Kolumne: Oleg und die Mafia

ODESSA, UKRAINE „In deinem Haus wohnt übrigens die Mafia”, hat mein Freund Oleg gestern gesagt.
„Die Mafia?”
„Ja, die Mafia.”
„Bist du sicher?”, fragte ich.
„Kein Zweifel, dritte Etage, direkt über deiner Wohnung.”
„Ach du Scheiße, die Mafia”, sagte ich.

Oleg schaute zur Decke hinauf und lauschte, er hielt sogar den Atem an, dann zog er mich zum Fenster und deutete auf den Parkplatz. Ein Mann polierte mit einem Lederläppchen die Motorhaube, er rauchte dabei und telefonierte.
„Der hat jetzt schon das dritte neue Auto”, sagte Oleg. „Im August fuhr er einen Chevrolet, im November hat er sich einen Land Rover gekauft, und seit ein paar Tagen gehört ihm dieser Jeep.”
„Der Kerl sieht gar nicht aus wie einer von der Mafia”, sagte ich.
„Das ist ja der Trick!”

Ich habe mal ein Interview eines Polizisten gelesen, der die Russenmafia in der deutschen Hauptstadt jagt. Der Mann heißt Bernd Finger und ist Leitender Kriminaldirektor im Landeskriminalamt in Berlin, Leiter der Abteilung 4, Organisierte Kriminalität, Qualifizierte Banden- und Eigentumskriminalität, Organisierte Gewalt- und Rotlichtkriminalität. Finger sagte:

In jeder Verbrechervereinigung gibt es Ritualisierungen. Die äußerlichen – Pelze, Goldkettchen, vergoldete Gebisse, das Zurschaustellen von Reichtum – findet man meist nur an Leuten, die das für nötig halten, also: die Handlanger. Der eigentliche kriminelle Profiteur scheut sichtbare Merkmale, er hält sie nicht für professionell, weil es Teil seiner Abschottung ist, eben nicht aufzufallen.

Ich erinnere mich noch, dass der oberste Mafiagegner Deutschlands gern in Italien Urlaub macht. Humor hat der Mann also. Mein Mafianachbar ist wohl auch ein witziger Kerl. Er wäscht sein Auto selbst, wahrscheinlich ist das Teil der Tarnung. Als einziger Hausbewohner grüßt er mich, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen. Ich soll offenbar nicht schlecht von ihm denken. Neulich hat er sich von mir sogar Milch geliehen. Ich finde, es gibt kaum eine bessere Tarnung. Welcher Mafiosi borgt sich schon Milch?

Die gestiefelte Krise

Wenn ich mich nicht täusche, ist mittlerweile jedes zweite Geschäft in Odessas Zentrum eine Boutique. Die andere Hälfte besteht aus Schönheitssalons und Juwelieren. Die Boutiquen sind kaum voneinander zu unterscheiden. Man sieht: drei schöne Handtaschen, vier schöne Stiefelpaare, fünf schöne Verkäuferinnen, zwei unschöne Wachleute – und mit viel, viel Glück auch mal eine schöne Kundin. Ich habe immer gedacht, der Sinn eines Geschäfts sei es, Umsatz zu machen und Geld zu verdienen. Es fällt mir schwer, bei dieser Form von Unternehmertum nicht an Geldwäsche zu denken.

„Oleg, zeig mir die Mafia, ich will sie sehen”, sagte ich.
„Hast du Geld?”
„Geht so.”
„Das reicht nicht”, sagte Oleg.
„Ich kann so tun, als hätte ich Geld.”
„Gehen wir, Don Kolumneone.”

Ich kenne mich in Odessa Nachtleben nicht aus. Ich weiß, wo ich ein Bier trinken kann, und könnte ein paar Restaurants empfehlen. Aber das ist keine Leistung, denn in Odessa kann man fast überall gut essen. Ich habe in dieser Stadt noch nicht ein einziges Mal getanzt.

Kolumnistenkacker ohne Kultur

Oleg brachte mich ins Vis-a-Vis. Das Vis-a-Vis ist ein Casino mit angeschlossener Diskothek oder umgekehrt, jedenfalls liegt es in der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße. Ich gab meine Jacke ab, stürzte auf den letzten freien Tisch zu und wartete auf den Kellner.
„Guten Abend, 150 Griwna”, sagte der Kellner.
Ich verstand nicht. „Guten Abend. Wieso?”
Oleg trat gegen mein Knie und flüsterte: „Klappe, Kolumnist.” Dann bezahlte er.
„Der Tisch kostet Geld?”, fragte ich. „Und was kommt als nächstes? Bezahlen wir für Messer und Gabel?”
„Hör mal, Kolumnistenkacker, du bist nicht bei McDonald’s”, sagte Oleg. „Habt ihr Deutschen denn gar keine Kultur?”

Noch nie in meinem im Leben hatte ich so viele Schönheiten auf so wenigen Quadratmetern gesehen, so lange Beine in so kurzen Röcken, so große Brüste in so engen Oberteilen. Mein erster Gedanke war: Diese Frauen müssen einem Labor entstammen. Männer waren auch da, vor allem glatzköpfige, dickbäuchige, aufgedunsene Typen und solche wie ich, denen das noch bevorsteht.
„Gefallen dir die Frauen?”, fragte Oleg.
„Geht so.”
„Das reicht doch.”
„Was machen die eigentlich?”, fragte ich. „Haben sie Arbeit?”
„Natürlich arbeiten sie”, sagte Oleg und brüllte ein Lachen, „aber nur nachts.”
„Wie Dracula.”

Oleg bestellte auf meine Rechnung Wodka, pfiff vor sich hin und wippte mit den Füßen. Hin und wieder schaute er mich an und zwinkerte mir komplizenhaft zu.
„Wo ist die Krise?”, fragte ich. „Ich sehe sie nicht.”
„Wo soll sie sein? Ich habe noch nichts gehört von Massenentlassungen oder Kurzarbeit bei der Mafia.”
Oleg ging zur Tanzfläche und verschwand in einem Knäuel halbnackter Mädchen. Überall flackerte Licht. Die Musik war so laut, dass ich meine Gedanken nicht verstehen konnte. Meine Finger trugen Spuren der verspeisten Ente und glänzten. Ich stierte vor mich hin, ich schwitzte, knöpfte mein Hemd ein Stück auf, fläzte mich in den Sessel und streckte die Beine. Sicher sah ich aus wie ein dickeiiger Sextourist.

Das letzte Territorium

„Das ist Larissa”, sagte Oleg und setzte sich wieder. „Du musst ihr nur einen Drink spendieren, dann verbringt sie die Nacht mit dir, nur einen Drink, hörst du?”
„Wie kommst du darauf, dass ich eine Frau brauche?”
„Du siehst so aus.”

Larissa trug einen Strickpullover mit Elchgeweih auf der Brust, Turnschuhe und Jeans. Sie schaute mich an und erzählte mir etwas, das ich Sekunden später vergessen hatte. Ich schaute sie an und erzählte ihr etwas, das wir beide Sekunden später vergessen hatten. Larissa war äußerlich und intellektuell eher unscheinbar, wir passten eigentlich gut zusammen.

„Oleg, und wo ist jetzt die Mafia?”, fragte ich.
„Ach kleiner Kolumnist”, sagte Oleg. „Zitat: Was Bedeutung und Bekanntheitsgrad angeht, stellt nach Tschernobyl die ukrainische Mafia den zweiten Faktor dar. Mafia sind nicht nur die Leute, die in Prag auf Ladenbesitzer schießen oder in der Budapester Innenstadt Autos demolieren. Mafia – das sind prinzipiell alle. Korruption als Dauerzustand aller sozialen Beziehungen. Zitat Ende, Juri Andruchowitsch, Das letzte Territorium, Seite 120, ungefähr in der Mitte. Was ist jetzt mit Larissa?”
„Hör mal, es ist nett von dir, dass du dich um mich kümmerst, ich weiß das auch zu schätzen, wirklich, ich nehme es dir nicht übel”, sagte ich. „Aber ich habe schon die Liebe fürs Leben.”
„Bist du sauer?”
„Nein, aber wenn ich schon an diesem Ort einer Frau ein Getränk spendieren soll, und ich meine: nur ein Getränk spendieren, dann schlepp doch bitte nicht die mausgrauste Maus an, die es in diesem Loch gibt.”

Olegs Vater und die Frauen

Oleg raunte Larissa etwas ins Ohr, die sich sogleich erhob und verschwand, er lächelte fein und und schaute mir tief in die Augen. „Kolumnist, ich weiß ungefähr, was du verdienst in Odessa, viel ist das wahrlich nicht. Diese mausgraue Maus ist die einzige, die du anlocken kannst”, sagte er. „Du bist sauer.”
„Ich bin nicht sauer, ich bin verheiratet.”
„Na und, das ist mein Vater auch. Und mit wem tanzt er dort hinten? Das ist bestimmt nicht meine Mutter.”
„Die drei Muskelmänner, sind das seine Freunde oder Leibwächter?”
Oleg überlegte einen Augenblick, er trank seinen Wodka aus und bestellte Nachschub, dann sagte er: „Sowohl als auch. Gehören zur Familie.”

18 comments

  1. rli

    Lieber Kolumnist, handelt es sich bei den Handtaschen tatsaechlich um “schoene” Exemplare? Ich habe da so meine Zweifel, denn in meiner Wahlheimat, auch eine ehemalige Sowjetrepublik, traegt man nur schaeusliche Exemplare zur Schau – ich glaube, sie kommen alle aus China. War erst gestern wieder entsetzt, als ich auf dem groessten Basar von Duschanbe an einem Handtaschen-Stand (mit Boutiquen ist die Stadt aber auch schon “gesegnet”) vorbeikam. Nun, ist wohl alles Geschmacksache, auch was die Stiefel angeht…

  2. Alexander

    Schön, dass man hier neben abwechslungsreichen Informationen über die Stadt auch interessante Ausflugsziele vorgestellt bekommt. ;-)
    In Prag heißt das vis-a-vis übrigens Arena. Und die schmierigen alten Säcke haben Anzug an. Ansonsten alles gleich. Auch die Musik.

  3. Axel

    Schönes Fazit: “Sowohl als auch. Gehören zur Familie.”
    Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund für das weltumspannende Phänomen “Mafia”, dass alle zur großen Familie gehören.

    Übrigens, kannst Du mir verraten, warum die Go-Go-Girls in dem Video Fuchsschwänze tragen?
    Sehr befremdlich, finde ich.

  4. cw

    Übrigens, kannst Du mir verraten, warum die Go-Go-Girls in dem Video Fuchsschwänze tragen?

    Mein Verdacht: Der Manta-Club Odessa war zu Besuch, und die Jungs haben ein bisschen gegrabscht und ihr Terrain markiert.

  5. Iris

    Tja so ist das nun mal ihr “Modemuffel” – dieses Jahr sind große bunte Taschen modern! Und das überall, nicht nur in Osteuropa ;)

  6. sebastian

    ich bin mal wieder sprachlos. für mich war das alles schon normal. leere läden, gefüllt mit “antiqitäten” aus china. oder klubs/restaurants mit kasino. freue mich, dass du dich noch wundern kannst.

  7. cw

    Sebastian, ich habe lange gedacht, die Lädchen würde Umsatz machen, weil einmal pro Woche drei reiche Damen einfallen und alles wegkaufen. Seit der Krise kleben an den Geschäften große Rabattaufkleber, und trotzdem geht niemand rein. Dass die Preisnachlässe bis zu 60 Prozent seit Monaten gelten, zeigt wohl, wie hoch früher die Gewinnspanne war. Ich habe mal einen Anzug kaufen wollen, weil ich von draußen gesehen hatte, alles sei 50 Prozent reduziert. Der Anzug kostete dann immer noch dreimal soviel wie in Deutschland.

    Übrigens kann ich mich doch nicht über alles gleichzeitig wundern. Dann hätte ich doch keinen Kolumnenstoff mehr. Nächste Woche staune ich über die Korruption. Ist bestimmt neu für Dich: Die ist ja so gewaltig! Oder wusstest Du das schon?

  8. Sebastian

    Für Korruption bin ich zu blöd/naiv. Kapiere nie, wann ich Geld zahlen soll. Werde dann mitleidig angesehen und es klappt auch so alles. Nennen wir es mal Ausländerrabatt.

  9. cw

    Du bist nur clever. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es gut ist, sich dumm zu stellen. Wenn man kein Russisch spricht, kapitulieren vor allem Polizisten manchmal. Ich dachte lange Zeit: Wenn ich russisch spräche, würde ich freundlich behandelt werden, weil der Polizist erfreut ist und denkt: “Wow, der Kerl interessiert sich für unsere Kultur…”

    Sag mal, kannst Du die englische Version der Kolumne komplett lesen? Und falls ja, welche Variante – die erste oder die zweite?

  10. cw

    @Sebastian: Axel hat mich schon gerettet. Ich Depp hatte irgendwelche Codes von Word reinkopiert. Sagt er. Wird schon stimmen. Sinngemäß sagte er: “Mach so ne Scheiße nie wieder!”

    Mit Firefox war alles blendend, mit Explorer war alles Mist. Aus Panik habe ich dann noch mal den Text publiziert. Ich werde nie ein Relaunch machen, das pack ich nicht. Noch in 40 Jahren werde ich dieses Blog betreiben – komme technisch, was wolle. Verstehst Du jetzt, warum ich nicht twittere?

  11. Sebastian

    so, jetzt alle mal weghören: wenn du in word schreibst und per kopieren und einfügen das in die editoransicht von wordpress einfügst, nimmst du sehr wahrscheinlich “unsichtbare” formatierungen mit. und da browser bestimmte anweisungen unterschiedlich interpretieren, bekommt man da ab und an ein problem und muss dann im quelltext den code bereinigen. du kannst das umgehen, indem du zum beispiel die texte als “nur text” (.txt) speicherst und dann einfügst. aber das hat dir axel sicherlich auch schon alles geschrieben.

    so, jetzt kann der rest wieder mitlesen: ach, twitter ist doch wie sms, da gehört nun mal gar nichts dazu. ich spüre dazu eine diffuse technikangst bei dir. zu lange in der ukraine gewesen? hast du schon angst vor dem chaos? mach mal mit oleg eine antikrisenkoalition, dann wird das schon wieder.

  12. cw

    @Sebastian (alle anderen bitte weghören): Es ist, wie Du vermutest. Ich hätte die Texte durch die Küchenspüle jagen müssen – normalerweise mache ich das auch. Ich hatte es rückgängig gemacht, aber irgendwelche Codes nicht gelöscht.

    (jetzt können alle wieder mitlesen)
    “Diffuse Technikangst” ist sehr milde ausgedrückt. PANIK! Ich glaube übrigens, meine Technikbegeisterung wäre größer, wenn ich schon länger in der Ukraine leben würde. Viele Leute besitzen modernen Kram: großartige Mobiltelefone zum Beispiel. Es wird ja pausenlos telefoniert und gequatscht auf der Straße. Neulich beim Fasching im Kindergarten war ich der Einzige ohne Camcorder (heißt das so?), also ohne Kamera zum Filmen. Anderswo, in der Provinz, mag das noch anders sein. Hier im Stadtzentrum geben die Leute sehr viel Geld für Technik aus.

    Als wir auf Wohnungssuche waren, warben die Vermieter immer mit dem “New York Style” des Quartiers, was bedeutete: riesiger Flachbildfernseher, Formel I-Rennwagen-Bett, Whirlpool, alles “remont”. Stuck und Parkett waren entfernt worden. Wir suchten allerdings eher Berliner Altbau – mit Stuck und Parkett.

  13. Alexander

    @Iris: “dieses Jahr sind große bunte Taschen modern!”

    Und mittelgroße braune Herrenhandtaschen? Sind hier mit spitz zulaufenden Herrenschuhen der Dauerbrenner. In Berlin wurden wir aber irgendwie komisch angeschaut … Also, Modezarin: Wann kommt diese Mode zu uns?

  14. cw

    Oh Alexander, bitte keine Herrenhandtaschen. In den achtziger Jahren waren die in der DDR sehr angesagt, oder? Die Männer in meiner Familie trugen die jedenfalls aus Überzeugung. Eine Bekannte nennt die Dinger abschätzig: “Schlenkerficker”.
    Man sieht hier aber tatsächlich Männer mit solchen Täschchen. Mein Geschmack ist es nicht.

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