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Kolumne: Oleg feiert meinen Geburtstag

ODESSA, UKRAINE Mein Freund Oleg hat heute Früh um halb sechs vor meiner Tür gestanden – mit einer hässlichen Torte und einem dämlichen Grinsen. Durch den Spion sah alles, Oleg, Oleggrinsen, Olegtorte, ziemlich aufgequollen aus. Ich öffnete trotzdem.
„Ich wollte unbedingt der Erste sein”, sagte Oleg und schnaufte.
„Das hast du auch geschafft, Glückwunsch. Du kannst die Klingel jetzt loslassen.”
„Ich war schon mal um halb zwei hier, hast wohl gepennt.”
„Wahrscheinlich”, sagte ich.
„War vielleicht ein bisschen zu spät.”
„Oder vielleicht ein bisschen zu früh.”
„Schade.”
„Mach dir keine Sorgen, Oleg, du hast Oma, die seit zwölf Jahren unbesiegte Früh- und Erstgratulantin, besiegt.”
„Echt?”, fragte Oleg.
„Sie wird traurig sein.”
„Also, alles Gute zum Geburtstag, ich wünsche dir ein glückliches Leben, ewige Schönheit, einen reichen Mann mit einem großen … oh Pardon, falscher Text”, sagte Oleg und räusperte sich, „der ist für Irina morgen. Ich wünsche dir Geld, viel Geld, Geld ist das Wichtigste überhaupt.”
„Gesundheit, Oleg, du meinst: Gesundheit.”
„Nee, Geburtstagskolumnist, nee, Geld, ich meine: Geld.”

Ein paar Tage zuvor war ich mit Oleg bei der Ausländerbehörde gewesen, um herauszufinden, welche Dokumente die deutsche Kollegin A. für eine Registrierung braucht. Oleg, seine Kollegin und ich warteten in einem Vorraum mit Loch in der Decke, Holzleiter in der Ecke und einem schweren Schrank, auf dem ein eingestaubter Druckerkarton stand. Ringsum hingen Schreiben auf Ukrainisch, eng bedruckt und für jeden Ausländer unverständlich. Stühle gab es nicht.

Oleg säuft ab

Nach ein paar Minuten durften wir eintreten. Oleg reichte dem Beamten den Reisepass der Deutschen und trug sein Begehren vor, ein bisschen umständlich, aber höflich.
„Und wer sind Sie?”, fragte der Beamte, nachdem er Visum und Stempel studiert hatte.
„Oleg”, sagte Oleg.
„Dann sind Sie niemand. Ich kann Ihnen keine Auskunft geben.”
„Ich will doch nur wissen, welche Dokumente wir…”
„Das habe ich verstanden”, sagte der Beamte. „Aber ich antworte nur dem Direktor der jungen Frau oder seinem Stellvertreter. Auf Wiedersehen.”

Der Mann hatte Oleg gekränkt. Ich bemerkte das, als wir abends zusammen saßen. Oleg versuchte, sich schnellstmöglich zu betrinken, was ihm vortrefflich gelang. Um keine Zeit zu verlieren, schwieg er oft.
„Oleg”, sagte ich nach einer Weile, „du weißt doch, dass du in der Ukraine nichts bist, so lange du keine Millionen hast oder eine Behörde leitest. Ich muss dir doch diesen Hierarchie-Irrsinn nicht erklären, es ist dein Land.”
„Und was bin ich?”
„Du bist Oleg”, sagte ich.
„Eben, ich bin eine drittklassige Witzfigur in viertklassigen Kolumnen, ein Kolumnenkleinkomödiant vom Feinsten.”
„Erstens: zweitklassige Witzfigur, zweitens: drittklassige Kolumnen, drittens: Hauptrolle.”
„Haha, Hauptrolle, haha”, sagte Oleg.
„Ich bin doch deine Marionette, und außerdem lieben die Deutschen dich.”
„Prost!”

Der Mörder ist immer der Dichter

Ich habe Oleg von Stefan Zweig erzählt. Nachdem der österreichische Schriftsteller Tersites veröffentlicht hatte, sein erstes Drama, übernahm Adalbert Matkowsky die Hauptrolle.  Die Uraufführung 1909 am Königlichen Schauspielhaus Berlin wurde allerdings verschoben, weil Matkowsky erkrankt war. Acht Tage später war er tot. Danach schrieb Zweig für Josef Kainz Der verwandelte Komödiant. Kainz war begeistert und versprach, er werde das Stück spielen, so lange er lebe, es passe ihm „wie ein Handschuh”. Er kehrte jedoch krank von einer Gastspielreise zurück und überlebte nicht. Zweig schreibt in seinen Erinnerungen Die Welt von Gestern:

Dass die beiden größten Schauspieler Deutschlands gestorben waren, nachdem sie meine Verse als letzte geprobt, machte mich, ich schäme mich nicht, es einzugestehen, abergläubisch.

Zweig entsagte ein paar Jahre dem Dramatischen, bis sich der Direktor des Wiener Burgtheaters, Alfred Baron Berger, für die Tragödie Das Haus am Meer interessierte. Der Dichter schaute die Liste der Schauspieler durch und war erleichtert. „Gott sei Dank, es ist kein Prominenter darunter!”, rief er aus. In seinen Memoiren schreibt er: „Das Verhängnis hatte niemanden, gegen den es sich auswirken konnte.” Tatsächlich blieben die Darsteller am Leben – dafür starb vierzehn Tage vor Probenbeginn der Burgtheaterdirektor.

Nachdem Zweig 1931 Das Lamm des Armen beendet hatte, bat Alexander Moissi, ihm die Hauptrolle zu überlassen. Zweig lehnte ab, weil er „nicht ein drittes Mal für den größten deutschen Schauspieler der Zeit Anstoß des Verhängnisses sein” wollte. Stattdessen übersetzte er ihm ein italienisches Stück für die Welt-Uraufführung in Wien. Als die Proben beginnen sollten, entdeckte er in der Zeitung die Meldung, der Hauptdarsteller Moissi habe eine schwere Grippe. Zweig traf den Freund schon im Fieberdelirium an. Zwei Tage später war Moissi tot.
„Siehst du, Oleg”, sagte ich und beendete meinen Vortrag. „Es hätte dich schlimmer treffen können. Du lebst. Und jetzt hörst du auf, dich zu besaufen.”

Zwei Stunden später schleppte ich ihn nach Hause.

Sexuelle Vergreisung auf Raten

Oleg überreichte mir die Torte, trat ein und zog die Schuhe aus. Ich schnitt jedem ein Stück ab und kochte Kaffee. Mein Geburtstag bedeutet mir wenig. Gewiss, ich erwarte immer noch etwas von meinem Leben, ich weiß aber auch, dass eine Hochzeit mit der zauberhaften Nicole Kidman, die ich einst erwogen hatte, eher unwahrscheinlich ist, zumal ich einen Sohn mit in die Ehe bringen würde. Wenn ich erwache, fühle ich mich bisweilen uralt. Und ich bemerke an mir überdies eine gewisse sexuelle Vergreisung. So finde ich mittlerweile Frauen, die laut geigen, erotischer als Mädchen, die Haut zeigen.

Immerhin denke ich noch nicht an die Rente. Mein Onkel muss in dieser Woche entscheiden, ob er in sechseinhalb Jahren in Altersteilzeit gehen will. In der Ukraine, wo die Leute nicht wissen, was morgen ist, wirkt Deutschland manchmal verrückt. Jüngst hat mir eine Studentin aus Stuttgart geschrieben, sie komme im Januar 2011 nach Odessa und hoffe, ich könne ihr ein günstiges Hotel empfehlen. Sie wollte sogar die Preise wissen. Gern hätte ich ihr geantwortet: „Liebes Mädchen, spinnst Du? Ich weiß nicht einmal, ob es im Januar 2011 die Ukraine überhaupt noch gibt.”

Dass ich meinen Geburtstag nicht mag, hat vielleicht damit zu tun, dass am 6. April zu viele Männer geboren sind¹, die ich nicht mag: Nik P. (Schlagersänger), Hans Geißendörfer (Regisseur), Gheorghe Zamfir (Panflötenlegende), Kurt Georg Kiesinger (Bundeskanzler) und Robert Kovac (Fußballer), dem ich das verdiente Sonderzeichen über dem letzten Buchstaben schenken würde, wenn ich es denn fände. Wenigstens haben am 6. April Abba den Grand Prix 1974 gewonnen – bezeichnenderweise mit Waterloo.

Die Kaffeemaschine röchelte noch, als das Telefon klingelte.
„Wer ruft denn um diese Uhrzeit an?”, schrie Oleg. „Unfassbar!”
„Sei mal leise”, sagte ich und meldete mich, lauschte und antwortete: „Klar, du bist die Erste, wie immer.”

¹ Recherche: Magdi Aboul-Kheir – danke!

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