Schlagworte: Marschrutka

Kolumne: Oleg, John und Marschrutka

(Haben Sie Lust auf eine Stadtrundfahrt? Dann steigen Sie bitte ein.)

An einem Tag, der damit beginnt, dass mich mein Freund Oleg anruft und weckt, habe ich entweder Geburtstag oder brauche in den nächsten Stunden starke Nerven. Da ich in mehr als 33 Jahren noch nie im Juli Geburtstag gehabt habe, war mir gleich klar: Es kommt etwas auf mich zu.

Oleg sprach sehr schnell und bestellte mich in ein Café. Er sagte, es sei dringend. Als ich ankam, und zwar unserer Freundschaft zuliebe mit gespielter Atemlosigkeit, hatte er seinen Kaffee bereits bezahlt und wartete auf der Straße. “Wir müssen los”, sagte er. “Wir nehmen die Marschrutka.”

Marschrutkas heißen in der Ukraine jene Transportmittel, die in deutschen Großstädten Linienbusse heißen. Man sollte nur keine Linienbusse erwarten. Anders gesagt: Marschrutkas sind Linienbusse vor der Erfindung von überdachten Haltestellen und Fahrplänen und Monatskarten und Komfort jeder Art.

In der Theorie sieht das so aus: Sie stellen sich an die Straße und warten. Wenn die Marschrutka kommt, halten Sie den Arm raus und steigen ein. (Bitte zeigen Sie dem Fahrer nicht den Daumen, als wollten Sie trampen. Er könnte das Zeichen missverstehen und denken: Ich weiß selbst, dass ich ein geiler Marschrutkafahrer bin.) Wenn Sie aussteigen wollen, gehen Sie nach vorne zum Fahrer, nennen ihm die Straßenecke, an der er halten soll, und bezahlen. Eine Fahrt in Odessa, egal wie lang, kostet derzeit 2 Griwna und 50 Kopeken, ungefähr 20 Cent.

In der Praxis sieht das so aus: Als Odessa-Neuling brauchen Sie ein Fernglas, um von weitem zu erkennen, welche Marschrutka gerade kommt. Ist es die 242 nach Arkadia am anderen Ende der Stadt oder die 241 zum Hauptbahnhof im Zentrum? Dorthin fahren ungefähr noch fünf andere Linien, aber immer auf unterschiedlichen Wegen. Die ungefähre Route des Busses, also die Namen der wichtigsten Straßen, die angesteuert werden, kleben auf einem Pappschild an der Front- und der Seitenscheibe.

Wenn Sie gar nicht durchsehen, tun Sie, was auch Odessiten tun: Bringen Sie die Marschrutka mit ausgestrecktem Arm zum Stehen. Dann brüllen Sie ins Innere ihr Ziel und heben dabei die Stimme. Irgendjemand wird auf die Frage schon antworten. Im schlimmsten Fall hat der Fahrer umsonst gehalten und beschimpft Sie deshalb ein bisschen. Aber das verstehen Sie dann sowieso nicht.

Sollten Sie aussteigen wollen und feststellen, dass Sie nicht nach vorne durchkommen, weil es zu voll ist, geben Sie der Person vor Ihnen das Geld und nennen Sie ihr auch Ihre Haltestelle. Beides wird dann zum Fahrer durchgegeben. Keine Sorge, Sie bekommen auch das Wechselgeld zurückgebracht. Dort, wo Sie abgesetzt werden wollen, öffnet sich die hintere Tür. Sie sind da. Verabschieden Sie sich nicht von den anderen Leuten! Danken Sie nicht dem Fahrer!

Sie wollen wissen, wo Ihr Fahrschein ist?
Steigen Sie aus der Kolumne aus. Sofort!
So frech muss man erst mal sein. Gibt’s doch gar nicht.

Oleg lehnte mit dem Kopf an der Scheibe und hatte die Augen geschlossen. Immer wenn die Marschrutka hielt, erwachte er augenblicklich, schaute zu den Türen und beobachtete, wer zustieg. Dann nickte er wieder weg.

Meine Lieblingsmarschrutka ist die 203, die zwischen der Zementfabrik und dem Schewtschenko-Park verkehrt. Am Park spuckt der Bus vor allem Halbnackte aus, weil Lanjeron nicht weit entfernt ist. Lanjeron ist der Strand von Odessa, der am dichtesten am Stadtzentrum liegt. Meiden Sie diesen Ort, wenn Sie Osteebadähnliches erwarten und sich erholen wollen.

Zur Zementfabrik gelangen Sie am besten, indem Sie träumen und sich auf die falsche Straßenseite stellen. So werden Sie logischerweise in die andere Richtung transportiert, also weg vom Schewtschenko-Park und vom Strand. Irgendwann merken Sie das natürlich, weil sich der Bus unterwegs ziemlich leert und die Frauen sowohl älter als auch dicker werden. Überdies werden ein paar verlorene Seelen einsteigen, die ihnen im Zentrum eher selten begegnen. Odessa, die Smog atmende Metropole, verwandelt sich mehr und mehr in ein Dorf, und auf den letzten Kilometern werden Sie vermutlich der letzte Fahrgast sein. Halten Sie durch.

Und dort ist sie schon, die weniger bekannte Sehenswürdigkeit Zementfabrik Odessa. Die ist, wenn Sie den Verwandten später Ihre Urlaubsbilder zeigen, ein sicherer Brüller.

Kalle, schau mal: die berühmten Treppe mit den 192 Stufen aus dem Eisenstein-Film Panzerkreuzer Potemkin, und die Oper haben wir uns natürlich auch angeguckt. Ein Prachtbau der Wiener Architekten Fellner&Helmer, sag ich dir. Und das, Kalle, ja, das ist die Zementfabrik. War das ne Tortur dahin, mein Lieber.

Oleg und ich fuhren ein wenig kreuz und quer, ja ziellos durch die Stadt, wie mir schien. Ich hatte längst aufgegeben, mich zurecht zu finden, wir waren immer irgendwo, wo ich nie zuvor gewesen war. Alle zehn bis 15 Minuten ging Oleg nach vorne, reichte dem Fahrer fünf Griwna und bat ihn, an der nächste Ecke zu halten. Dann standen wir ein paar Augenblicke an der frischen Luft und kletterten in die nächste Marschrutka, die kam.

Die 203 vom Strand weg ist nichts für Einsteiger. Man hat gerade im Schwarzen Meer gebadet und will wieder ins Zentrum. Bis zur Haltestelle der Marschrutka sind es ungefähr sieben Minuten, es geht größtenteils bergauf, und mit Kindern ist der Weg noch ein wenig beschwerlicher, weil an den Buden links und rechts nicht nur Souvenirs, getrocknete Fische und Krabben verkauft werden. Es gibt auch allerlei buntes chinesisches Plastikspielzeug, das Kinderschritte sehr langsam macht.

Hat man die Haltestelle erreicht, findet man mit etwas Glück noch einen letzten freien Sitzplatz in der 203 und braucht bis zur Abfahrt nicht zu stehen. Meistens, vor allem mit bummelnden Kindern, hat man kein Glück und verflucht Chinas Spielzeugindustrie.

Sekunden später passiert es: Der Körper schwitzt, wie er noch nie geschwitzt hat. Es ist seine Art, den Verstand zu fragen: “Wozu hast du mich eigentlich zum Abkühlen ins Schwarze Meer geschickt? Und weißt du, was Körperverletzung ist? Ich verrat’s dir, Schwachkopf. Körperverletzung ist: in einer 60 Grad heißen Marschruka ohne Klimaanlage 20 Minuten auf die Abfahrt zu warten.”

Ich wurde nicht gerade ungeduldig, ich bin schließlich im Urlaub. Aber nach einer Stunde fragte ich Oleg doch mal, was wir vorhätten.
“Kolumnist, weißt du denn nicht, welcher Prominente gerade in Odessa ist?”
“Keine Ahnung. Außer mir fällt mir niemand ein.”
“Mal davon abgesehen, dass das gerade grammatisch ganz gewagt war – ich meine nicht eingebildete Prominente.”
“Sag schon, Oleg.”
“John”, sagte Oleg und dehnte den Nachnamen, “Mal-ko-vich.”
“Hmmh, der Schauspieler, ja?”
Hmmh, der Schauspieler, ja? Du bist ja ein noch größerer Depp, als ich bisher gedacht habe. John Malkovich ist Ehrengast des Zweiten Internationalen Filmfestivals von Odessa.”
“Schön für Odessa, schön für Mr. Malkovich.”
“Ich muss ihn treffen. Ich bewundere ihn.”
“Oh nein, Oleg, bitte nicht, das hatten wir doch schon mal.”
Oleg Fiction, ich erinnere mich. War großartig. Hammertext von Axel. Ewige Druschba.”
“Weißt du denn, wo er ist?”
“So ungefähr.”

Wir setzten die Fahrt fort.

Mich fasziniert nach Jahren immer noch, wie viele Leute in eine Marschruka mit 20 Sitzplätzen hineinpassen. Erst wenn 40 Leute drin sind, beginnt ein Gemurre, das der Fahrer aber nicht hört, weil er gerade telefoniert, oder sowieso nicht hören will. Er lässt weiter einsteigen, obwohl zur Paarung mittlerweile nicht mehr viel fehlt. Man wird von Fremden angeschwitzt und revanchiert sich, indem man bestmöglich zurückschwitzt. Als Mann suche ich naturgemäß die Zweisamkeit mit hübschen Odessitinnen. Auch kurz vor dem Kollaps riechen Marschrutkafrauen besser als Marschrutkamänner.

Nach einer Weile kennt man auch die Problemzonen der Schönheit, an der man sich reibt. Ihren Po hatte man sich, als man sich zu ihr vorgearbeitet hatte, doch ein wenig strammer vorgestellt. Ihre Brüste fühlen sich indes obszön schön an. Haucht sie mir da gerade einen Rest Knoblauch vom Essen gestern Abend ins Gesicht? Gut, dann neutralisieren wir uns ja.

Deutsche Datenschützer, die sich wegen Facebook und Google um die Privatsphäre sorgen, sollten in Odessa mal Marschrutka fahren.

“Wie lange dauert′s denn noch, Oleg?”
“Geduld.”
“Wir sind jetzt 90 Minuten unterwegs. Da könnte mal was kommen.”
“Wir sind gleich da.”

Odessa ist für mich voller Erinnerungen. Ich weiß noch, wie ich mir im Juni 2008 – kurz nach meinem Umzug aus Deutschland – die Füße wund gelaufen habe auf der Suche nach einer Nagelschere. Denn die hatte ich nicht mitgebracht. Damals gab es diese vielen Drogerieketten noch nicht. Als ich endlich ein Geschäft gefunden hatte, eines für Sanitärartikel, wusste ich nicht mehr, was “Nagelschere” auf Russisch heißt. Und gerade jetzt fällt mir das Wort natürlich auch wieder nicht ein.

Wenn ich vor der Oper stehe, denke ich immer an den Stunt, den mein Sohn auf seinem Laufrad vollführte. Er hatte das Bremsen damals noch nicht gelernt, und nun ging es bergab. Er stürzte, schlug sich die Lippen auf und sang eine Arie, die es in sich hatte. Hätte ich in dem Augenblick einen Pappbecher herausgeholt, wir wären reich geworden.

Und dort, die Schwiegermutterbrücke, an der frisch Verheiratete ein Vorhängeschloss anbringen, damit die Liebe ewig hält: Hier fiel meine Brille zu Boden. Sonst hätte ich die Sache mit dem deutschen Optiker M. nie erlebt. Und da, der Primorskij Boulevard, war das kalt in der Silvesternacht 2008. Der Staatspräsident, der sich aus Kiew mit Neujahrsgrüßen meldete und ausgepfiffen wurde, hieß, tja, wie hieß der denn? Das war doch der mit den Narben im Gesicht und den großen Versprechen im Maul. Mensch, ich komm nicht drauf. Lang, lang ist′s her.

Und jetzt sind wir an dem Lokal, in dem ich mit der Familie das beste Schaschlyk meines Lebens gegessen habe, ist erst ein paar Tage her. Die Kinder malten die ganze Zeit wild mit ihren Filzstiften und waren so genügsam. Als die Kellnerin die Rechnung brachte, war sie entsetzt, weil den Lipton-Eistee-Tisch fünf Filzstiftkringel zierten. Sie drückte mir einen Lappen in die Hand und sagte: “Das muss weg, sonst Schtraf.” Die Familie war natürlich längst heimlich untergetaucht, ich schrubbte ein bisschen und merkte gleich, dass die Farbe mit Spülmittel niemals verschwinden würde. Ich erhöhte dann das Trinkgeld und rannte davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Und schaut, liebe Leser, das Krankenhaus Nummer 11, wo ich nach meinem bösen Unfall wieder laufen lernte. War auch eine Marschrutka, übrigens. Euer Kolumnist musste sich das Antibiotikum selbst in den Hintern spritzen. Wisst ihr noch?

Und dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort, dort und auch dort wurde ich mit dem Auto angehalten, weil Odessas Straßenpolizisten, die Gaischniki, gerade Geld brauchten. Irgendetwas, wofür ich eigentlich in den Knast gehört hätte, fanden sie jedes Mal. Manchmal konnte ich mich herausreden, manchmal musste ich mich freikaufen.

Oleg tippte mich an.
“Hab ich geschlafen?”, fragte ich.
“Den Geräuschen nach: tief und fest, Kolumnist.”
“Und wie lange?”
“Halbe Stunde.”
“Sind wir da?”
“Hast du Geld dabei, Kolumnist?”
“Ich hab nichts eingesteckt, du wolltest doch bezahlen.”
“Tja”, sagte Oleg, “dann sind wir jetzt da.”

Ich rieb mir die Augen und versuchte, etwas zu erkennen, das mir bekannt vorkam. Aber da war nichts.
“Wo sind wir, Oleg?”
“Ist doch egal.”
“Wo ist Malkovich?”, fragte ich.
“Ich dachte: hier.”
“Hier?”
“Hier. In der Marschrutka oder in der davor oder in der davor oder gleich in der ersten.”
“Oleg, nur damit ich das richtig verstehe: Wir fahren seit zweieinhalb Stunden Marschrutka, weil du glaubst, dass John Malkovich auch Marschrutka fährt?”
“So isses.”
“Ich halte das, vorsichtig gesagt, für nicht sehr wahrscheinlich. Der kriegt für jeden Film ein paar Millionen. Der fährt doch nicht Sauna.”

Oleg erzählte mir eine Geschichte. Er war zur Eröffnung des Filmfestivals gegangen. Vor der Oper lag ein langer roter Teppich. Plötzlich sah er, wie sich John Malkovich auf der Straße mit Odessiten unterhielt. Er hätte ihm fast die Hand geschüttelt, kam aber nicht weiter, es fehlten nur drei Meter. Oleg drängelte und stellte sich auf die Zehenspitzen, er rief den Schauspieler und drängelte weiter.

Drei Meter.

Odessadorf

Oleg verstand nicht, worüber sich John Malkovich unterhielt, aber er hörte ein Wort ganz, ganz deutlich.
“Er hat gesagt: Marschrutka.”
Ich schwieg.
“Kolumnist, du glaubst mir doch, oder?”
“Na klar, Oleg. Wenn du’s gehört hast, hat er’s gesagt.”
“Marschrutka,
hat er gesagt.”
“Aber Oleg“, sagte ich. „Du hast es doch gar nicht nötig, diese blöden Prominenten zu jagen. Du hast doch mich.”
“Ach, du bist ja praktisch schon wieder weg.”
“Aber ich komm wieder, vielleicht schon im Oktober. Ist das nichts?”
“Im Augenblick, Kolumnist, frage ich mich eher, wie wir von diesem verdammten Ort wegkommen. Ohne Geld.”
“Ist es weit, Oleg?”
“Verflucht weit.”
“Ich habe Zeit. Ich habe nichts vor. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.”
“Gehen wir?”
“Gehen wir.”

Und dann gingen wir.

(Und Sie müssten ja jetzt eine Weile ohne mich klarkommen können.)