ODESSA, UKRAINE Ich verspreche, dass dieses selbstreferenzielle Gestammel bald ein Ende haben wird. Leider spüre ich noch immer die Folgen des Unfalls mit der Marschrutka auf dem Weg nach Kiew vor fast zwei Wochen. Gerade komme ich vom Krankenhaus Nr. 11, genauer gesagt: vom Traumatologen, einem Kumpel meines Schönheitschirurgen Valentinowitsch. Valentinowitsch hatte mir eine Audienz einen Termin besorgt, weil mein linkes Unfallbein – vorsichtig ausgedrückt – nicht heilt. Die vergangenen Tage bin ich nur auf dem rechten Bein gehüpft, dessen Knöchel nun auch blau ist. Ich fuhr mit dem Taxi zum Krankenhaus und humpelte 150 Meter zur Aufnahme. Die Traumatologie war noch einmal 200 Meter entfernt. Ich fragte nach einem Rollstuhl. Zwei Ärzte und drei Schwestern schauten mich fassungslos an. Der Arzt sagte: “Wir verdienen hier so wenig, da werde ich Ihnen nicht helfen.” Die Frau, die mich die letzten Meter des Wegs gestützt hatte, erwiderte: “Meine Mutter liegt hier seit einem Monat, ich weiß, was Ihr verdient. Erzählen Sie mir nichts.”
Der Arzt ging nach draußen zum Rauchen. Manchmal treiben mich die Menschen in diesem Land in den Wahnsinn.
Ich bin, unterbrochen von einigen Verschaufpausen, zur Traumatologie gehumpelt. Borisowitsch diagnostizierte schnell einen Muskelriss und verschrieb mir Krücken, die ich für umgerechnet acht Euro in der Apotheke gekauft habe. Er will bis Freitag warten und mir dann vielleicht einen Gips verpassen. Seine Kollege hat mir freundlicherweise noch die Krücken zusammengeschraubt und eingestellt, ohne Schmiergeld von mir zu nehmen.
ODESSA/KIEW, UKRAINE Ich reiche das Foto von der Medien-Krim-Gas-Konferenz in Kiew nach – nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch als Beweisstück 1 für meine Krankenversicherung, dass ich in der ukrainischen Hauptstadt gewesen bin. Auf dem Bild sehen Sie, von links, den Lemberger Journalisten Jurij Durkot, Walerij Iwanow, Moderator und Präsident der Akademie der Ukrainischen Presse, Wolodymyr Kornilow, Chef der ukrainischen Filiale des Instituts der GUS-Staaten, und mich. Der Medienanalytiker Heorhij Potschepzow versteckt sich ganz links.
In meinem Referat habe ich versucht, die Frage zu beantworten, wie die deutschen Zeitungen den Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine behandelt hätten. Ich behauptete, die Journalisten hätten ausgewogener als 2006 berichtet und kommentiert, als Russlands Präsident Wladimir Putin für viele der klare Schuldige gewesen war. Diesmal habe die wirtschaftliche Seite des Konflikts im Mittelpunkt gestanden.
Und hier sind zwei blitzgescheite Gedanken des Referenten:
1. Die Journalisten haben weitaus kritischer als 2006 über die Ukraine berichtet, weil sie – ein Grund – von der Entwicklung des Landes nach der Orangen Revolution enttäuscht sind. Das Land macht wenig Fortschritte; die Orangen Helden, Präsident Viktor Juschtschenko und Regierungschefin Julia Timoschenko, haben an Glanz verloren. Nach wie vor gibt es Korruption, Oligarchenherrschaft und Ex-Geheimdienstler, die im Verborgenen die Strippen ziehen. Von Russland erwartet man nichts anderes.
2. Mein Fazit: Das Ukraine-Bild der Deutschen hat sich durch die Medienberichterstattung eher verschlechtert, aber das Bild von Russland – soviel zum Trost – auch nicht unbedingt verbessert.
Der Herr neben mir auf dem Podium fand das allerdings weniger witzig als das Publikum.
ODESSA, UKRAINE Das glaubt mir doch wieder keiner. Ich komme gerade vom Schönheitschirurgen Valentinowitsch, der sich schon am Sonnabend so rührend um mein Unfallbein gekümmert hatte. Auf Valentinowitschs Tisch lagen drei Eintrittskarten für eine Miss-Wahl oder ähnliche Gala – wahrscheinlich das Geschenk einer glücklichen Ex-Patientin.
Valentinowitsch ist sehr zufrieden mit dem Genesungsprozess. Er tastete die lädierte Wade noch einmal gründlich ab, telefonierte mit einem Kollegen und empfahl dann Wodka.
“Trinken?”, fragte ich, weil ich Valentinowitsch nicht richtig verstanden hatte. “Rotwein wäre mir lieber.”
“Trinken können Sie den Wodka auch, schaden kann es nicht”, sagte mein Schönheitschirurg und grinste. “Ich meinte aber eigentlich: Wickeln Sie sich vor dem Schlafen eine Mullbinde mit Wodka ums Bein. Reiner Spiritus tut es natürlich auch.”
Am Sonnabend sehen wir uns wieder. Die nächsten zwei Tage muss ich mich noch spritzen, dann hat der Allerwerteste wieder Ruhe. Ich darf also zu Hause gesund werden, was im Grunde ein bisschen schade ist. Ich hatte mich so auf mein Krankenhaustagebuch aus der Privatklinik Into-Sana gefreut. Damit Sie sich vorstellen können, was Sie und ich verpassen – das hier, nur auf Ukrainisch:
KIEW/ODESSA, UKRAINE Es wird jetzt hoffnungslos selbstreferenziell, was mir aber egal ist. Warum? Eine Woche lang muss ich mir wegen dieses Unfalls täglich eine Spritze mit Antibiotikum in den Allerwertesten stechen. Die erste Ladung ist soeben eingefüllt worden. Ein Arzt in Deutschland, mit dem ich verwandt bin, versteht nicht, warum ich Antibiotikum nehme. Ich werde also die nächsten acht Stunden am Computer verbringen. Der eigene Tod wird im eigenen Blog vermeldet.
Odessa, Donnerstag, 5.30 Uhr: Die blaue Marschrutka, ein sitzmöblierter Gemüsetransporter, startet vom Busbahnhof. Ich sitze direkt hinter dem Fahrer, der sofort anfängt zu rauchen. Er tut er dies bei offenem Fenster, obwohl draußen minus fünf Grad sind. Nach zwei Kilometern steigt ein Polizist zu und fährt zehn Minuten mit. Im Gang steht mein Koffer mit dem Laptop und Klamotten, der Sitz neben mir ist frei. Acht oder zehn Passagiere, ich zähle nicht nach, sind wir. Ich will nach Kiew, um eine Konferenz zu besuchen.
8 Uhr: Wir halten am Busbahnhof in Ljubasivka. “Zehn Minuten, okay?”, sagt der Busfahrer. Dicke, nicht nur dick eingepackte Frauen schreien durch den Nebel, was sie an den Ständen verkaufen: Hähnchen, belegte Brote, Tee, Kaffee und Wasser.
8.30 Uhr: Wenn wir gut durchkommen, erreichen wir in zweieinhalb Stunden Uman. Danach sind es nur noch 250 Kilometer bis Kiew. Vorn am Bus steht, dass wir um eins ankommen werden. Bisher habe ich nicht schlafen können. Ständig wechselt der Busfahrer die CDs. Und immer wenn ich doch kurz davor bin wegzunicken, lässt er die Scheibe hinunter und raucht. Ich hasse ihn. Das Geld – 110 Griwna, elf Euro – hat er auch schon kassiert. Ich habe nicht nach einer Quittung oder gar einem Fahrschein gefragt.
“Guckt mal!”, ruft plötzlich die Frau, die hinter mir sitzt. Zweihundert Meter vor uns kommt ein Jeep ins Rutschen, eindrucksvolles Leitplankenbillard, dann rammt er ein anderes Auto. Vielleicht sehen wir auch, wie sich die Airbags öffnen, ich erinnere mich nicht mehr genau. Der Fahrer der Marschrutka bremst, hält auf der linken Spur und steckt sich erst einmal eine Zigarette an.
Eine Minute später knallt es plötzlich, unser Minibus rutscht oder schwimmt oder überschlägt sich, alles geschieht so schnell. Die Frauen schreien, Scheiben zersplittern, irgendetwas, vielleicht mein Koffer mit dem Laptop, rutscht durch den Gang. Stille. Die Frau, die die ganze Zeit neben mir gesessen hat, steht auf einmal neben meinem Sitz und wankt. Ich greife ihre Hand. Ein Mann liegt im Gang und stöhnt. Ich erscheine mir unverletzt. Nur meine Brille fehlt.
8.30 bis 9.30 Uhr: Wir wurden von einem Mercedes gerammt. Einige Passagiere haben Platzwunden am Kopf. Der Mann, der im Gang gelegen hat, humpelt und hält sich das Bein. Er erzählt mir etwas, ich verstehe kein Wort. Aber ich sehe meine Brille, er hat draufgelegen. Der Fahrer befiehlt uns, schnell auszusteigen und auf den Hang hinter der Leitplanke zu klettern, ehe wir abermals gerammt würden. Die Straße ist glatt.
Die ersten Passagiere spielen schon Leserreporter und fotografieren mit dem Handy den Unfallort. Der Fahrer telefoniert mit einer Dana und sagt nach dem Gespräch, ein sitzmöblierter Ersatzgemüsewagen werde kommen. Zweihundert Meter hinter uns steht schon eine ganze Weile ein Laster quer. Die linke Spur ist aber noch frei – nein, jetzt nicht mehr. Eine Limousine kracht gerade hinein. Wir laufen neben der Leitplanke dorthin; ein Mann im Adidas-Trainingsanzug holt das Gepäck aus dem Kofferraum. Vorne raucht der Motor Kette. Die blonde Frau hat eine blutige Nase und wimmert. Ich weiß inzwischen nicht mehr, wer zu welchem Unfall gehört, weil sich alle vermischen: Verletzte und Gesunde, Gaffer und Helfer.
Wenigstens können wir jetzt auf der Autobahn spazieren und müssen nicht mehr am steilen und verschneiten Hang entlangstolpern. Es kommt ja niemand mehr durch. Polizei ist nicht in Sicht. Unser Busfahrer telefoniert schon wieder und streichelt seinen Kopf. Wenn wir uns zufällig begegnen irgendwo, an einem der drei Unfallstellen, fragt er jedesmal, wie es mir gehe. “Alles in Ordnung”, sage ich dann. Inzwischen mag ich ihn. Er behält die Nerven, er schreit nicht herum vor Wut, obwohl es um seine Existenz gehen könnte, wenn die Versicherung nicht zahlt. Er bemüht sich, aber wir sind in der Ukraine. Die ersten Passagiere aus der Marschrutka sind verschwunden, ich wüsste gern, wohin.
Irgendwann kommen zwei Polizisten vorbei, sprechen mit unserem Busfahrer und laufen weiter zum ersten Unfall. Die Marschrutka ist kaputt. Hinten und an den Seiten fehlen die Scheiben; drei Ukrainer versuchen, die Tür am Heck zu öffnen. Einer tritt von innen, zwei andere ziehen von außen. Wichtige Dokumente sind eingeklemmt. Ich stehe unbeteiligt daneben und frage, ob ich helfen könnte. “Lass mal.”
10 Uhr: Ein Mann sagt zu mir: “Gehen wir.” Wir gehen. Wir gehen zwei Kilometer zurück Richtung Odessa, vorbei am Stau und hindurch. Ich ziehe meinen Koffer und trage die Umhängetasche. Der Mann heißt Ruslan und will mich wieder zum Busbahnhof nach Ljubasivka bringen, wo wir vor eineinhalb Stunden gewesen sind.
Ruslan fährt Lada Niva ohne Gurte, sie fehlen einfach. Der Wagen muss auch erst vorgeglüht werden. Zwei weitere Polizisten treffen ein und leiten den Verkehr auf die Gegenspur um. Dort fahren zwar schon seit einer Stunde Autos, Laster und Mopeds, aber nun geschieht das wenigstens offiziell.
Kurz bevor Ruslan losfährt, kommt der Mann angehumpelt, der im Gang gelegen hat. Er will auch mitfahren. Die Männer reden miteinander, ohne dass ich ein Wort verstehe.
10.30 Uhr: Ich sitze jetzt in einem Bus mit drei Sternen, der einst in Deutschland unterwegs gewesen sein muss. An der Tür steht auf Deutsch “Nichtraucherbus”. Der Fahrer raucht. Der Fernseher dröhnt. Gezeigt wird eine Polizeiserie. Dauernd werden irgendwelche Kriminellenköpfe ins Klo gestopft. Neben mir sitzt der Mann, den ich nicht verstehe. Er spricht russisch, aber ein anderes Russisch als ich. Wenn er mir etwas erzählt, nicke ich oder sage: “Das stimmt.” Dann verabschiedet er sich und steigt an irgendeinem Bushäuschen auf der Autobahn aus.
13 Uhr: Ich habe Kopfschmerzen. Meine linke Wade ist angeschwollen, die rechte hat einen tennisballgroßen blauen Fleck. In Uman humpele ich zur Apotheke und feilsche mit der Verkäuferin um Tabletten. Ich will Paracetamol, die in Uman aber offenbar nur gegen Fieber verschrieben werden. Wir einigen uns auf orange Tabletten, die gleich ohne Verpackung verkauft werden.
Draußen vor dem Bus treffe ich Genadij. Genadij, vielleicht Ende dreißig, wohnt in Uman und hat ein “malenkij business”, wie er sagt, ein kleines Gewerbe also. Im Frühjahr, Sommer und Herbst angelt er am Asowschen Meer und verkauft dann seine Fische an Urlauber. Im Winter macht er in Kindersöckchen und Nüsse, die angeblich besser schmecken als in Kiew. Genadij klettert mit der Ware in die Busse, die am Bahnhof Vollblasige und Leerlungige, also Gleichpinkler und Sofortraucher ausspucken. Wir tauschen Telefonnummern aus. Im Juli werden wir am Asowschen Meer gemeinsam angeln.
14 Uhr: Ich wüsste gern, warum der Bus jetzt abbiegt und diese Dorfstraße entlangfährt. Eigentlich sollte nur einmal – in Uman – gehalten werden, aber das war offensichtlich eine Lüge. Wir bringen sämtliche Passagiere bis vor die Haustür. Hin und wieder steht neben der Leitplanke der Autobahn auch jemand und hält den Arm heraus. Die Fernsehpolizisten waschen noch immer den Ganoven die Haare mit der Toilettenspülung. Scheint eine Staffel zu sein. Auf meinem Kopf finde ich Glassplitter vom Unfall.
Kiew, 15.30 Uhr: Wir sind am Busbahnhof. Ich weigere mich, mit dem Taxi zu fahren, ich muss also noch unter Schock stehen, aber die Männer verlangen viel zu viel Geld. Ich gehe wie mit einem Holzbein, ich humpele zur Marschrutka, ich versuche einzusteigen, da ist sie schon wieder weg. Sogar die krummste Kiewer Oma überholt mich. Ich fahre schwarz Trolleybus, jetzt ist sowieso alles egal, ich quäle mich zur Metro, steige zweimal um, humpele noch einmal zehn Minuten zum Hotel und breche im Zimmer zusammen.
18 Uhr: Treffen mit Blogleserin N., die in Kiew lebt. Sie muss mich durch die Stadt schleppen, sonst würde ich verhungern. Es ist ein bisschen entwürdigend. N. sieht das anders und verliert nicht die Geduld mit mir. Sie wählt ein französisches Restaurant in der Nähe der Andreaskirche. Das Essen schmeckt. Ich lache sogar.
23.15: Ich ertrage Helmut Schmidt nicht mehr. Der Altbundeskanzler geht mir auf die Nerven. Seit drei Monaten lese ich, dass er seinen 90. Geburtstag in Ruhe feiern wolle, dass ihm die Lobhudeleien unangenehm seien. Genauso lange schon lässt er sich feiern und lobhudeln. Nach all den Sonderseiten und Sonderbeilagen zeigt das ZDF, das ich im Hotel empfangen kann, auch noch eine Sondersendung. Jetzt gratuliert die “Zeit”, Schmidts Arbeitgeber. Es ist – Harald Schmidt ausgenommen – unfassbar peinlich. Unterwürfiger geht es nicht, ich frage mich, was man noch machen will, wenn Schmidt stirbt. Ich habe den Polizisten im Reisebus Unrecht getan. Das hier ist schlimmer.
Ich dachte, die Rede von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker wäre nicht zu unterbieten, am Ende aber tritt Schmidts Tochter auf und bringt die Leute im Saal dazu, das Lied “Happy Birthday” zu singen.
Freitag: keine besonderen Vorkommnisse
Odessa, Sonnabend, 10 Uhr: Ich gehe zum Arzt. Ich habe, wenn es um Medizin, schon einiges erlebt in der Ukraine: Katzen in Kinderkrankenhäusern und vollgequalmte Aschenbecher im Behandlungszimmer. Ich hieß schon Wiesemann, Wasamann und Weisemann. Bei einem Schönheitschirurgen bin ich aber noch nicht gewesen. Heute habe ich keine Wahl, denn in der Poliklinik arbeitet zwar ein Chirurg, geröngt aber wird erst wieder am Montag. Bisher dachte ich immer, Chirurgie und Röntgen seien ziemlich eng miteinander verbunden.
10.30 Uhr: Valentinowitsch zeigt zunächst wenig Interesse an meinem Bein; vielleicht entdeckt er, Mitglied der Vereinigung der Schönheitschirurgen, ganz andere Härtefälle an mir. Er diagnostiziert Hämatome, die aufgestochen werden müssten, und will mich unbedingt in die Privatklinik Into-Sana schicken, die seit 1995 “the great American Dream” in der Ukraine medizinisch wahrmacht. Ich weigere mich. “Gehen Sie erst mal zum Röntgen, dann sehen wir weiter”, sagt Valentinowitsch.
11.50: Endlich werde ich geröntg. Der Radiologe und die Schwester sind schwer beeindruckt von meinen Blessuren an beiden Beinen. Sie haben es gar nicht eilig, obwohl Valentinowitsch nur bis zwölf Uhr arbeitet. Er ist offenbar viel beschäftigt. Er hat mir ein grünes Faltblatt mitgegeben, aus dem hervorgeht, was er so tut: Valentinowitsch korrigiert unter anderem Nasen, Ohren und Lippen, verkleinert Bäuche, enfernt Narben und bügelt das Gesicht.
12.30: Ich warte schon eine halbe Stunde auf das Röntgenbild. Da kommt der Schönheitschirurg Valentinowitsch und fragt, wo ich bliebe. Sekunden später öffnet sich die Tür, und der Radiologe reicht das Bild. “Ich gratuliere, kein Bruch”, sagt er.
Valentinowitsch verschreibt mir Schmerztabletten, eine Salbe und Spritzen mit Antibiotikum. Am Montagnachmittag will er sich meine Verletzung noch mal anschauen. Ich lege ihm aus Dankbarkeit 40 Griwna Schmiergeld hin – doppelt so viel, wie ich sonst ukrainischen Ärzten zahle. Zum Abschied meint er, das mit der Spritze hinten hinein sei kinderleicht.
ODDESSA, UKRAINE (blog) Der prominente deutsche Journalist und Kolumnist Christoph Wesemann ist bei einem Verkehrsunfall am Donnerstagmorgen auf der Autobahn zwischen Odessa und Kiew schwer verletzt worden. Über seinen Gesundheitszustand ist bislang wenig bekannt. Lebensgefahr besteht allerdings nach Auskunft seiner ukrainischen Ärzte nicht.
Wesemann hatte am Donnerstagmorgen einen Minibus bestiegen, um nach Kiew zu reisen, wo er an einer deutsch-ukrainischen Medienkonferenz teilnehmen sollte. Gegen 8.30 Uhr hielt der Fahrer auf der linken Spur, weil sich einige hundert Meter voraus im dichten Nebel ein Unfall ereignet hatte. Wenig später wurde der Bus von einem Mercedes gerammt und rutschte etwa zehn Sekunden lang über die eisglatte Straße. Wesemann begab sich sogleich in medizinische Behandlung setzte die Reise in die ukrainische Hauptstadt in einem anderen Bus heldenhaft fort und sprach gestern auch auf der Konferenz. Sein Zustand soll sich dann jedoch rapide verschlechtert haben. Wesemann hat für den frühen Abend eine Erklärung angekündigt.
Christoph Wesemann arbeitet seit Juni vergangenen Jahres als Journalist in Odessa und betreibt auch ein Weblog, eine Art Tagebuch im Internet. In Deutschland hat er sich vor allem als Kolumnist einen Namen gemacht. Der 30-Jährige schildert auf humorvolle Weise seinen Alltag in der Schwarzmeermetropole Odessa. Eine ständig wiederkehrende Figur in seinen Kolumnen ist ein gewisser Oleg.
ODESSA, UKRAINE Ich nehme mir mal zwei Tage Urlaub. Das Auslandsbüro Ukraine der Konrad-Adenauer-Stiftung hat mich zu einer Podiumsdiskussion nach Kiew eingeladen – vielleicht auch wegen der Kolumne Gasperletheater. Der Titel der Veranstaltung ist: “Ukrainisch-russische Beziehungen: Informationskonfrontation – Journalistische Berichterstattung in den ukrainischen und europäischen Medien”.
Ich werde gemeinsam mit dem Journalisten Jurij Durkow, mit Wolodymyr Kornilow, Leiter des Instituts der GUS-Staaten in der Ukraine, und dem Medienanalytiker Georgij Potscheptsow das Thema “Gaskrieg und Informationskrieg – die Rolle der Massenmedien” diskutieren. Alles Weitere entnehmen Sie bitte der ukrainischen oder deutschen Einladung.
Ja, ich freue mich. Und, natürlich!, bin ich aufgeregt.
Sollte sich etwas Besonderes ereignen, melde ich mich aus Kiew.
Vergiß die Politik, lies keine Zeitung, hör kein Radio, schlag den Fernseher ein, stell ein Farbporträt von Mao oder Fidel hinein, laß dich nicht verarschen, geh nicht ins Netz, geh nicht wählen, sag nein zur Demokratie, geh nicht auf Demos, tritt keiner Partei bei, verkauf deine Stimme nicht den Sozialdemokraten, beteilige dich nicht an der Diskussion über das Parlament, sag nicht “Mein Präsident”, unterstütze nicht die Rechten, unterschreib keine Petitionen an den Präsidenten – das ist nicht dein Präsident, wink nicht dem Gouverneur, wenn du ihn auf der Straße siehst, du wirst ihn sowieso nie auf der Straße sehen, geh nicht auf Kandidatenpartys, du hast keinen Kandidaten, vergiß die Gewerkschaften – sie nutzen dich aus, sag nein zur nationalen Wiedergeburt, dich hängen sie als ersten auf, du bist ihr Feind, ihr Jude, ihr Schwuler, du bist ihr Faschist und Bolschewist, du störst ihren Politikbetrieb, störst ihre Absprachen, ihre frisierten Fernsehratings, du störst sie dabei, dich zu verarschen, das Internet zu kontrollieren, Wahlkämpfe zu gewinnen, die Demokratie aufzubauen, Kundgebungen zu veranstalten, das Parteileben zu ordnen, die Sozialdemokraten zu bekämpfen, Gesetze zu blockieren, den Volkspräsidenten an die Macht zu bringen – ein Volk braucht einen Volkspräsidenten! sich mit den Rechten zu einigen, eine Petition an den Präsidenten, an den Volkspräsidenten, auf den Weg zu bringen, den Gouverneur an den Eiern zu packen [...] Die Politik ist käuflich, Zeitungen und Radio sind käuflich, die Glotze – die Wahrheit über die Glotze kennst du selbst! Mao ist tot, Fidel ist tot, laß dich nicht verarschen. Das Netz wird kontrolliert, die Wahlen sind käuflich, die Demokratie ist tot, das Parlament käuflich, der Präsident käuflich – du hast überhaupt keinen Präsidenten [...] denk nicht an Politik, in der Zeitung – alles Verräter! im Radio – Verräter! im Fernehen – Verräter! Mao – ein Verräter!, Fidel – ein verdammter Verräter! im Netz – nur Schwule und Verräter! bei den Wahlen – Verräter! Die Demokratie spitzelt, das Parlament spitzelt! der Präsident – ein Verräter, das ist nicht dein Präsident! die Rechten, der Gouverneur, der Kandidat – Verrrääääääter!
ODESSA, UKRAINE Ich komme gerade vom Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters und habe die größten Erfolge die bekanntesten Kompositionen von Johann Strauss gehört: “Wo die Zitronen blühen”, “Spanischer Marsch”, die Ouvertüre aus der “Fledermaus”, Polkas in allen Variationen, also schnell, französisch und masurisch, und als Zugabe natürlich “Donauwalzer” und “Radetzkymarsch”. Für das Protokoll: dritte Reihe, 120 Griwna, also zwölf Euro.
Hobart Earle dirigiert gern ohne Partitur, und manche Odessiten, die mehr verstehen von klassischer Musik als ich, sagen, das höre man auch. Der Amerikaner habe die Einzelstimmen, so die Kritik, nur ungefähr im Kopf, weshalb ihm die letzte Präzision und die Möglichkeit der Interpretation fehlten. Andere wiederum bescheinigen ihm, er habe Odessas Orchester deutlich nach vorn gebracht und überdies die Ukrainer an die Wiener Musik herangeführt. Seine Anhänger sehen in ihm gar einen musikalischen Botschafter Österreichs.
Nun, Earle hat vielleicht einen amerikanischen Zugang zur klassischen Musik und sieht sich als Unterhalter; er tanzt und schwebt und hüft und rudert. Des Dirigenten Rückhand ist vorbildlich, da schwingt der Arm so komplett durch, dass jeder Freizeittennisspieler neidisch werden muss. Im “Napoleon-Marsch” gibt Earle den kleinen Franzosen, setzt sich eine Herrschermütze auf, reicht sie an seine Erste Geige weiter und fechtet dann sogar mit ihr: Taktstock gegen Bogen.
Earle, ein Schüler Leonard Bernsteins und früher Dirigent des Wiener Kammerorchesters, ist seit 1992 Musikalischer Leiter der Philharmoniker und überdies der einzige Ausländer, dem der Titel “Verdienter Künstler der Ukraine” verliehen worden ist. Vor allem die älteren Damen, jene Philharmonie-Babuschkas, die kaum eine Vorstellung versäumen, vergöttern den Maestro – unter anderem wegen des wallenden Haars, der feinen Schuhe, der amerikanischen Lockerheit und des leichten Akzents im vorzüglichen Russisch.
Vielleicht ahnt Earle, dass seinen Musikern Grenzen gesetzt sind, so lange sie in der Philharmonie spielen müssen. Das Haus, vom Architekten Alexander Bernardazzi als Börse entworfen, in der intime Geschäftsgespräche verschluckt werden sollten, hat eine schlechte Akustik. Von den Wänden blättert der Putz. In der Pause bestürmen 100 Frauen zugleich drei Toiletten. Vom Sitzplatz bis zur Garderobe braucht man knapp 20 Minuten. Und selbst der Große Saal mit seinen mehr als 1000 Plätzen wirkt nur auf den ersten Blick festlich. Es steht doch einiges herum.
Hobart Earle kann wohl auch ernsthaft sein, an diesem Nachmittag aber wirkt es bisweilen, als hätte sich der unmögliche Schmalzgeiger André Rieu auf das Dirigentenpult verirrt, zumal sich beide auch äußerlich ähneln. Earle flötet den Kuckucksruf selbst und zwitschert Vogelstimmen mit sichtlichem Genuss. Selbst für ein Neujahrskonzert, das manches gestattet, das an anderen Tagen im Konzertsaal unterbleibt, sind diese Einlagen zu sehr Klamauk. Earles Musiker zünden Konfettiknaller, um Jagdschüsse auszudrücken. Der Chef hat nicht nur nichts dagegen, dass mitgeklatscht wird, er erzwingt es sogar und dirigiert am Ende mehr das Publikum als sein Orchester. Aber er scheint Spaß zu haben, was man nicht von allen anderen auf der Bühne sagen kann.
Seltsames in fünf Punkten:
1. Entlang der Bühne ist eine Lichterkette angebracht, wie sie in deutschen Diskotheken hängt. Sie blinkt unaufhörlich gelb, blau, rot, grün. Die Lämpchen der zwei Plastikweihnachtsbäume, links und rechts, flackern genauso. Und so sieht das aus:
2. Die Musiker reden miteinander, während die Erste Geige, der Konzertmeister also, beim Einstimmen ist. Selbst die Violinisten sind ins Gespräch vertief. Es wird sehr oft bis zum Einsatz geplaudert. Wahrscheinlich konzentrieren sich ukrainische Musiker anders.
3. Im Foyer werden Kartoffelchips verkauft.
4. In der Pause mischen sich die Musiker unters Volk. Sie rauchen an der Bar unten im Flur. Der Weg zur Bar ist gottlob ausgeschildert.
5. Ich habe noch nie so miesepetrige Musiker gesehen. Auf den Gesichtern zeigte sich die große Langeweile, die pure Gleichgültigkeit, obwohl das Publikum gerade jubelte. Falls Sie nicht wissen, was ich meine, so sieht das aus:
Ach ja, das Programm:
[Was die Überschrift betrifft, bin ich verhandlungsbereit. Ich weiß, Namenswitze gehören sich nicht. Vorschläge bitte in den Kommentarbereich, danke.]