KIEW, UKRAINE Ich verlange hiermit, der Ukraine sofort die Fußball-EM 2012 zu entziehen – und ihr überdies nie wieder die Austragung eines sportlichen Großereignisses anzubieten. Vielleicht bin ich zu streng, aber ich habe vier Tage lang Kinder und Kinderwagen durch Kiew geschleppt – hinunter zur U-Bahn-Rolltreppe und aus dem Metroschacht heraus, in alle möglichen Einkaufszentren, in Restaurants, auf Brücken und über Bordsteine, die mir bis zum Knie gingen. Ukrainer lieben Treppen und Stufen. Nichts ist barrierefrei. Und seit meinem längeren Besuch im Juli 2008 hat sich überhaupt nichts getan.
Und es macht mich wütend, dass die Herrscher dieses Landes einfach darauf setzen, irgendjemand würde ihnen die Infrastruktur EM-tauglich machen und auch noch dafür bezahlen, es machen zu dürfen.
(Ein Teil meiner Wut hat sicher auch damit zu tun, dass seit gestern mein Internet so langsam ist, als würden die Daten in einem Kinderwagen zu mir geschoben. Zwischendurch passiert natürlich stundenlang überhaupt nichts.)
KIEW, UKRAINE Ich muss unbedingt ins Kiewer “Penthouse”: 12 bis 8 Uhr Sport- und Sushibar, 12 bis 22 Uhr Restaurant, 21 bis 6 Uhr Stripbar. Auf “Sushi, *uschi und Fußi” als Überschrift habe ich schweren Herzens verzichtet.
KIEW, UKRAINE Wahrscheinlich wissen Sie längst, wo ich gerade gewesen bin – jedenfalls dann, wenn Sie das Knallerspiel der Champions League zwischen Dynamo Kiew und dem FC Rubin Kasan geschaut haben. (Dass Kasan Hauptstadt der autonomen Republik Tartastans ist und die autonome Republik Tarstastan wiederum zu Russland gehört, hätte ich vorher auch nicht auf Anhieb gewusst.) Ich saß am Abend im Walerij-Lobanowski-Stadion auf Höhe der Eckfahne im Block 18, Reihe 10, Platz 27 und habe – aber das kann Ihnen nicht entgangen sein – tüchtig gewinkt.
Ich vermelde hiermit Dynamos 3:1-Sieg. Wäre ich als Sportreporter an- und abgestellt beim Mitteldeutschen Rundfunk, würde ich das Spiel so zusammenfassen: “Es war ein verdienter Erfolg der Dnepr-Städter – dank einer klaren Leistungssteigerung in Hälfte zwei.” Dynamo hat in der ersten Halbzeit tatsächlich grauenhaft gespielt – trotz Andrej Schewtschenko, dem Fußballhelden der Hauptstadt, genannt “Schewa”, Dynamos Dauertorschütze Mitte bis Ende der Neunziger und einst 50 Millionen Euro teuer.
Nach erfolgreichen Jahren beim AC Mailand und folgender Tribünenhockerei beim Chelsea FC war er vor der Saison heimgekehrt. Mitleid müssen Sie nicht haben: Schewtschenko, mittlerweile fast 33 Jahre alt, verdient so viel wie kein anderer Fußballer in der Ukraine. Mit seinem Arbeitgeber müssen Sie deshalb freilich auch kein Mitleid haben, denn Dynamo Kiew gehört Grigorij Surkis, einem dieser spielzeugsüchtigen Oligarchen, die es in Russland und der Ukraine zuhauf gibt. Surkis ist Großindustrieller, Fußball-Präsident der Ukraine, Mitglied des Exekutivkomitees der Uefa und natürlich Politiker. Sein Ruf könnte besser sein. Angeblich hat er einmal wegen des Korruptionsverdachts nicht in die USA einreisen dürfen. Andererseits ist die Kombination Oligarch, Fußballfreund und Politiker auch denkbar ungünstig, um sympathisch zu wirken. Finden Sie aus dieser Riege in der Ukraine mal jemanden, dessen Ruf nicht noch schlechter ist als der eines Gebrauchtwagenhändlers.
In der ersten Halbzeit hatte Schewtschenko, Surkis neue Spielfigur, zwei gute Szenen: Einmal ergrätschte er vom Gegenspieler rustikal den Ball. Beim zweiten Mal richtete er wunderschön seine Haare. (Er trägt sie jetzt wieder länger.) Ich hatte ihn ja vor ein paar Monaten aus Gier nach einem schnellen Witz zum FC Sachen Leipzig in die fünfte Liga transferiert – auf diesem Niveau spielte Schewtschenko. Er war einer von elf Schwächlingen. In der zweiten Halbzeit waren dann einige Spieler besser als er.
Die drei Tore, die Dynamo nach der Pause schoss, wurden so gefeiert:
Ich gebe aber gern zu, dass die Leute um mich herum das nicht witzig fanden, zumal es dort brannte, wo neben Fotografen und Aufpassern, die augenscheinlich kaum älter als 16 waren, auch Balljungen standen. Die Stadionsprecherin erzählte zwar jedes Mal aufgeregt, es sei verboten, pyrotechnischen Kram herumzuschmeißen – allerdings hätte man die Besucher vielleicht auch am Einlass kontrollieren können. Ich habe nicht gesehen, dass irgendjemand abgetastet worden wäre.
Und nun präsentiere ich Ihnen noch stolz das sebstgedrehte Tor zum 3:1, geschossen von Oleg Gusev.
(Vielleicht ergänze ich diese Geschichte später noch ein bisschen.)
Darauf stehen 36 Personen, die in der Troizkaja Straße 28 wohnen und offenbar Schulden haben. Und damit sich auch bloß niemand nicht angesprochen fühlt, trägt jeder dieser 36 Vor-, Vaters- und Nachnamen. Wem Geld geschuldet wird, ist mir unklar, weil ein Wütender (oder auch sehr Vernünftiger) das Schreiben so gekürzt hat, dass der Absender mittlerweile fehlt. Und ehe Sie jetzt denken, ich würde mit dem Finger auf andere zeigen: Ich stehe auch auf der Liste, ich bin der zweite von oben. Meine Schulden betragen 162,04 Griwna. Damit bin ich immerhin der Zehntbeste. Der Sieger bringt es auf 1512,80 Griwna. Letzte ist Nina mit acht Kopeken.
Okay, eigentlich steht dort nicht mein Name, sondern nur der des Sohnes meiner Vermieterin. Ich weiß nicht genau, ob es Altschulden des Sohnes sind oder doch ich irgendwo im Rückstand bin. Es ist alles viel komplizierer, als Sie sich vorstellen können.
Am besten ich tauche ich mal ein paar Tage in Kiew unter – bis Sonntag, vielleicht.
ODESSA, UKRAINE Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon einmal gesehen zu haben: einen McDrive, bei dem die Angestellte von Autofenster zu Autofenster geht, um die Bestellungen aufzunehmen. Ist das jetzt rückschrittlich? Oder erprobt der berühmte Bulettengriller in Odessa den neuen Kuschelfaktor?
Eigentlich aber will ich nur diese Frau ärgern.
“Fotografieren ist verboten”, hatte sie gesagt.
“Warum?”
“Es ist verboten.”
Allmählich habe ich satt, in diesem Land ständig für unbefugt erklärt zu werden – von gelangweilten Türstehern, dicken Etagendrachen, so genannten Administratorinnen, die vor lauter Schminke kein Gesicht haben, oder 15 Jahre alten Parkwächtern mit einem Alkoholproblem. Wenn ich nachfrage, warum ich irgendwo nicht entlang-, hinein-, hinaus-, hinauf- oder hinuntergehen darf, dann gibt ein sich wichtig fühlender Machtaffe immer diese Antwort: “Es ist verboten.”
ODESSA, UKRAINE Sonntagmorgen, halb sechs: Die Wohnung ist ohne Strom. In den vergangenen fünf Tagen, meist am Nachmittag, ist er immer mal wieder verschwunden gewesen. In einigen Cafés in Odessas Zentrum sind Gäste gar nicht bedient worden.
So ein Aufbruch in den freien Tag mit Kerze im Bad, kalter Dusche, Kaffee vom Gasherd, harten Brötchen und einer Tüte Vanilleeis, das im Gefrierschrank langsam schmilzt, ist natürlich nicht zu verachten. (Die Krabben hinter dem Eis sollen mir erst später einfallen.) Nachdem Bob der Baumeister zur Freude meines Sohnes einen Unterstand für Heppo und ein Lager für die Strohballen von Bauer Gurke gebaut, dabei aber den Akku des Laptops vollständig geleert hat, ziehe ich in die Stadt, um in einem Café Strom zu schnorren, die Elektropost zu lesen und vielleicht etwas zu speisen.
Der größte Generator steht in der Deribasowskaja, Odessas breiter Einkaufsstraße, vor der Restaurantkette “Top Sandwich”:
Angeber! Deshalb schmeckt das Essen dort nicht besser.
Im Café “Kompott” ist Schnitzel im Baguette wegen des Stromausfalls aus, Blinschiki mit Hackfleisch gibt es seltsamerweise, Steckdosenstrom wiederum nicht, Licht allerdings schon, die Kellnerin weiß nichts Genaues, bringt heiße Milch zum heißen Kaffee und am Ende eine am Computer erstellte Rechnung, verstehen muss man das aber nicht.
Der Schnellimbiss, schräg gegenüber, ist ganz dicht.
Im Kaufhaus “Europa”, wo ich ein paar Kerzen kaufen will, es scheint ja was Ernstes zu sein, fährt der Aufzug nicht. Odessas Aufzüge fahren sonst immer, selbst wenn gerade kein Strom da ist. Die Rolltreppen stehen auch still. Einer der Wachmänner, befragt, warum die gesamte Innenstadt ohne Strom sei, sagt: “Das ist eine Vorsichtsmaßnahme. Es gibt eine Erdbebenwarnung.”
“Und wann ist der Strom wieder da?”
“Zwischen fünf und sechs.”
Mittagessen zu Hause: Krabben an kalter Vanillesoße sind nicht unköstlich.
Ich glaube das mit der Erdbebenwarnung tatsächlich, kann mich aber trotzdem nicht vom Mittagschlaf abhalten. Ich albträume, ich verpasste am Abend das Kanzler-Duell zwischen Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, weil es ja ohne Strom keinen Live-Stream gibt.
Nach dem Aufwachen gibt es nach wie vor kein Licht in der Wohnung. Aber sie ist noch da. Auch die Nachbarhäuser stehen. Das Akku meines Mobiltelefons ist leer. Ich überrede mich zu einem Spaziergang. Die Stadt ist ruhig, nur hie und da brummen Generatoren. Die Türen vieler Geschäfte stehen offen, drinnen ist aber nichts als Finsternis.
Ist das wertvolle Leben längst evakuiert? Sitzen die Oligarchen in einer unterirdischen Höhle und warten mit Leuten aus der Stadtverwaltung, mit Wissenschaftlern und Kulturschaffenden das Erdbeben ab, um aus den Trümmern ein neues Odessa aufzubauen – schöner und gerechter als das alte? Warum bin ich nicht ausgewählt worden? Waren meine Kolumnen nicht witzig genug? Jede Stadt braucht doch einen Hofnarr. Oder habe ich vielleicht einmal zu oft den Film “Deep Impact” gesehen?
Auf einmal leuchten die Ampeln wieder, und ich denke sogleich: Wie gut, dass wir heute Sonntag haben und das Erdbeben nicht am Montag nicht ausgebrochen ist – ohne Ampeln wäre das Verkehrschaos sonst gewaltig gewesen.
Das Kanzler-Duell im Live-Stream: Nach einer halben Stunde wünsche ich mir, der Strom würde ausfallen.
Ich entdecke die Meldung auf der Homepage der Stadt vom Freitagnachmittag, dass heute nur von sechs Uhr morgens bis fünf Uhr abends am Heizkraftwerk herumrepariert werde:
Размещено: 11.09.2009 15:04:10
Оповещение Центрального РЭС
13 сентября с 06:00 до 17:00 в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны будет отключена электроэнергия
Центральный РЭС доводит до сведения населения, что 13 сентября 2009г. в связи с ремонтными работами на Одесской ТЭЦ в ряде домов будет отключена электроэнергия
с 06:00 до 17:00
от Пересыпского моста до ул. Б.Арнаутской и от ул. Балковской до прибрежной зоны.
ODESSA, UKRAINE Das Sanatorium “Arkadia” am Französischen Boulevard wirkt ja erst richtig, wenn man auf Farbe verzichtet. Wie schön wäre dieser Ort, wenn er nur von irgendwem so geliebt würde, wie er es verdient hätte? (Die Überschrift ist – natürlich – ein bisschen geklaut.)
ODESSA, UKRAINE Ich will Ihnen nur rasch zeigen, in welch netter Ecke von Odessa ich meinen Freund Axel während seines Odessa-Besuchs einquartiert hatte. Ich meine ja, kolumnenhaltiger kann Luft kaum sein. Und ja, Axel redet noch mit mir. Er hat zum Beispiel einen feinen Reisebericht geschrieben. Darin geht es um michmichmich – und auch um dieses Odessa.
Am Nachmittag haben wir einen riesigen Wochenmarkt besucht, den sogenannten Priwos-Markt. Hier gibt es alles, was in Haushalt und Küche benötigt wird und Christoph hatte die Anweisung von seiner Frau bekommen, alles, was die Liebste für ein mehrgängiges Menü benötigte, zu bezahlen, wenn notwendig, Übersetzungshilfe bei den Marktweibern zu leisten und ansonsten keine dummen Fragen zu stellen.
Das ließ sich die Liebste natürlich nicht zwei Mal sagen und hat Unmengen Gemüse, Salat, Gewürze und Fleisch eingekauft. Meine Bedenken bezüglich der Unterbrechung der Kühlkette wurden von ihr ebenso in den Wind geschlagen, wie Christophs Einwand, eine solche Menge Essen könne man doch unmöglich von DIN-A-5-Tellern verspeisen.
DIN-A5-Tourismus – lesen!Das unverschämte Fazit – “fünf Tage Odessa reichen vollkommen aus” – sehen wir Axel mal nach.Zur Strafe werde ich der Stadtverwaltung melden, dass der rote Rostfleck auf den Fotos sein Auto ist.
ODESSA, UKRAINE Dies ist eine Anleitung für den Fall, dass es bei Ihnen mal so schlimm regnet wie bei mir in Odessa vor ein paar Tagen. Stellen Sie sich vor, es habe so schlimm geregnet, dass Ihr Hof aussieht, als sei der Abfluss verstopft. In Odessa zog sich ein Mann ein Paar Gummistiefel an und entfernte den Gullydeckel. Um ja niemanden in Gefahr zu bringen, hat er später freundlicherweise noch das Loch in Richtung Odessas Unterwelt markiert.
Sagen Sie unbedingt dem Hund der Nachbarin Bescheid und behalten Sie ihn ein bisschen im Auge. Bei mir im Haus ist es jedenfalls verdächtig still, aber vielleicht ist der Kleffer auch bloß verreist.
(Wahrscheinlich würde ich das alles viel, viel weniger komischer finden, wären meine Kinder alt genug, um auf dem Hof allein zu spielen. Das ist also eine Anleitung, wie sie es besser nicht machen, wenn es schlimm regnet.)