka gorit”, sagte Oleg.
„Dem Dieb brennt die Mütze?”
„Das ist ein russisches Sprichwort. Bei euch bellen getroffene Hunde, glaube ich.”
„Ich bin unschuldig.”
„Du kannst gehen. Verschwinde.”

Oleg nuschelte etwas. Ich verstand nur einzelne Wörter und Satzfetzen: „SpuSi hat geschlampt … Todesursache ungeklärt … Fremdverschulden nicht auszuschließen … KTU … Durchsuchungsbeschluss … Obduktion … Gegenüberstellung … DNA-Abgleich …”

Da wusste ich, es war keine gute Idee, Oleg zu Weihnachten die Tatort-DVD-Sammelbox zu schenken – wenn ein paar Tage später seine geliebte Schildkröte Natalia stirbt.

[youtube]http://de.youtube.com/watch?v=0KcHpxkd1Eg[/youtube]

12 comments

  1. Natalija

    gute Moje, liebste Freunde!
    Ich möchte Euch alle vor allem mit dem schon angetroffenen jahr 2009 grü0en!!! Viel Erfolg und Gesundheit für das jahr 2009!!!
    lieber Christoph,
    schön, dass ich die Zeilen zu Ende gelesen habe )))) Natalia als Schildkröte… Ich habe mir schon Gedanken gemacht, mit wem Du die Nacht verbracht und danach wen Du umgebracht hast))) Bist Du als Deutsche verdächtig? Stehst Du auf Schildkröten??? ))))
    Wie wäre es, wenn Du dem Oleg eine kleine Schildkröte scheken würdest? Ich schlage den Namen Helena oder Emma vor. Hat evtl Natalia zu viel Wodka getrunken oder genmodifiziertes Essen gegessen?
    lieber Christoph, schenk mal dem Oleg Helena oder Emma, nimm WIEDER eine Flasche Wodka mit auf Gesundheit aller Tieren und Oleg muss Dich verzeihen )))))
    Ich hoffe, Ihr seid wieder Freunde)))!!!!
    N.

  2. cw

    Liebe Natalija, ich stehe nicht unbedingt auf Schildkröten. Ich hatte als Kind zwei Wellensittiche.
    Ich soll Oleg eine neue Schildkröte schenken? Ich weiß nicht, ob er schon bereit ist für eine neue Beziehung. Er trauert ja noch.

    Den Wodka trinken wir drei zusammen, wenn Du endlich mal nach Odessa kommst!

    Lieber Axel, Oleg wird schnell seekrank, also besser kein Traumschiff. Schick ihm lieber Tiefe Gefühle.

  3. Jörg

    Hallo,
    nach einigen Tagen Kommentar- Abstinenz auch mal wieder was von mir.
    So muss ich mir also die Gespräche zwischen Oleg und Ihnen vorstellen, einer sitzt immer auf dem Platz, auf dem man nix versteht.

    Ich hoffe, dass sich Ihr Freund (ist er doch noch, oder? Es schwankt ja heftig in Ihrer Beziehung… also mit Oleg meine ich) schnell vom Verlust seiner geliebten Natalia erholt. Es wäre ja schade, wenn Sie aus tiefer Freundschaft in eine Solidaritäts- Trauer verfallen und unser Treffen ausfallen müsste.

    Ihre Angst um das evtl. Aussgehen des Gases macht mir nun auch ein wenig zu schaffen. Schön blöd wäre es, wenn ich frierend und schlotternd in Odessa säße während es in meinem Heim recht mollig wäre. Ich überlege, ob ich mir statt reichlich warmer Kleidung einen Koffer voll mit Einwegfeuerzeugen mitbringe. Das müsste doch für etwas heißes Wasser zum Teekochen und eine warme Dusche reichen. Nur, dann müsste ich meiner Freundin irgendwie beibringen, dass der Platz im Koffer für die versprochenen Schlittschuhe für sie und ihre Kids für etwas Behaglichkeit geopfert wurde. Sie würde es verstehen… . Weia, ich fürchte das gäbe Mecker.

  4. cw

    Lieber Jörg, Oleg und ich pflegen nach wie vor eine sehr intensive Freundschaft. Was das Gas betrifft: Heute hat mir jemand erzählt, die Ukraine habe noch genau für vier Tage Gas. Andererseits: Schon Donnerstag soll es wärmer werden in Odessa.

    Ach, vergessen Sie die Schlittschuhe, die kann man hier ausleihen! Ich aber brauche unbedingt deutsche Briefmarken (mit Quittung) und einen Stapel Tatort-DVDs. Oleg ist abhängig.

  5. Jörg

    Schlittschuhe vergessen… ach herrje, dann gibt´s neben Mecker auch was auf die Mütze ;-).
    Und, versprochen ist versprochen und wird nicht… . Sie kennen das bestimmt, schließlich haben Sie einen kleinen Sohn.

    Aber, evtl. nur noch 4 Tage Gas und der politische Kindergarten kommt auch nicht zu Potte… mir fällt nichts mehr dazu ein. Ich schaue mal, wieviele Einwegfeuerzeuge kurzfristig am Niederrhein erhältlich sind.

    Deutsche Briefmarken besorgen, das sollte ich hinbekommen. Was brauchen Sie denn?
    Und was die Tatort-DVD´s angeht: ich bin kein Freund davon, Sucht und Abhängigkeit zu unterstützen. Derrick würde ihn bestimmt daraus befreien. Ich hol dann schon mal den Wagen… .

  6. cw

    Dann nehme ich nur Briefmarken, ich akzeptiere Ihre Einwände. Odessitinnen verstehen bei Schuhen schon keinen Spaß – wie mag das erst bei Schlittschuhen sein?

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  8. Ping: Hole-in-one : Christoph Wesemann

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